01. Dezember 2023
Die internationale Presseschau

Die Zeitungen blicken weiter auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas und auf die Weltklimakonferenz in Dubai. Vor allem aber arbeiten sie sich am Vermächtnis des verstorbenen früheren US-Außenministers Kissinger ab. Die Meinungen gehen hier weit auseinander.

Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger am 04.05.2010 im Rathaus in Fürth (Mittelfranken)
Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger am 04.05.2010 im Rathaus in Fürth (Mittelfranken) (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
Die schwedische Zeitung DAGENS NYHETER merkt an: "Es wäre auch erstaunlich, wenn es keine solchen polarisierenden Nachrufe gäbe. Während seiner Jahre als Außenminister töteten die USA unter anderem hunderttausende Menschen in Kambodscha, bombardierten Nordvietnam und unterstützten Militärputsche in Argentinien und Chile sowie die indonesische Invasion in Ost-Timor. Andererseits: Viele aus dem rechten Lager mochten Kissinger nicht, weil er die Annäherung Washingtons an Peking und die Entspannung zwischen den USA und der Sowjetunion vorantrieb. Möchte man etwas zur Verteidigung Kissingers sagen, könnte man den jüdischen Flüchtling aus Deutschland als Realpolitiker bezeichnen, der die Freiheit in den USA verehrte und einen dritten Weltkrieg verhindern wollte", fasst DAGENS NYHETER aus Stockholm die unterschiedlichen Sichtweisen zusammen.
"Henry Kissinger wird vor allem wegen seiner Sünden in Erinnerung bleiben", glaubt die türkische Zeitung HÜRRIYET: "Einer der Punkte, für die Kissinger am meisten kritisiert wurde, war seine Rolle bei der Verlängerung des Vietnamkrieges. Es ist inzwischen bekannt, dass der Krieg früher und mit weniger Verlusten an Menschenleben hätte enden können. Durch den Einfluss Kissingers auf den damaligen Präsidenten Richard Nixon wurde der Krieg jedoch unnötig verlängert. Kissinger hat die Interessen der Vereinigten Staaten rücksichtslos durchgesetzt, Menschenleben hatten für ihn keinen großen Wert", lautet die Bilanz von HÜRRIYET aus Istanbul.
Die russische NESAWISSIMAJA GASETA erinnert an eine von Kissingers Regeln der Realpolitik, nämlich: "Behandele andere Staaten nicht abhängig von ihrer inneren Struktur und Ideologie, sondern als Akteure, die sowohl Freund als auch Feind sein können. Aber erledige niemals einen Feind, denn in der Zukunft könnte er sich als Freund herausstellen. Kissinger war ein Gegner des Kalten Krieges und lehnte eine strategische Niederlage Russlands ab. Sein Grundsatz lautete, dass man sich mit Russland auseinandersetzen müsse. Dass man sich Moskau in jenen Angelegenheiten entgegenstellen müsse, in denen es die Interessen der Vereinigten Staaten und des Westens verletzt. Aber dass man gleichzeitig dort zusammenarbeiten müsse, wo die Interessen übereinstimmen", konstatiert die NESAWISSIMAJA GASETA aus Moskau. 
NIHON KEIZAI SHIMBUN aus der japanischen Hauptstadt Tokio legt den Fokus auf Kissingers Haltung gegenüber China und verweist darauf, dass dieser 1971 heimlich nach Peking reiste, um dort die Demokratie zu fördern: "Wer allerdings auf das aktuelle China schaut, muss sagen, dass diese Erwartung stark enttäuscht wurde. Die Politik der USA hat den Aufstieg Chinas beschleunigt und zu zunehmenden Konflikten geführt."
LIANHE BAO aus Taiwan schreibt: "In seinem ganzen diplomatischen Leben versuchte Kissinger einen Interessenausgleich zwischen den Supermächten zu erreichen und somit einen Weltkrieg zu vermeiden. Dabei opferte er durchaus die Interessen kleinerer Länder. Kissinger dachte groß und handelte pragmatisch. Seine Bemühungen um die Annäherung zwischen den USA und China sowie sein Umgang mit Russland sind die besten Beispiele dafür. In Pragmatismus und Rationalität lag die Qualität des Ausnahmepolitikers Kissinger", lobt LIANHE BAO aus Taipeh.
Die ungarische Zeitung MAGYAR NEMZET stellt klar: "Kissinger war kein Heiliger, er mag Fehler gemacht und sogar Verbrechen begangen haben, er war einer der umstrittenen Friedensnobelpreisträger. Doch bis zum letzten Tag war er frei von ideologischen Illusionen in der Weltpolitik unterwegs und erhob auch den Rivalen China ausdrücklich zum Partner. Während der Westen heute die Ukrainer in einem aussichtslosen Krieg unterstützt, erklärte er: Die Ukraine solle im Interesse des Friedens mit Russland Gebiete aufgeben. Es wäre nützlich, so viel wie möglich von Kissingers Nüchternheit zu retten", findet MAGYAR NEMZET aus Budapest.
Und der GUARDIAN aus London kommt zu folgendem Schluss: "Indem er so lange aushielt und bis zum Schluss zu den außenpolitischen Debatten beitrug, wurde Kissinger zu einem einzigartigen Zeugen der Konflikte, Mühen und Triumphe dessen, was als das amerikanische Jahrhundert bekannt wurde - die von den USA dominierte internationale Ordnung nach 1945. Doch in vielerlei Hinsicht schien er sich gegen die aufkommenden Strömungen des Weltgeschehens zu wehren, die zunehmend die Bedeutung der nationalen Selbstbestimmung und der Menschenrechte betonten. Kissinger war ein Mann aus einer anderen Zeit. Es wäre schön zu glauben, dass diese Zeit vorbei ist."
Nun zur Lage in Nahost. Die JERUSALEM POST geht näher auf den Anschlag in Jerusalem ein, bei dem mehrere Menschen getötet wurden, und den die Hamas für sich reklamiert: "Der Anschlag war ein Weckruf. Die Bedrohung durch terroristische Organisationen richtet sich gegen ganz Israel. Dieser Kampf ist der Kampf aller. Es ist an der Zeit, sich folgendes einzugestehen: Es kann für die Israelis kein Gefühl der Sicherheit geben, solange dieser Krieg nicht beendet, die Hamas nicht vollständig vernichtet und die Hisbollah nicht abgeschreckt und von der Grenze zu Israel vertrieben ist. Das ist die Botschaft, die Israel verinnerlichen muss, und das ist die Botschaft an die gesamte internationale Gemeinschaft. Es ist an der Zeit, diese Bedrohung ein für alle Mal auszulöschen", fordert die JERUSALEM POST.
Wie angespannt die Stimmung ist, zeigt sich auch an dem diplomatischen Konflikt zwischen Israel und Spanien. Ministerpräsident Sánchez hatte Israel vorgeworfen, sich im Gazastreifen nicht an das Völkerrecht zu halten. EL MUNDO aus Madrid beklagt, Sánchez habe damit dem Ansehen Spaniens geschadet und die EU gespalten: "Die Äußerungen kamen außerdem zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, weil Israel gerade auf die Freilassung weiterer Geiseln wartete und in Jerusalem mehrere Menschen Opfer eines Hamas-Anschlags geworden waren. Netanjahu reagierte umgehend mit einem Abzug der israelischen Botschafterin in Madrid. Das ist eine der schärfsten Formen des diplomatischen Protests und zeigt, wie ernst die Spannungen zwischen den beiden Regierungen sind."
Zum Abschluss noch Stimmen zur Weltklimakonferenz in Dubai. Das DAGBLADET aus Oslo drängt die Teilnehmer zur Eile: "Die Erderwärmung beträgt bereits mehr als ein Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter, und ohne drastische Maßnahmen könnte sie auf 3 Grad steigen. Der Unterschied zwischen 1,5 und 3 Grad ist dramatisch. Und noch etwas: Im nächsten Jahr könnte Trump wieder Präsident der USA werden, und dann dürfte er mit großer Wahrscheinlichkeit erneut aus dem Pariser Abkommen aussteigen. In Paris wurde das Ziel festgelegt, in Dubai soll der Weg abgesteckt werde. Das ist eine große Herausforderung – während die Uhren immer lauter ticken", unterstreicht das norwegische DAGBLADET.
"Ist die Konferenz gescheitert, bevor sie begonnen hat?", fragt DER STANDARD aus Wien: "Und mehr noch: Ist das Format grundsätzlich ungeeignet, um die Erderhitzung tatsächlich abzubremsen? Dieser Schluss ist naheliegend, aber er ist irrig. Vielmehr erwarten wir von der Weltklimakonferenz der UNO etwas, das sie nicht liefern kann. Der internationale Austausch zur Klimakrise ist unverzichtbar – gleichzeitig bedeutet das Konsensprinzip, dass die Verhandlungsteams oft einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden müssen. In diesem Jahr könnte ein solcher Kompromiss lauten, dass die Erneuerbaren-Kapazität bis 2030 verdreifacht und die Energieeffizienz verdoppelt werden soll. So eine Einigung hätte es in sich – schließlich fangen die Erneuerbaren langsam an, die Fossilen zu verdrängen. Ausreichen würde der Beschluss allein aber freilich nicht", mahnt DER STANDARD aus Österreich.