27. Januar 2024
Die internationale Presseschau

Viele der uns vorliegenden Zeitungen kommentieren die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag zur Völkermordklage gegen Israel. Doch zunächst hören Sie Kommentare zum heutigen Holocaust-Gedenktag.

"Nie wieder ist jetzt" steht während einer Lichteraktion von Fridays for Future Berlin gegen Rechtsextremismus vor dem Brandenburger Tor.
Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am Brandenburger Tor (picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow)
Dazu schreibt die finnische Zeitung HELSINGIN SANOMAT: „Der 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, und in diesem Jahr trägt er auch in Finnland zum ersten Mal diese internationale Bezeichnung. Das ist auch richtig so. Das Ziel ist, vor allem an Schulen Informationen zu verbreiten, sowohl über die Verfolgung von Juden, Roma, Homosexuellen oder Behinderten als auch über Menschenrechte, Rassismus und Antisemitismus. Wie wichtig das ist, zeigt die rasante Zunahme rassistischer und antisemitischer Übergriffe. Gerät die Geschichte in Vergessenheit, wächst die Gefahr, dass sie sich wiederholt. In Finnland wurde die Bedeutung des Holocaust-Gedenktags erst spät erkannt, weil die Finnen ihre Kriegserfahrungen lange Zeit von denen Deutschlands und Europas trennen wollten. Aber an diesem Tag geht es gar nicht um Finnland, sondern darum, dass die Europäer im Gedenken an den dunkelsten Abschnitt ihrer Geschichte innehalten“, betont HELSINGIN SANOMAT aus Helsinki.
Die dänische Zeitung JYLLANDS-POSTEN zitiert den italienischen Schriftsteller Primo Levi: „Es ist passiert, und darum kann es wieder passieren. So lauteten die Worte von Primo Levi, der den Holocaust überlebte. Laut Umfragen glauben inzwischen 20 Prozent der jüngeren Amerikaner, der Holocaust sei ein Mythos. Immer mehr Deutsche wollen nicht mehr so viel über die Judenverfolgung im Nationalsozialismus sprechen. Auch deshalb müssen wir darauf beharren, dass erzählt wird. Das schulden wir den Opfern und der jüdischen Bevölkerung, die auch heute nicht in Sicherheit lebt. Daran erinnert nicht zuletzt das Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel“, unterstreicht JYLLANDS-POSTEN aus Århus.
Das einzige Mittel gegen Genozide sei die Prävention, schreibt die tschechische Zeitung MLADA FRONTA DNES mit Blick auf den heutigen internationalen Holocaust-Gedenktag in einem Gastbeitrag: „Der Holocaust als Wendepunkt in der Geschichte bleibt eines der wichtigsten Zeugnisse menschlicher Grausamkeit, Barbarei und Zerstörungswut.Die Auswirkungen dieser Tragödie waren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu spüren und veranlassten die internationale Gemeinschaft zur Verabschiedung von Normen und Gesetzen, um bedrohte nationale, ethnische oder religiöse Gruppen vor Ausrottung, Verfolgung und Massengewalt zu schützen. Der Zusammenhang dieser Revolution im internationalen Recht mit den Opfern des Holocausts darf nie vergessen werden. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag bemüht sich auch um eine wirksamere und rechtzeitige Prävention von Völkermord und Massengewalt. Denn frühzeitige Prävention bleibt – bei allen Zweifeln und Befürchtungen vor Stigmatisierung – der einzige Weg, die unbelehrbare Menschheit von ihrer größten Geißel zu befreien und Tragödien zu verhindern“, unterstreicht die Prager Zeitung MLADA FRONTA DNES.
Die spanische Zeitung EL PAIS stellt zur gestrigen Entscheidung der Richter in Den Haag fest: „Der Internationale Gerichtshof hat eine ganze Reihe von Maßnahmen vorgelegt, die Israel erfüllen muss. Damit soll die katastrophale Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen verbessert werden, und es soll verhindert werden, dass es zu irgendwelchen Handlungen kommt, die den Kriterien eines Völkermords entsprechen. Das ist eine historische Entscheidung, denn zum ersten Mal sieht sich der israelische Ministerpräsident Netanjahu einer internationalen Forderung ausgesetzt, die bei Nichterfüllung deutlich mehr Konsequenzen nach sich zieht als eine UNO-Resolution. Israel hat es bislang nicht geschafft, eine Befreiung der Geiseln zu erreichen, und es verursacht Leid für viele tausend Unschuldige. Auch wenn es ein Paradoxon der Geschichte wäre, könnte der Krieg in Gaza Israel ein Urteil wegen Völkermords bescheren – und Netanjahu könnte sein unrühmliches Erbe noch um den Punkt erweitern, Israel zum internationalen Paria gemacht zu haben“, meint EL PAIS aus Madrid.
In DE VOLKSKRANT aus Amsterdam ist zu lesen: „Ob das Vorgehen Israels gegen Artikel 2 der Völkermord-Konvention verstößt oder nicht, ist daher die große Frage. Das ist offen für Interpretationen. Das ist und bleibt auch die Kernfrage, mit der sich die Richter befassen müssen.“
Die WASHINGTON POST bewertet die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs so: „Es hätte weitaus schlimmer kommen können: Der Beschluss wies Israel nicht an, die militärischen Operationen im Gazastreifen sofort einzustellen, wie es Südafrika gefordert hatte. Aber das Gericht stellte in der wohltuenden Sprache des Völkerrechts fest, dass ‚zumindest einige der Handlungen und Unterlassungen, die Israel in Gaza begangen haben soll, unter die Bestimmungen des Übereinkommens zu fallen scheinen‘. Dies ist eine grobe Fehlinterpretation des Begriffs Völkermord; in der Tat ist es eine Perversion des Begriffs. Es ist besonders beleidigend, wenn dieser Begriff gegen Israel angewandt wird – ein Land, das aus der Asche des schlimmsten Völkermordes in der Geschichte der Menschheit entstanden ist, das zu den ersten Unterzeichnern der Völkermordkonvention gehörte und das jetzt auf das größte Gemetzel an Juden seit dem Holocaust reagiert“, ist in der WASHINGTON POST zu lesen.
Die österreichische Zeitung DER STANDARD aus Wien notiert: „Jene Staaten, die Israel die Stange halten – auch wenn sie zunehmend auf die Einhaltung von Völkerrecht in den Palästinensergebieten pochen –, werden sich das Urteil genau ansehen. Insofern sollte es Israel nicht völlig vom Tisch wischen. Denn es reflektiert auch die Rechtsmeinung, dass seine Offensive grundsätzlich berechtigt ist. Aber die internationale Unterstützung dafür ist nicht bedingungslos.“
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG aus der Schweiz kritisiert: „Die Heuchelei ist empörend. Wo etwa ist der Aufschrei Südafrikas gegen die genozidären Handlungen Russlands in der Ukraine? Und vor allem: Wo war er, als die Hamas am 7. Oktober Kinder als Geiseln verschleppte und Zivilisten massakrierte, weil sie Juden waren?“
Die Gastkommentatorin der japanischen Zeitung ASAHI SHIMBUN geht der Frage nach, warum ausgerechnet Südafrika die Klage angestrengt hat: „Warum kämpft Südafrika, das geographisch weit entfernt vom Nahost liegt, so sehr für Menschenleben und Rechte der Palästinenser? Im Jahre 1948, als der Staat Israel gegründet wurde und die palästinenische Bevölkerung fliehen musste, begann auch die Apartheid-Politik in Südafrika. Israel war ein starker Unterstützer der weißen Regierung in Südafrika – nicht nur gegen die mussten Nelson Mandela und seine Bewegung kämpfen, sondern auch gegen das internationale Apartheid-System. Als Mandela 1994 zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt wurde, sagte er: ‚Ohne die Freiheit für die Palästinenser, ist unsere Freiheit unvollständig‘. Auch selbst wenn Den Haag dieses Mal eine Feuerpause nicht angeordnet hat, muss sie bald ermöglicht werden“, fordert ASAHI SHIMBUN aus Tokio.
Hören Sie abschließend einen Gastkommentar aus der chinesischen Zeitung HUANQIU SHIBAO über die jüngsten Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft und Politik: „Die Demonstrationen der Bauern, der Streik der Lokführer und die Massendemonstrationen gegen die rechtsradikalen Strömungen beherrschen die Inlandsnachrichten. Die Parteienlandschaft ist destabilisiert: Die AfD erfährt neuen Zulauf, während die Regierungsparteien im Umfragetief verharren. Die Spaltung der Linkspartei und der Union führt zur Entstehung neuer politischen Kräfte. Sie versuchen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung für sich zu nutzen. Probleme überall, es fehlen wirksame Lösungen. Dies demonstriert die Führungsschwäche in der Politik. Das Nichtstun der Ampelregierung ist eher gefährlich. Denn man kann all diese destabilisierenden Faktoren nicht einfach laufen lassen“, warnt HUANQIU SHIBAO aus Peking.