11. Juni 2024
Die internationale Presseschau

Im Mittelpunkt der Kommentare steht der Ausgang der Wahl zum Europaparlament.

Demo der AfD mit vielen Fahnen
Die AfD gewinnt bei der Europawahl in Deutschland in der Altersgruppe der Wählerinnen und Wähler von 16 bis 24 Jahren elf Prozent hinzu. Nur etwas mehr gewinnt in diesem Segment die CDU. (IMAGO / Karina Hessland / IMAGO / KH)
"Ein Gespenst geht um in Europa", zitiert die türkische Zeitung Milliyet den Leitspruch des Kommunisten Karl Marx und führt weiter aus: "Diesmal ist es das Schreckgespenst des Faschismus, nicht des Kommunismus, das Europa heimsucht. Auch wenn die gemäßigten Parteien in der Europäischen Union weiter die Entscheidungshoheit haben, gibt das Erstarken rassistischer Parteien in Frankreich, Deutschland und Österreich Anlass zur Sorge um die Zukunft des alten Kontinents. Der Faschismus, der in den 1930er Jahren in Europa aufkam, stürzte die Welt in einen schrecklichen Krieg. Eine Wiederholung durch das Erstarken der extremen Rechten ist unwahrscheinlich. Der wachsende Rassismus in Europa wird die Welt vielleicht nicht in einen Krieg globalen Ausmaßes stürzen, aber er wird das bereits gestörte wirtschaftliche und politische Gleichgewicht weiter verschlechtern", befürchtet MILLIYET aus Istanbul.
Die Zeitung DIE PRESSE aus der österreichischen Hauptstadt Wien notiert: "Wenn es einen roten Faden dieser EU-Wahl gibt: Alle sind auf ihre Stammwählerschaft zurückgefallen – und angewiesen. Diese hat es der österreichischen ÖVP ermöglicht, doch noch ein halbwegs akzeptables Ergebnis zu erzielen. Und den Grünen ebenso."
Die in Schanghai erscheinende Zeitung JIEFANG RIBAO notiert: "Der Rechtsruck bei der Europawahl hat mit der von Präsident Macron ausgerufenen vorgezogenen Neuwahl in Frankreich und dem Rücktritt des belgischen Premierministers bereits eine Kettenreaktion ausgelöst. Nach einhelliger Meinung hat sich ein dramatischer politischer Umbruch in Europa vollzogen. Zwar haben die Parteien der Mitte ihre beherrschende Stellung im Europäischen Parlament behaupten können, jedoch driften sie selbst immer weiter in Richtung konservativer Positionen. Die Kür der Spitzenpositionen in der EU dürfte nun auf jeden Fall schwieriger werden als bisher. Eine Zusammenarbeit mit rechtsextremen Parteien könnte dabei am Ende unausweichlich sein", prognostiziert die chinesische Zeitung JIEFANG RIBAO.
Die japanische Zeitung ASAHI SHIMBUN vermutet einen Hass auf die Eliten als Ursache für den Rechtsruck bei der Europawahl: "Dieses Mal haben die rechtsextremen Parteien lediglich 25 Prozent erreicht, ihr Zusammenhalt ist noch nicht stark. Aber die Gefahr ist groß, dass sie ihre Präsenz ausbauen. Ihre Methode, die Eliten zu kritisieren und abgehängte Menschen anzusprechen, ähnelt der von Ex-US-Präsident Trump. Seine mögliche Wiederwahl im November bei der US-Präsidentschaftswahl könnte die Geschlossenheit der rechten Parteien in Europa stärken.Wie kann man verhindern, dass die Rechtsextremen die Unzufriedenheit der Menschen für sich ausnutzen? Dass die derzeit Regierenden nun ihre Politik nach rechts rücken, dürfte keine Antwort sein", schreibt ASAHI SHIMBUN aus Tokio.
Der britische INDEPENDENT äußert sich bestürzt über das Verhalten der Jungwähler in Deutschland und Frankreich: "Der Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland und in Frankreich, den beiden bevölkerungsreichsten Ländern, ist unter der Jugend besonders ausgeprägt. Das steht im krassen Gegensatz zu Großbritannien. Dort sind die Jugendlichen grün, fortschrittlich und ironischerweise sehr pro-europäisch eingestellt. Besonders erschreckend für Deutschland ist das Erstarken von Gruppierungen, die das Dritte Reich mit einem Grad an distanziertem Gleichmut betrachten, der in der Bundesrepublik bisher undenkbar war", betont der Londoner INDEPENDENT.
Die kolumbianische Zeitung EL PAIS analysiert: "Der aufsehenerregende Vormarsch der ultrarechten Parteien bei den Wahlen zum EU-Parlament sorgt für weitere geopolitischen Unruhen, nachdem schon die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen Erschütterungen ausgelöst haben und die Spannungen zwischen China und dem Westen zunehmen. Zwar verbleibt die Mehrheit im Europaparlament trotz dieses Rechtsrucks erst einmal in den Händen einer Mitte-rechts-Koalition, die auch bereits den Dialog mit Mitte-links-Parteien aufgenommen hat. Aber es ist doch überdeutlich geworden, dass die Pläne und Ideen am rechten Rand fast auf dem gesamten Kontinent auf wachsende Zustimmung stoßen", hebt EL PAIS aus Cali hervor.
Die Zeitung POLITIKEN aus Kopenhagen ist zufrieden mit dem Wahlergebnis in Dänemark: "Während weite Teile Europas bei den Wahlen am Sonntag einen Rechtsruck erlebt haben, ist Dänemark glücklicherweise davon verschont geblieben. Stattdessen haben die Wähler politische Geschichte geschrieben, indem sie die linksgrüne Sozialistische Fortschrittspartei SF zu Dänemarks stärkster Partei gemacht haben. Die degradierten Sozialdemokraten müssen die SF künftig ernster nehmen - sowohl als Partei als auch in Bezug auf deren ambitionierte Klimaziele. Zudem sendet Dänemark damit auch ein starkes Signal an Europa: Das kleine Land im Norden nimmt den grünen Wandel ernst", unterstreicht die dänische Zeitung POLITIKEN.
Die niederländische Zeitung DE VOLKSKRANT kommentiert die von Präsident Macron angesetzten Neuwahlen zur Nationalversammlung in Frankreich und fragt: "Politischer Selbstmord oder taktische Meisterleistung? Macron hat sein Land und ganz Europa in Erstaunen versetzt, als er Parlamentswahlen ausrief, nachdem seine Liste bei den Europawahlen vom rechtspopulistischen Rassemblement National besiegt worden war. Mit viel Bravour versucht Macron, sich aus einer heiklen Lage zu befreien. Sein Mut ist bewundernswert, aber am Ende geht er ein unverantwortliches Risiko ein: für Frankreich und vor allem für Europa", hebt DE VOLKSKRANT aus Amsterdam hervor.
Die französische Zeitung L'OUEST-FRANCE begrüßt Macrons Entscheidung, auch wenn das Lager des Präsidenten bei einer Neuwahl Federn lassen werde. "Es steht jedoch nicht fest, dass die Auflösung des Parlaments dem Rassemblement National die absolute Mehrheit verschaffen wird. Ohne die 289 Sitze, die notwendig sind, um das Parlament unangefochten zu regieren, wird sie Allianzen mit anderen politischen Gruppierungen eingehen müssen. Es sei denn, eine gemeinsame Front, die die derzeitigen politischen Spaltungen überwindet, drängt sich auf. Die von Macron angestrebte 'Klärung' kann sich hier abspielen. Ein neues Gleichgewicht könnte dem Populismus entgegenwirken und im Sinne des Gemeinwohls sein", hofft der Kommentator der Zeitung L'OUEST-FRANCE aus Rennes.
Macron habe keine wirkliche Wahl, meint die polnische Zeitung RZECZPOSPOLITA. "Er muss jetzt einen politischen Impuls setzen, um eine grundlegende Bedrohung für das Land zu verhindern: die Übernahme des Élysée-Palastes durch Le Pen im Jahr 2027. Dies wäre nicht nur das Ende der Europäischen Union, wie wir sie kennen, sondern würde auch bedeuten, dass Macron nicht als großer Reformer, sondern als tragischer Präsident in die Geschichte eingehen würde. Vermutlich wird Macron bei der vorgezogenen Wahl seinen Nachfolger fördern wollen: vielleicht den ehemaligen Premierminister Philippe oder den amtierenden Premierminister Attal und oder Innenminister Darmanin", findet die RZECZPOSPOLITA aus Warschau.
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG heißt es: "Es fällt schwer, sich Macron in der zweiten Reihe vorzustellen. Aber vielleicht gehört auch das zu seinem Kalkül. Immer wieder hat er versprochen, alles dafür zu tun, die Nationalisten vom Élysée-Palast fernzuhalten."
Nach Ansicht der chinesischen Zeitung XINJINGBAO war Macrons Entscheidung ein kluger Schachzug: "Macron hat noch weitere Trümpfe in der Hand, die er ausspielen kann. Sehr wahrscheinlich wird er ein Bündnis mit anderen Parteien als Bollwerk gegen den Rassemblement National anstreben. Zudem ist es immer noch unwahrscheinlich, dass der französische Wahlsieger der Europawahl in einem Monat bei der Parlamentswahl 201 Sitze dazugewinnen kann, die die Partei von Marine Le Pen zur Regierungsbildung benötigen würde. Selbst wenn einige rechte Parteien mit ihr paktieren, wird sich das linke Lager aller Vorrausicht nach auf die Seite von Macron schlagen, sollte es hart auf hart kommen", analysiert die Zeitung XINJINGBAO aus Peking, mit der die internationale Presseschau endet.