05. Juli 2024
Die internationale Presseschau

Im Mittelpunkt der Kommentare steht die Parlamentswahl in Großbritannien, die die Labour-Partei mit einer absoluten Mehrheit der Mandate gewonnen hat.

Rishi Sunak hat die Augen geschlossen.
Wahlverlierer Rishi Sunak (Darren Staples / PA Wire / dpa / Darren Staples)
Der GUARDIAN aus London meint: "Der Erdrutschsieg der Labour-Partei ist das Ergebnis einer großen Unzufriedenheit mit den Konservativen, die lange vor Premierminister Rishi Sunaks verregnetem Wahlkampfstart vor sechs Wochen begann. Der Drang, die Tories für jahrelanges politisches Fehlverhalten zu bestrafen, war im Wahlkampf in einer bemerkenswerten Weise spürbar. Dutzende Tory-Abgeordnete werden nun in die politische Vergessenheit geschickt. Und Labour-Chef Keir Starmer ist mit überwältigender Mehrheit zum neuen Premierminister gewählt worden", heißt es im GUARDIAN.
THE SCOTSMAN blickt auf einige Fehler von Wahlverlierer Sunak: "Die vielleicht dümmste Tat war überhaupt erst die Ausrufung von Neuwahlen. Rishi Sunak hätte durchaus noch ein paar Monate durchhalten können, in der Hoffnung, dass etwa eine Absenkung der Zinsen die miserable Position seiner Partei in den Umfragen verändert hätte. Stattdessen überraschte er mit seiner Entscheidung sogar Verbündete. Einige Tory-Abgeordnete äußerten anschließend, der überreiche Premierminister sei dermaßen abgehoben, dass er keinen Gedanken an die vielen Politiker und ihre Mitarbeiter verschwendet habe, die früher als nötig ihren Job verlieren würden. Ein weiterer Fehler: Sunak eröffnete den Wahlkampf mit der immer noch verblüffenden Verteidigung des ehemaligen Gesundheitsministers Michael Matheson, der wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder bestraft worden war. Auch Sunaks Entscheidung, die D-Day-Gedenkfeiern in der Normandie vorzeitig zu verlassen, um für ein Fernsehinterview nach Großbritannien zurückzukehren, sorgte für Entsetzen. Nach Jahren des politischen Aufruhrs ist es nur passend, dass auch der Wahlkampf so chaotisch verlief", analysiert THE SCOTSMAN aus Edinburgh.
Die WASHINGTON POST ergänzt: "Als Sunak den Posten als Premier von der wirtschaftspolitisch schwachen Liz Truss übernahm, schien er als fiskalisch versierter Konservativer ein vernünftiges Korrektiv zu sein. Aber die Spaltungen in seiner Partei waren zu heftig und Sunak hatte bei vielen Entscheidungen keine glückliche Hand."
Die polnische GAZETA WYBORCZA notiert: "Nach 14 Jahren Tory-Herrschaft sagen die Briten: 'Genug ist genug.' Die Konservativen haben eine vernichtende Niederlage erlitten und fast zwei Drittel ihrer aktuellen Sitze verloren. Die Führung des Landes wird nun von der Labour-Party übernommen. Keir Starmer hat etwas Außergewöhnliches erreicht: In nur vier Jahren ist Labour vom schlechtesten Ergebnis seit 1935 zu einem fast rekordverdächtigen Ergebnis gelangt – das bislang beste Votum erzielte Labour im Jahr 1997, zum Beginn der Tony Blair-Ära. Starmer, ein 61-jähriger Anwalt und Politiker, der als ausdruckslos, aber stabil und berechenbar gilt, wird nun Rishi Sunak in der Downing Street ersetzen“, stellt die GAZETA WYBORCZA aus Warschau fest.
Die norwegische Zeitung VERDENS GANG erläutert: "Großbritannien ist rot gefärbt. Labour erringt einen historischen Sieg. Keir Starmer hat Labour in den vergangenen Jahren von einer linksradikalen Protestpartei wieder zu einer glaubwürdigen und zentrumsorientierten Partei gemacht. Die Konservative Partei kollabiert dagegen aufgrund von Skandalen, internem Streit und Regierungsverschleiß. In der britischen Politik wird eine neue Epoche eingeläutet. Die große Mehrheit der Briten hat das politische Zentrum gewählt, in dem sich die reformierte Labour-Partei nun befindet. Starmer ist es gelungen, Labour zu einer Partei zu machen, die die breite Masse anspricht", betont VERDENS GANG aus Oslo.
Die japanische Zeitung NIHON KEIZAI SHIMBUN führt aus: "Während in verschiedenen europäischen Staaten rechtsextreme Parteien ihren Aufstieg feiern, ist es bemerkenswert, dass in Großbritannien nun eine Mitte-links-Regierung mit absoluter Mehrheit die Amtsgeschäfte übernimmt. Sollte das von wirtschaftlichen Problemen geplagte einst glorreiche 'Britisch Empire' unter Labour wieder aufblühen, könnte die erfolgreiche linke Regierung Signalwirkung auf andere Länder und ihre Wähler haben", hebt NIHON KEIZAI SHIMBUN aus Tokio hevor.
Die TIMES OF INDIA aus Mumbai nimmt den künftigen Premierminister in den Fokus: "Starmer hat die Erwartungen weit übertroffen. Als er 2020 die Nachfolge des linksextremen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn antrat, wurde er in Umfragen so beschrieben: Langweilig, nochmals langweilig, eben kein Tony Blair. Doch er hat die Labour-Partei zum Sieg geführt - wenn auch nur als Nutznießer des Chaos' rund um die Torries."
Die NEW YORK TIMES spart nicht mit Kritik an Starmer: "Seit er Vorsitzender ist, hat er ein gnadenloses Vorgehen gegen die mildesten Formen interner Meinungsverschiedenheiten an den Tag gelegt. Er schloss seinen Vorgänger aus, hinderte linke Politiker an der Kandidatur für das Parlament und drohte Abgeordneten, die die NATO kritisierten, mit einem Ausschluss. Die heutige Labour-Partei ist ein Spiegelbild der Konservativen: sie ist unterwürfig gegenüber dem Großkapital, befürwortet Sparsamkeit im Inland und Militarismus im Ausland. Starmer hat angedeutet, in der Downing Street ebenso rigoros zu handeln. Er will beispiellose Einschränkungen für Proteste beibehalten. Er bezeichnete Klimaaktivisten als 'erbärmlich' und versprach, harte Strafen gegen sie zu verhängen. Die Lösung der vielen Probleme in Großbritannien erfordert mehr als nur kleingeistige Versuche, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Doch anscheinend ist das alles, was der neue Premierminister zu bieten hat", mutmaßt die NEW YORK TIMES.
Der britische INDEPENDENT geht darauf ein, dass der Rechtspopulist Farage, der als treibende Kraft hinter dem Referendum zum britischen EU-Austritt gesehen wird, ins Unterhaus einzieht: "Es ist besorgniserregend, dass die rechte 'Reform UK'-Partei erstmals den Einzug ins Parlament schafft und zwar mit mehreren Abgeordneten. Ihr Vorsitzender Nigel Farage, so scheint es, könnte Recht gehabt haben, als er sagte, dass 'da draußen etwas passiert'. Umso enttäuschender ist es, dass der künftige Regierungschef Starmer eine ähnliche Richtung wie Farage einschlägt, wenn er einen Wiedereintritt des Vereinigten Königreichs in den EU-Binnenmarkt noch zu seinen Lebzeiten ausschließt. Das ist eine merkwürdige, ja unrealistisch absolute Absichtserklärung“, bemerkt der INDEPENDENT aus London.
DER STANDARD aus Wien geht ebenfalls auf die künftige Europa-Politik der britischen Regierung ein: "Ein Wiedereintritt in die EU ist Illusion. Der neue Premier, ein Brexit-Gegner, wird allerdings die Kooperation mit Brüssel suchen. Das wahrscheinlichste Szenario im kurzfristigen Umgang mit der EU dürften zahlreiche 'Mini-Deals' sein, zum Beispiel zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen oder zum Abbau von Handelshemmnissen bei Lebensmitteln. Vor all dem wird Starmer aber wohl innen- und außenpolitisch Symbolpolitik betreiben. So wird etwa das Ruanda-Modell, die umstrittene Abschiebung von Asylwerbern nach Ostafrika, wohl bald Makulatur sein. Ein teurer Spaß für den Steuerzahler", kritisiert DER STANDARD.
In der chinesischen Zeitung HUANQIU SHIBAO ist zu lesen: "Starmer will sein Land umfassend reformieren und verspricht einen Neustart. Doch er sollte bedenken: Ohne eine eigenständige, kluge und pragmatische Außenpolitik wird dem Labourchef kaum eine Reform gelingen. In den vergangenen 14 Jahren sind seine Vorgänger dem Weißen Haus blind gefolgt. Das einst mächtige Weltreich hat nicht nur in Europa, sondern in anderen Teilen der Erde an Bedeutung verloren. Starmer könnte seinen australischen Kollegen Anthony Albanese zum Vorbild nehmen und eine Außenpolitik mit Eigenständigkeit und Vernunft anstreben", findet HUANQIU SHIBAO aus Peking.
In der TIMES steht: "Das Ausmaß der innenpolitischen Probleme ist größer als bei jedem anderen Premierminister seit Margaret Thatcher. Sir Keir Starmer weiß, dass die Feierlichkeiten, die er an diesem Wochenende genießen kann, nicht lange währen können. Er regiert nun einen Staat in der Krise."