06. September 2024
Die internationale Presseschau

Kommentiert wird die schwierige Regierungsbildung nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen und der Umgang mit der AfD. Zunächst geht der Blick aber nach Frankreich.

Michel Barnier im Seitenprofil
Thema in zahlreichen Kommentaren: Der frühere EU-Kommissar ist neuer französischer Premierminister. (picture alliance / abaca / Abdullah Firas / ABACA)
Präsident Macron hat knapp zwei Monate nach der Parlamentswahl den früheren EU-Kommissar Barnier zum neuen Premierminister ernannt. Die italienische Zeitung LA STAMPA bemerkt: "Am Ende einer 51 Tage andauernden Regierungskrise hat Emmanuel Macron die Karte Michel Barnier gezogen. Diese Notlösung ist eine vergebene Chance für die französische Politik und ein Sieg für das Rassemblement National von Marine Le Pen und Jordan Bardella. Es wurde die Chance verspielt, die politische Kultur zu verändern und das zu erproben, was die wichtigsten Demokratien der Europäischen Union kennen: Die Kunst des Kompromisses, um breitere Koalitionen ins Leben zu rufen. Die Parteien, die bereits auf die Präsidentschaftswahlen 2027 schauen, haben mit wechselseitigen Vetos die Bildung einer großen Koalition verhindert", bedauert LA STAMPA aus Turin.
Die chinesische Zeitung JIEFANG RIBAO spricht von einer klugen Entscheidung Macrons: "Da Barnier vom konservativen, eher rechten Flügel kommt, hat er noch die besten Chancen, akzeptiert zu werden. Der national wie international erfahrene Politiker besitzt die Qualität, Verständnis für die Gesprächspartner zu zeigen und dennoch seinen eigenen Willen durchzusetzen. Macron schätzt wohl diese Stärke von Barnier besonders", glaubt JIEFANG RIBAO aus Shanghai.
"Die Wahl von Barnier ist verfassungsrechtlich legitim, aus politischer Perspektive jedoch höchst fragwürdig", urteilt EL PAIS aus Madrid: "Barnier ist ein Vertreter der Republikaner, die das Erbe der konservativen Gaullisten fortführen. Seine Nominierung ist ein klarer Dämpfer für die erstplatzierte Linke, und paradoxerweise scheint Macron damit eher die Nähe zu den Ultrarechten zu suchen, die er eigentlich neutralisieren wollte. Mit einem moderateren und pragmatischen Kandidaten aus dem konservativen Lager hätte Macron den Linken eine gewisse Offenheit signalisiert. Indem sich Macron nun mit Barnier aber für eine Persönlichkeit entschieden hat, die nicht unbedingt die Ziele der Mitte verfolgt, stürzt er Frankreich erst recht ins Ungewisse", heißt es in der spanischen Zeitung EL PAIS.
"Macron hat sich offiziell über den Willen des Volkes hinweggesetzt", schreibt die türkische Zeitung BIRGÜN aus Istanbul: "Die Neue Volksfront hat die Wahlen im Juli gewonnen. Es ist unverständlich, dass Macron einer linken Regierung keine Chance gegeben hat."
Die französische Zeitung L'OPINION aus Paris gibt zu bedenken: "Das Linksbündnis hat auf ihre Kandidatin Lucie Castets bestanden und jeden anderen Kandidaten für das Amt des Premierministers ausgeschlossen. Macron musste sich deshalb anderweitig umsehen, um ein Mindestmaß an Stabilität in der Nationalversammlung zu erreichen."
Die polnische RZECZPOSPOLITA sieht es so: "Der Präsident hat endlich einen Politiker gefunden, den Marine Le Pen unterstützen oder zumindest in Betracht ziehen kann. Nur zu diesem Preis wird die neue Regierung überlebensfähig sein. Als sich Barnier nach seiner Rückkehr aus Brüssel 2022 als Kandidat für den französischen Präsidentschaftswahlkampf bewarb, versprach er die Überlegenheit des französischen Rechts gegenüber dem EU-Recht in Migrationsfragen durchzusetzen. Le Pen rechnet damit, dass Barnier diese Politik nun umsetzt. Mit der Übernahme des Programms von Marine Le Pen ebnet Macron ihr de facto den Weg in den Elysée-Palast im Jahr 2027", ist die Zeitung RZECZPOSPOLITA aus Warschau überzeugt.
Die japanische Zeitung NIHON KEIZAI SHIMBUN aus Tokio kommt zu einer anderen Bewertung: "Zwar wird das innenpolitische Chaos in Frankreich wahrscheinlich weitergehen. Dennoch hat Präsident Macron erstmal Zeit gewonnen. Das ist wohl seine Strategie. Sollte sich die politische Lage aus seiner Sicht positiv verändern, kann er im Sommer kommenden Jahres das Parlament erneut auflösen."
Die finnische Zeitung HUFVUDSTADSBLADET aus Helsinki bilanziert: "In Frankreich herrscht politischer Stillstand, seit die radikale Rechte und die Ultralinken bei den Parlamentswahlen Erfolge feiern konnten. Auch in Deutschland wächst die Unzufriedenheit in den vergessenen Regionen. Dort betrachten sich die Wähler als abgehängt, verachten das Establishment und fordern einen Paradigmenwechsel."
Aus Sicht der schwedischen Zeitung DAGENS NYHETER zeigen die jüngsten Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen eine veränderte Sicht in Deutschland auf die EU: "Immer wieder hat Deutschland seine Staatskassen geöffnet oder auf andere Weise dazu beigetragen, die vielen Krisen der Union zu lösen. Europas größter und stärkster Staat hat als eine Art loyaler Bürge für die gesamte EU gedient, ohne aber groß damit zu prahlen. Jetzt wirkt es so, als ob Deutschland langsam müde wird, eine Art Garant für das Überleben der EU zu sein. Die wachsende Unzufriedenheit ist sicherlich auch ein Teil der Erklärung für die Wahlerfolge der rechtsextremen AfD und von Sahra Wagenknechts Linkspopulisten", vermerkt die Zeitung DAGENS NYHETER aus Stockholm.
DER STANDARD aus Österreich befasst sich mit der schwierigen Regierungsbildung nach der Landtagswahl in Thüringen und kritisiert die Haltung der CDU: "Der Unvereinbarkeitsbeschluss besagt, dass die CDU weder mit der AfD noch mit der Linkspartei zusammenarbeitet. Er stammt aus dem Jahr 2018 und war damals schon, gelinde gesagt, merkwürdig, weil er AfD und Linke als gleich gefährlich und verdammenswert einstufte.Der Beschluss führt nun in Thüringen zu seltsamen Verrenkungen. Um die AfD aus einer Landesregierung herauszuhalten, spricht CDU-Chef Mario Voigt mit dem neuen Bündnis der Ex-Linken Sahra Wagenknecht, die übrigens 1989, in der Endphase der DDR, noch in die Einheitspartei SED eintrat. Nicht reden darf er eigentlich mit dem linken (Noch-)Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, einem Christen, den viele als verkappten Sozialdemokraten sehen und der das Land in den vergangenen zehn Jahren regiert hat. Die Linke immer noch so zu dämonisieren ist absurd", findet DER STANDARD aus Wien.
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG meint: "Die Republik ertrüge es, wenn in Thüringen eine Partei mit einem rechtsextremistischen Flügel den Ministerpräsidenten stellte. Eine Allparteienregierung von Parteien, die nichts verbindet, ist keine Alternative. Der große Preis wird ohnehin erst im nächsten Jahr verlost, bei der Bundestagswahl. Im Hinblick darauf sollte man die Rechtspopulisten nicht noch stärken, indem man ihren Opferstatus als Ausgestossene des Systems zementiert. Da wäre es klüger, in Thüringen ein kleines Risiko einzugehen. Immerhin 80 Prozent der Deutschen wählen keine AfD. Dieser Mehrheit nicht zuzutrauen, mit der Herausforderung fertigzuwerden, hieße, an der Fähigkeit der Deutschen zur Demokratie zu zweifeln." Sie hörten einen Kommentar aus der Schweizer NZZ.
Der GUARDIAN AUSTRALIA aus Sydney stellt heraus: "Studien zeigen, dass die Wähler der AfD sich keine Sorgen darüber machen, dass der Verfassungsschutz den Thüringer Landesverband der AfD als rechtsextremistisch einstuft. Tatsächlich bezeichnen sich viele von ihnen nicht einmal als rechts, sondern als der Mitte zugehörig. Und wer kann es ihnen verdenken, wenn man die seit Jahren andauernde Normalisierung rechter Positionen im deutschen Mainstream bedenkt."
Die WASHINGTON POST betont: "Deutschland braucht Arbeitskräfte aus dem Ausland. Eine Begrenzung der Einwanderung, die stark genug wäre, um die Anziehungskraft der AfD zu dämpfen, würde unweigerlich die ohnehin schon schwache deutsche Wirtschaft beeinträchtigen. In ganz Europa sind einwanderungsfeindliche Parteien auf dem Vormarsch oder bereits an der Macht. Die Zuwanderung ist zum unlösbaren Problem geworden, zu einer Bedrohung für die liberale Demokratie, die soziale Stabilität und das Wirtschaftswachstum. "