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Die IRA schießt nicht mehr

Sie war die gefährlichste Guerilla Europas: Die Irisch-Republikanische Armee (IRA). Zwölf Jahre nach dem ersten Waffenstillstand hat sie sich heute in einen Veteranenverband verwandelt. In der Europakolumne macht sich der Korrespondent der NZZ, Martin Alioth, Gedanken über die Wiedereinsetzung der nordirischen Selbstverwaltung.

    Es versteht sich von selbst, dass die Irisch-Republikanische Armee keine Lorbeerkränze dafür verdient, dass sie aufgehört hat, ihre Widersacher und Rivalen umzubringen, missliebige Elemente zu verstümmeln und Banken auszurauben. Aber moralische Selbstgerechtigkeit sollte uns doch nicht daran hindern, kurz innezuhalten.

    Die Erkenntnis der unabhängigen Überwachungskommission, dass die IRA ein Jahr nach ihrer Abrüstung ihre offensiven Abteilungen aufgelöst hat, und dass die Führung der Organisation einen grundsätzlich friedfertigen Einfluss ausübt, ist zwar überfällig, aber deshalb nicht minder erfreulich. Die einst gefährlichste Guerilla-Armee Europas hat sich - zwölf Jahre nach ihrem ersten Waffenstillstand - in einen Veteranenverband verwandelt; die IRA schießt nicht mehr.
    Einheimischer Terror ist in den letzten fünf Jahren in Europa aus der Mode gekommen, gewiss. Das hat die lähmend langsame Metamorphose der IRA beschleunigt, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Empfindlichkeiten amerikanischer Freunde. Wichtiger indessen sind die lokalen Gegebenheiten: die IRA und ihre politischen Weggefährten, die Sinn Fein-Partei, haben schon vor fast 20 Jahren zu begreifen begonnen, dass der Militarismus in die Sackgasse führt.

    So haben sie ihr Bedrohungspotenzial wie eine Zitrone bis auf den letzten Tropfen ausgepresst, um am Verhandlungstisch die größtmögliche Belohnung für den Abgang der IRA herauszupressen. Das war mitunter kein sehr appetitlicher Anblick, aber der Prozess verlief weitgehend diszipliniert und plangemäß.
    Jetzt wo diese Verwandlung nach Ansicht der nordirischen, britischen und irischen Sicherheitskräfte - auf deren geheimes Wissen sich die Überwachungskommission letzte Woche stützte - abgeschlossen ist, fehlt eigentlich nur noch ein letzter Schritt. Sinn Fein, mittlerweile die größte Partei der katholischen Minderheit in Nordirland, muss das Gewaltmonopol des Staates anerkennen. Das ist gewissermaßen die letzte Trumpfkarte, bevor die Partei die politische Hygieneprüfung bestanden hat und selbst unter Moralisten als salonfähig gelten darf.
    Doch zur Regierungsbildung braucht es gemäß den ehernen Vorschriften des nordirischen Friedensabkommens von 1998 mehr als eine Partei: Nordirland wird entweder von einer Allparteien-Koalition regiert oder bleibt unter der quasi-kolonialen Herrschaft englischer, schottischer und walisischer Gouverneure. Sofern die größte Partei Nordirlands unter der Führung des inzwischen 80-jährigen Pfarrers Ian Paisley nicht gewillt ist, die Regierungsverantwortung mit den ehemaligen Schmuddelkindern in Sinn Fein zu teilen, läuft gar nichts.
    Nachdem die IRA und Sinn Fein mit ihrem taktischen Finassieren die politische Mitte Nordirlands aufgerieben und entmachtet hatten, sahen sie sich plötzlich mit einem Gegner konfrontiert, der seinen Erfolg ebenfalls dem Trotz verdankt. Aber jetzt ist wohl der Zeitpunkt gekommen, das grausame Spiel zu beenden: Diese Woche treffen sich die Politiker Nordirlands mit den Premierministern Irlands und des Vereinigten Königreichs in Schottland. Sie sollen herausfinden, ob die Grundlagen für eine nordirische Koalitionsregierung jetzt gegeben sind.

    Falls Paisley wider Erwarten willig ist, wird Sinn Fein die Polizei ins Herz schließen. Die Vorliebe der Nordiren für politisches Theater legt allerdings den Verdacht nahe, dass dieses letztlich unvermeidliche Ergebnis noch eine Weile auf sich warten lässt. Die Regierungen haben den 24. November als Abschlusstermin festgesetzt, aber sie werden auch noch im nächsten Frühling dankbar sein, wenn der weiße Rauch aufsteigt.