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Die iranische Gesellschaft
Auf der Suche nach dem "wahren Leben"

Der Iran genießt im Westen immer noch keinen besonders guten Ruf. Dabei ist die Wirklichkeit des Landes äußerst vielschichtig. Einen tieferen Blick auf den Iran verspricht das Buch "Stadt der Lügen. Liebe, Sex und Tod in Teheran" von Ramita Navai. Das klingt reißerisch, ist aber seriös und spannend zu lesen.

Von Brigitte Baetz |
    Zwei Frauen laufen in der iranischen Haupstadt Teheran mit wenig bedecktem Haar über die Straße.
    Das Leben im Iran ist vielschichtiger als vielfach im Westen angenommen. (imago)
    "Das ist eine Art Liebesbrief an meine Stadt. Dass die Iraner lügen, um sich selbst treu zu bleiben, zeigt ihre Wesensart. Sie müssen sich anpassen und Alles tun, um das Leben zu führen, das sie haben wollen."
    Das Leben führen, das sie haben wollen: Zumindest den Protagonisten in Ramita Navais Buch gelingt das nicht. Da ist zum Beispiel Somayeh, ein einfaches Mädchen aus dem armen Süden Teherans. Sie wächst mit den strengen Regeln eines traditionellen Islams auf. Die Autorin begleitet ihr Heranwachsen und porträtiert gleichzeitig ein ganzes Stadtviertel.
    "Der Khorasan-Platz ist eine kleine Insel, und Somayeh hatte beobachtet, wie ihre Küsten allmählich von den Wellen der Moderne und der Jugend ausgewaschen wurden. Die Ruinen alter Häuser waren mit glänzenden Marmorfassaden und blanken Steinverkleidungen neu erstanden, Vorarbeiter und Beamte waren geschmiert worden, um die kostenaufwendigen Bauvorschriften zum Schutz gegen Erdbeben zu umgehen. Dennoch ist das Viertel um den Khorasan-Platz von den religiösen Wertvorstellungen der Arbeiterschicht geprägt; seine Bewohner kämpfen darum, die sozialen Strukturen aufrechtzuerhalten. Für Familien wie Somayehs bedeutet Religion, nach den Worten des Korans und den Fatwas des Obersten Führers zu leben, um sich einen Platz im Paradies zu verdienen."
    Statt zu pilgern ins Bordell
    Doch alle Gottesfurcht wird Somayeh nicht davor schützen, in einer unglücklichen Ehe mit einem pornosüchtigen Schürzenjäger zu landen. Ihr Vater ist in der Nachbarschaft hoch angesehen - wegen seiner angeblichen Pilgerfahrten, tatsächlich aber verbringt er diese Zeit in thailändischen Bordellen. Und obwohl die von Somayeh eingereichte Scheidung sofort genehmigt wird, hat sie es weiterhin schwer: als alleinstehende Frau mit Kind in der iranischen Gesellschaft, die Unabhängigkeit aller Art gering schätzt. Letzteres dürfte die meisten europäischen Leser weniger überraschen, ist doch die Unterdrückung von Frauen in islamischen Gesellschaften ein gängiges westliches Stereotyp. Doch so einfach ist die Sache nicht, sagt Ramita Navai.
    "Der Westen nimmt den Iran als einheitliche Gesellschaft verrückter Fundamentalisten wahr. Aber es ist eine komplexe Gesellschaft. Sie ist reich und vielschichtig. Es ist unmöglich, den Iran in eine Schublade zu stecken."
    Und so entpuppen sich die oppositionellen Volksmudjaheddin als im Volk verhasste Maulhelden. Der Transsexuelle, Mitglied der gefürchteten Basidsch-Miliz, einer Art Hilfspolizei der Unterprivilegierten, darf sich mit Einverständnis der Geistlichkeit einer Geschlechtsumwandlung unterziehen. Die verwöhnten Kinder der Teheraner High Society versuchen mit Sex, Drogen und Schönheitsoperationen ihre innere Leere zu überspielen. Und die vor den engen Moralvorstellungen nach London geflohene Gesellschaftsdame wird aus Heimweh wieder in den Iran zurückkehren.
    "Das Taxi bog in die Valiasr-Straße ein. Vor dem Mercedes-Benz-Autohaus häuteten zwei Männer ein totes Schaf. Farideh kurbelte das Fenster ganz herunter und steckte ihren Kopf hinaus. Sie hätte niemals gedacht, dass sie so erleichtert sein würde, zurück zu sein; umgeben von Teherans Bergen, beschützt von dem erstaunlich blauen Himmel und erwärmt von der Sonne, beschirmt von den Bäumen, in denen eine leichte Brise wehte und deren Blätter sich gerade in Farbexplosionen von Umbra, Rostrot und Ocker verausgabten. Sie fuhren an den Obstständen mit Zitronen, Quitten und Dattelpflaumen in herbstlichen Gelb- und Orangetönen vorüber, an dem Durcheinander, dem Chaos und dem Geschrei, dem rauchigen Geruch von Lammfleisch auf heißen Kohlen, der ihr entgegen schlug, den Maulbeerbäumen und dem Jasmin, dem Staub, den stotternden Lieferwagen, dem Mann, der am Straßenrand Welpen verkaufte, den Schwärmen von Motorrollern, die sich zwischen wunderschönen Mädchen in provokanter Kleidung hindurchschlängelten, den Saftständen, den Goldgeschäften, den uralten Basaren mit ihren überdachten Eingängen, den abgeplatzten blauen Kacheln der verfallenden prächtigen Herrenhäuser und den versteckten Gärten."
    "Wahres" Leben hinter verschlossenen Türen
    Eines haben alle Protagonisten in diesem Buch gemein: Sie müssen sich permanent verstellen und ihr "wahres” Leben hinter verschlossenen Türen führen. Das alles erzählt Ramita Navai in fesselnder Sprache und mit viel Sinn für Dramaturgie. Dabei schildert sie plausibel und nachvollziehbar, dass der Iran vielschichtiger ist, als wir ihn uns im Westen vorstellen. Die Autorin bietet einen genauen Blick auf den selbst ernannten Gottesstaat - in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, aber auch in all der Schönheit, die es eben dort auch gibt.
    Die britische Journalistin ist selbst ein Kind Teherans. 1979 flohen ihre Eltern mit der Achtjährigen vor der Islamischen Revolution nach London. Für die Times kehrte sie 2003 als Korrespondentin in ihre Geburtsstadt zurück - und machte dort die Erfahrung, dass sie über interessante Begegnungen nicht schreiben konnte, weil sie ihre Gesprächspartner sonst in Gefahr gebracht hätte. Deshalb greift sie in ihrem Buch zu einem Trick. Nicht jede der acht Personen, deren Leben sie beschreibt, existiert. Manche sind die Synthese aus verschiedenen Menschen, bei allen sind die Namen Fiktion. Dies sind also keine reinen Tatsachenberichte, sondern Erzählungen. Und trotzdem ist es ein journalistisches Buch. Im Anhang erfährt der Leser ausführlich, auf welche Quellen und Begegnungen sich die Autorin stützt.
    "Somayehs Geschichte basiert auf der einer Frau, die anonym bleiben will. Ihre Beziehung, von der Heirat bis zu Scheidung, habe ich so wiedergegeben, wie sie sie mir erzählt hat. (…) Die Gespräche zwischen Somayeh und ihren Freundinnen entsprechen den Unterhaltungen von Mädchen aus der gleichen Altersgruppe und aus konservativen Familien wie Somayes, bei denen ich selbst anwesend war oder von denen Somayeh mir erzählt hat."
    Und mit dieser faktenbasierten Fiktion gelingt es Ramita Navai, der Stadt der Lügen und ihren Bewohnern ein ehrliches Denkmal zu setzen, das gleichzeitig spannend und informativ ist.
    Ramita Navai: "Stadt der Lügen. Liebe, Sex und Tod in Teheran", aus dem Englischen übersetzt von Yamin von Rauch, 288 Seiten, Verlag Kein & Aber, 22 Euro