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Die Jasmin-Revolution und ihre Folgen

Wieder gehen Menschen auf die Straßen und demonstrieren gegen schlechte Lebensumstände: Tunesien erlebte die ersten freien Wahlen, aber der Weg zu einer Verfestigung der Demokratie ist noch schwierig. Vor einem Jahr schrien das erste Mal Tausende "Ben Ali Mörder".

Von Marc Dugge und Alexander Göbel |
    14. Januar. Ein sonniger, kühler Wintertag, 13 Uhr:

    "Ich stehe hier auf der Avenue Bourguiba, das ist direkt im Stadtzentrum von Tunis. Hier ziehen im Moment Tausende Demonstranten Richtung Innenministerium. Sie haben es gerade gehört, da schreit gerade jemand "Ben Ali Mörder" mir ins Mikrofon. So aufgeheizt ist die Stimmung hier schon. Es sind wirklich Tausende, auch aus den "Banlieues", aus den Vororten, die hier offensichtlich zum Innenministerium kommen. Sie stehen davor."

    Keiner ahnt, dass an jenem Tag eine neue Epoche beginnt.
    Jeder ahnt, dass die Polizei bald durchgreifen wird.

    Um 15 Uhr fallen die ersten Schüsse. Die Journalisten flüchten sich in ihre Hotels, die Augen rot vom Tränengas. Und beobachten durchs Fenster, wie Polizisten Jagd auf Demonstranten machen.

    Die Häscher verfolgen die Demonstranten durch die engen Gassen der Altstadt, verprügeln sie in den Seitenstraßen. Verängstigte Menschen finden Unterschlupf bei Unbekannten, verstecken sich in Hauseingängen und Hotels.

    Dann herrscht Ausgangssperre. Eine gespenstische Stille liegt über die Stadt. Aus mehreren Vierteln steigen Rauchsäulen auf.

    Was kaum einer weiß: Ben Ali ist längst weg. Geflohen nach Saudi-Arabien, mit seiner Frau. In den engen Gassen der Innenstadt wird noch tagelang geschossen. Anhänger des alten Regimes verschanzen sich, liefern sich Kämpfe mit Polizei und Armee. Der Informatiker Khaled Nanaa erinnert sich:

    "Die Tage danach waren für mich ein Albtraum. Man war sprachlos, wusste nicht, wo es hingeht. Kommt er zurück? Kann er uns irgendwas antun? Ich bin gar nicht mehr rausgegangen, ich war zu Hause. Tagsüber habe ich gerade mal ein paar Einkäufe gemacht. Zu Hause habe ich die News und Tweeds verfolgt. Ich habe nur gehofft, dass sich die Lage schnell beruhigt. Es hat ein paar Wochen in Anspruch genommen."

    Er liefert den Soundtrack zur Revolution: der tunesische Rapper El Général. "Rais Le Bled" heißt sein Song, der schon Ende 2010 im Internet kursiert. El General rechnet schonungslos ab mit Ben Ali und seinem Polizeistaat.

    "Hey, Präsident, Dein Volk stirbt", schreit El Géneral heraus. "Die Menschen essen aus Mülltonnen. Und Du lässt Deine Polizei auf sie los."

    17. Dezember 2010: Im bitterarmen Sidi Bouzid im Süden Tunesiens übergießt sich der Obst- und Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit Benzin – und zündet sich an. Er macht Schluss mit einem trostlosen Leben, das für ihn keines mehr war. Brennend geht er noch ein paar Schritte: "Schluss mit der Arbeitslosigkeit", schreit er dabei. "Schluss mit der Verzweiflung!" In den damals noch regimetreuen Medien lässt Ben Ali den Selbstmord herunterspielen - als Einzeltat eines Verwirrten. Doch in Wahrheit ist dieser Akt das Fanal der Jasmin-Revolution.

    Wenige Tage später, am 4. Januar 2011, ist Mohamed Bouazizi tot – er wird nur 26 Jahre alt. Über Handyvideos erreichen die Bilder des Trauerzuges die großen Städte – die Wut der Unterdrückten erfasst das ganze Land.

    Überall kommt es zu Demonstrationen. Ein Student sagt, es sei, als fliege ein Dampfkochtopf in die Luft, der viel zu lange unter großem Druck stand.

    Der Präsident wendet er sich über das Staatsfernsehen an sein Volk, das ihm nicht mehr gehorchen will. Ben Ali kündigt an, die Staatsmacht werde hart durchgreifen:

    "Wir bedauern die Schäden, die durch die Ereignisse der letzten Wochen entstanden sind. Schuld daran sind feindliche Kräfte - Menschen, die gegen ihr eigenes Land hetzen. Sie werden die Härte unserer Gesetze mit aller Macht zu spüren bekommen."

    Das Volk hat die Nase voll – das Regime schlägt zurück. Mit Gummiknüppeln, Tränengas – und scharfer Munition – auf Befehl von ganz oben.

    Inmitten der blutigen Unruhen wendet sich Ben Ali noch einmal an sein Volk – ein letztes Mal. Macht Zugeständnisse, will bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten, die Pressezensur aufheben, die Gewalt beenden. Doch es ist zu spät. Die Tunesier glauben ihm nicht mehr. Noch am selben Tag verlässt Ben Ali Tunesien – nach 23 Jahren. Die Proteste dauern an, zehntausende Tunesier gehen auf die Straße. Es ist Tunesiens "Stunde Null".

    Nach Ben Alis Flucht ins saudi-arabische Exil übernimmt Premierminister Mohamed Ghannouchi die Amtsgeschäfte. Er verspricht einen Neuanfang, bildet eine Übergangsregierung. Doch am Kabinettstisch sitzen noch viele Vertreter der verhassten Ben-Ali-Partei RCD. Die Demonstrationen gehen weiter – die Tunesier wollen sich ihre Revolution nicht stehlen lassen.

    Und so schlagen sie ihre Zelte auf. Belagern die Kasbah, den Sitz von Premier Ghannouchi – trotz der nächtlichen Ausgangssperre. "Dégage" – "Weg mit Euch!" – das ist das Fanal der Demonstranten. Sie wollen den vollständigen Bruch mit der Vergangenheit.

    In Ghannouchis Übergangsregierung lichten sich die Reihen: Ein RCD-Minister nach dem anderen muss zurücktreten. Schließlich macht der Premier selbst den Weg frei für den 84-jährigen Beji Caid Essebsi, einen erfahrenen Politiker, der schon unter Ben Alis Vorgänger Bourguiba gedient hatte.

    Essebsi räumt auf, bildet eine neue Übergangsregierung, die frei ist von alten Kräften. Der letzte Innenminister der Ben-Ali-Zeit wird festgenommen, die Partei RCD wird aufgelöst, ebenso die gefürchtete Geheimpolizei, die Staatssicherheit Tunesiens. Ben Ali selbst wird in Abwesenheit der Prozess gemacht. Tunesien schlägt ein neues Kapitel auf.

    Doch die Herausforderungen sind gewaltig. Vor allem liegt die Wirtschaft am Boden. Ganz besonders betroffen ist der Tourismus.

    Doch die Menschen glauben wieder an ihr Land. Die Regierung bereitet Wahlen vor. Vorsichtiger, wachsamer Optimismus auch im Netz – bei den Bloggern und in den sozialen Netzwerken. Dort begleitet auch die 28-jährige Salma die Jasmin-Revolution:

    "Früher wollte ich um jeden Preis das Land verlassen, ins Ausland gehen, um zu studieren oder zu arbeiten. Jetzt möchte ich bleiben, um das Land wiederaufzubauen. Das ist ein großartiges Land, die Menschen sind einfach super. Ich bin dermaßen stolz, dass ich es gar nicht beschreiben kann. So ein Gefühl hatte ich noch nie."

    Es gibt Ereignisse, die treiben auch den Reportern die Tränen in die Augen. Ein solcher Tag ist der 23. Oktober 2011. Neun Monate nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes ist es so weit: Die Tunesier wählen eine verfassungsgebende Versammlung, ein neues Übergangsparlament. Echte Volksvertreter, die das Ende von 23 Jahren Ben Ali besiegeln und das Land in demokratische Bahnen lenken sollen.

    Mourad ist aufgeregt. Es ist 6:50 Uhr am Morgen. Das Wahlbüro macht erst in ein paar Minuten auf. Und doch steht er schon seit einer halben Stunde hier in der Schlange. Mit kleinen Augen und großen Hoffnungen.

    "Ich habe es kaum erwarten können, zu wählen. Es ist die erste Wahl meines Lebens. Man hat mich niemals nach meiner Meinung gefragt. Und wenn ich sie geäußert habe, wurde sie nicht beachtet. Die Urne ist für mich nicht nur eine Wahlurne. Es ist auch die Graburne des alten Regimes."

    Mourad hat eine Morgenzeitung dabei. Darauf steht in dicken Buchstaben: "Alle an die Urnen – eine Hymne an die Demokratie!" Und: "Ich wähle, also bin ich."

    Die Schlangen vor den Wahlbüros werden immer länger. Männer und Frauen, Junge und Alte – alle stehen sie an, bis zum Abend. Ruhig, diszipliniert, viele von ihnen lächeln. Eine feierliche Stimmung liegt in der Luft.

    Kamel Jendoubi, der Chef der unabhängigen Wahlkommission, kann das Ergebnis gar nicht mehr fertig verlesen. Die Menschen im Saal stehen auf, applaudieren, stimmen die Nationalhymne an. Wochenlang waren die Tunesier nervös, mussten bange auf das Resultat warten, nun endlich steht fest: Die erste freie Wahl in der Geschichte des Landes ist geschafft. Demokratische Feuertaufe: bestanden.

    Besonders feiern die gemäßigten Islamisten der Partei Ennahda. "Ennahda" heißt auf Deutsch "Wiedergeburt". Und genau das ist geschehen. Die Partei, die über Jahrzehnte in Tunesien verboten war, deren Anhänger inhaftiert und gefoltert wurden, hat aus dem Stand die allermeisten Stimmen eingefahren. Über 40 Prozent. Das bedeutet 89 von 217 Sitzen in der verfassungsgebenden Versammlung. Ennahda gibt sich große Mühe, Befürchtungen zu zerstreuen, die Islamisten wollten eine religiöse Agenda durchsetzen und individuelle Freiheiten beschneiden. Ennahda muss koalieren mit den linksliberalen Parteien CPR und Ettakatol. Sie waren bei den Wahlen auf dem zweiten und dritten Platz gelandet.

    Am 22. November ist es soweit: Das Parlament tritt erstmals zusammen. 217 Abgeordnete müssen dem Land eine Verfassung geben, das politische Führungspersonal bestimmen, ein neues Tunesien schaffen. Ein Jahr haben sie dafür Zeit, dann wird neu gewählt.

    Die Ära Ben Ali ist vorbei. Das zeigt sich schon am neuen Führungspersonal. Der Islamist Hamadi Jebali – neuer Regierungschef. Der Sozialdemokrat Mustapha Ben Jaafar – neuer Parlamentspräsident. Und der Bürgerrechtler Moncef Marzouki - neuer Staatspräsident.

    Marzouki saß für seine Überzeugungen in Tunesien im Gefängnis. In den letzten Jahren lebte er im Exil in Frankreich. Für den 66-Jährigen ist das Präsidentenamt die Krönung seines politischen Lebens. Auch wenn er weiß, dass das kommende Jahr kein Spaziergang wird:

    "Die größte Herausforderung ist der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Was den Schutz der Freiheiten angeht, besonders den Schutz der Frauenrechte, da herrscht breiter Konsens unter allen Beteiligten, auch bei den Islamisten. Aber beim Thema Wirtschaft müssen wir dringend Konzepte erarbeiten. Denn die Menschen im Land sind verständlicherweise sehr ungeduldig. Da stehen uns noch schwierige Zeiten bevor."

    Marzouki warnt davor, die gemäßigten Islamisten zu verteufeln. Deswegen hat sich seine Partei auch an der Regierung beteiligt, die von Islamisten geführt wird. Das hat ihm viel Kritik eingebracht. Doch er ist überzeugt: Wenn Tunesien zu einer dauerhaften Demokratie werden soll, dann dürfen politische Gruppen nicht ausgegrenzt werden.

    "Es geht mir darum, den Tunesiern ihre Würde zurückzugeben, dem Staat seine Legitimität, dem Volk seine Souveränität. Tunesien war bisher eine als Republik getarnte Monarchie. Und wir werden nun ein echtes demokratisches System aufbauen."

    Ein Land macht sich an die Arbeit. Es ist ein holpriger Weg in Richtung Demokratie. Viele Tunesier sagen: Wir haben keine Erfahrung mit der Demokratie, mit Debattenkultur, einem echten Wettbewerb der Ideen. Die neue Freiheit verwirrt, sie macht Angst, auch misstrauisch. Aber am Ende überwiegt doch der Stolz.

    Stolz auf das, was die Tunesier erreicht haben, was die Jugend erreicht hat. Menschenrechtlerin Souhair Belhassen:

    "Die Jugendlichen, die sich niemals ausleben konnten, die voller Elan sind, voller Kreativität, voller Großzügigkeit und Lebendigkeit. Sie waren es, die Tunesien vom Regime von Ben Ali befreit haben."
    Januar 2012. Ein Jahr nach Ben Ali. Die Wasserwerfer sind aus den Straßen von Tunis verschwunden, die rauchenden Autowracks auch, viele Hausbesitzer haben die Spuren des Befreiungskampfes weiß übertüncht. Doch Tunesien sei immer noch in einer "permanenten Revolution", sagt Präsident Marzouki. Den Jahrestag begehe man in "Freude und Schmerz". Damit spielt das Staatsoberhaupt auf die vielen Hundert Revolutionsopfer vom Januar 2011 an, aber auch auf die nach wie vor sehr schwierige wirtschaftliche Lage.

    Das hätte sich Präsident Marzouki wohl nicht erwartet, dass ihn eine wütende Menschenmenge ausbuhen und "dégage" schreien würde. Das berühmte "Hau ab", noch vor einem Jahr hatte es Diktator Ben Ali gegolten. Doch hier in Kasserine, im Süden Tunesiens, sind die Menschen enttäuscht von der neuen politischen Mannschaft aus Tunis. Vor dem Denkmal für die Märtyrer der Revolution dürfen Marzouki und der neue Premierminister Jebali noch einen Kranz niederlegen. Dann müssen sie ihren Besuch abbrechen.

    Auch das ist Tunesien, ein Jahr nach dem Sturz von Ben Ali. Demonstrationen, Sit-Ins, Streiks: Besonders im strukturschwachen Süden, in der Wiege der Revolution, ist viel Bitterkeit zu spüren. Viele Tunesier beklagen, dass es ihnen wirtschaftlich schlechter geht als vorher. Das neue Tunesien brauche Zeit, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Azzam Mahjoub. Zeit, und die richtigen Entscheidungen:

    "In Tunesien kann es Demokratie nur dann geben, wenn es auch Entwicklung gibt. Wenn die Menschen spüren, dass das Land auf dem richtigen Weg ist, dann werden sie ein wenig Geduld haben. Wenn sie aber merken, dass sich einfach nichts ändert, dann wird es schwierig."

    Doch die Verzweiflung ist vielerorts größer als die Geduld. Ein Teufelskreis, sagt Azzam Mahjoub: Landesweit sind 20 Prozent der Tunesier arbeitslos, junge, gut ausgebildete Akademiker finden keinen Job, der Tourismus ist eingebrochen, die Wirtschaft stagniert, die Investoren bleiben weg. Folgen der Finanzkrise, aber auch und vor allem Folgen der Revolution. Der hohe Preis für die Freiheit.
    Ein Jahr nach dem Tod des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi haben sich wieder Menschen mit Benzin übergossen und angezündet. Die Geschichte drohe, sich zu wiederholen, glauben die Pessimisten. Wegen der wirtschaftlichen Lage waren die Tunesier ja vor einem Jahr auf die Straße gegangen. Jetzt demonstrieren sie wieder, während die neue Regierung sich um stabile Verhältnisse bemüht. Verlässliche, demokratische Strukturen: Für Präsident Marzouki sind sie die wichtigste Voraussetzung, um die Revolution zu einem guten Ende zu führen, um die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen:

    "Es gibt Demonstrationen, aber das Land bewegt sich, trotz all der großen Probleme. Ich versuche, den Tunesiern klar zu machen, dass wir politische Stabilität brauchen, damit die Investoren zurückkommen. Und ich weiß, dass sie dazu bereit sind. Wenn aber die Menschen hier weiter diese unruhige Atmosphäre schüren, sägen sie sich am Ende selbst den Ast ab, auf dem sie sitzen!"
    Marzouki fordert seine Landsleute auf, Tunesien eine Verschnaufpause zu gönnen. Die brauche das Land dringend, sagt auch Michael Gahler, der Chef der EU-Wahlbeobachtermission. Denn Tunesien habe trotz aller Schwierigkeiten gute Chancen, besonders weil es sich als verlässlicher Partner in der Region präsentiere. Besonders Europa müsse nun seiner Verantwortung gerecht werden.

    "Natürlich, die Regierung ist mit ihren Aufgaben im Bereich Wirtschaft, Soziales, Bekämpfung von Terrorismus beschäftigt. Und da ist es wichtig, dass wir als Europäische Union unseren Beitrag leisten, der auch gewünscht ist."

    Ennahda-Ministerpräsident Jebali hat mehrfach betont, die Beziehungen zur EU weiter stärken zu wollen, obwohl sich viele Regierungen in Europa lange Jahre mit dem Ben-Ali-Regime gut arrangiert hatten. In Tunis geben sich die Europäer nun die Klinke in die Hand. Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle zeigt sich beeindruckt vom Fortschritt Tunesiens.

    "Hier merkt man, dass es nicht nur einen demokratischen Umbruch, sondern auch den festen Willen gibt, diese Demokratie auch zu verstetigen, daraus eine dauerhafte Entwicklung werden zu lassen. Wir werden uns in Europa auch daran gewöhnen müssen, dass es islamisch-demokratische Parteien gibt. So wie es in Europa christdemokratische Parteien gibt."

    Bei diesem Vergleich dürften einige in der CDU/CSU zusammenzucken. Entscheidend, so Westerwelle, sei aber, die Islamisten an ihren Taten zu messen. So sieht das auch die Bürgerrechtlerin Sihem Bensedrine. Sie gehörte zu Ben Alis lautesten Kritikern. Bei den vergangenen Wahlen hat sie selbst die Islamisten gewählt. Eine nicht besonders religiöse Intellektuelle aus Tunis:

    "Man muss sehen, was die Zukunft bringt. Das tunesische Volk wird wachsam sein, prüfen, ob die Wahlversprechen auch eingehalten werden. Es ist nicht schwer, wieder auf die Straße zu gehen und der Regierung klar zu machen, dass wir keine Revolution gemacht haben, damit uns das Erreichte wieder genommen wird."

    Das neue Tunesien: das große Experiment. Die erste Demokratie in einem arabischen Staat. Ein Muster in der arabischen Welt, ein Vorbild dafür, wie islamische Werte und demokratische Regeln ineinandergreifen können – so sieht Präsident Marzouki sein Land.

    Für ihn hat Tunesien eine Vorreiterrolle in der Region: Sein erster Staatsbesuch führte den neuen Präsidenten Anfang Januar nach Tripolis. Für Tunesien ist das Nachbarland Libyen der wichtigste Handelspartner. Aber auch die Beziehungen zu anderen Staaten werden auf eine neue Grundlage gestellt. Und Tunesien will sich einmischen: in Algerien, in Ägypten, in Syrien. Überall dort, wo die Demokratie noch einen weiten Weg vor sich hat.

    "Wenn sich das Volk erhebt, muss sich das Schicksal seinem Willen fügen", schreibt Abu al Qasim al Chebbi Anfang des 20. Jahrhunderts. Es ist der Text der tunesischen Nationalhymne. Tunesien hat sich erhoben, hat für die Demokratie gekämpft. Ein Kampf mit vielen Opfern und offenem Ausgang. Aber ein Kampf, der sich lohnt, weil das Volk sich seine Würde zurückerobert hat.