In der Hallenser Synagoge steht eine Jugendgruppe aus Haifa in Israel und singt die HaTikvah, die israelische Nationalhymne. Gekommen sind die etwa vierzig Mädchen und Jungen, um sich mit der Jüdischen Gemeinde in Halle solidarisch zu zeigen. Mittendrin: Rabbiner Elischa Portnoy. Noch immer stehe die Gemeinde unter Schock. Mehr noch, manchen Mitgliedern würde erst jetzt bewusst, erzählt der 42-jährige Rabbiner, was man für ein Glück gehabt habe, dass die Tür zur Synagoge gehalten habe. Und, dass man noch am Leben sei.
"Natürlich die Menschen, die hier waren, das hier alles erlebt haben, die verstehen nach und nach, was passiert ist, was für ein Wunder sie erlebt haben. Und was hätte passieren können. Manche können nicht schlafen, viele müssen erst klar kommen, viele müssen es noch verarbeiten, bevor sie sich erholen können."
Gemeindemitglieder sind erschöpft
Das werde dauern, prophezeit Rabbiner Elischa Portnoy. Er ist 1997 mit seinen Eltern aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Nachdem Elektrotechnikstudium an der TU Berlin hat er eine Rabbinerausbildung gemacht.
Aber er beobachte auch – sagt Portnoy noch – dass einige Gemeindemitglieder derart erschöpft sind, dass sie zunehmend darüber nachdenken, Halle beziehungsweise Deutschland zu verlassen, in Richtung USA oder Israel.
"Bei manchen: Ja. Andere warten die nächste Entwicklung ab, wie sich die Situation in Halle entwickelt."
Wer auswandern wolle, den könne man nicht aufhalten. Aber: Weglaufen, das helfe nicht, ergänzt Rabbiner Portnoy noch. Wenn Gemeindemitglieder auf ihn zukommen, ihn um Rat fragen, dann mache er ihnen deutlich, dass es Juden nirgends auf der Welt leicht haben. Aber: Jeder Mensch habe seinen Platz. Und unser Platz sei nun mal Halle, sagt der 42-jährige Rabbiner.
"Wenn mich jemand fragt, ob er auswandern sollte, dann würde ich nicht ja sagen. Ich würde sagen, du musst ganz gut überlegen, wo du bessere Chancen für das jüdische Leben hast. Wir haben hier eine gute Gemeinde, eine sehr gute Jugendarbeit, es gibt viele Aktivitäten für alle Altersgruppen. Und deshalb: Dass man nicht unbedingt irgendwo anders, was Besseres findet."
"Wir sind optimistisch, wir müssen das auch sein"
Es sind eher die Älteren, die jetzt daran denken, Deutschland zu verlassen. Anders die jungen Gemeindemitglieder, sie wollen definitiv bleiben. Noch zumindest. Eine von ihnen ist Nelly. Aus Angst möchte sie ihren Nachnamen nicht im Radio hören. Sie war damals in der Synagoge, als der Attentäter versuchte, einzudringen. Sie habe unter Todesangst gelitten, erzählt die 21-Jährige, die für die Kinderarbeit in der Gemeinde zuständig ist. Doch jetzt sei man – viel mehr als zuvor – zusammengerückt.
"Auf jeden Fall, den Schabbat nach dem Attentat sind alle Gemeindemitglieder, mit Freunden, Bekannten, Verwandten hergekommen", erzählt Nelly. "Wir machen alle Veranstaltungen, wie geplant. Wir sagen nichts ab. Natürlich hat es Spuren hinterlassen. Wir haben aber Hoffnung, wir sind optimistisch. Wir müssen das auch sein als jüdisches Volk nach der ganzen Geschichte, die wir erlebt haben. Wir müssen das auch sein."
Viel Anteilnahme nach dem Anschlag
Nachdem Max Privorozki, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" erstmals seine Gefühle offengelegt hat, dass er – nicht jetzt, vielleicht irgendwann – sich vorstellen könne, auszuwandern, brach ein Sturm antisemitischer Kommentare los. Weshalb die Medien, die das Interview aufgriffen – darunter der "Mitteldeutsche Rundfunk" und die "Mitteldeutsche Zeitung" - daraufhin allesamt ihre Kommentarspalten abgeschaltet haben.
"Also für uns ist das keine Überraschung."
Sagt Rabbiner Portnoy völlig nüchtern. Ganz im Gegenteil. Nach dem Anschlag hätte die jüdische Gemeinde viel Anteilnahme erfahren. Das wiederum könnten Antisemiten nicht verkraften.
"Es gibt weniger Gründe umzudenken. Ganz im Gegenteil: Es gibt noch mehr Gründe auf Juden neidisch zu sein und noch mehr Hass zu haben."
Lichterketten und nette Worte sind nicht genug
Auch Nelly ist überzeugt: Lichterketten und Mahnwachen seien schön und gut, sie würden zeigen, dass Juden nicht allein sind. Aber das reiche nicht aus. Es müsse sich etwas in den Köpfen der Menschen ändern. Nur: so ganz glaubt sie nicht daran.
"Das ist ein klares Zeichen, dass wir ein Problem in unserer Gesellschaft haben", sagt Nelly. "Solche Hassreden, solche Worte, die Menschen im Internet schreiben – ohne Verantwortung dafür zu übernehmen – deswegen ist es gut, dass solche Kommentarspalten abgestellt werden. Hass sollte keinen Weg in unsere Köpfe finden."
Nach dem Terroranschlag sei man zu schnell zur Tagesordnung übergegangen. Der Hass, er trete weiter offen zutage. Die Gemeinde aber dürfe sich davon nicht beeindrucken lassen. Ganz im Gegenteil, sagt Nelly noch, man müsse jetzt noch viel mehr Wert legen auf das Jüdisch-Sein.