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Die Jugend von heute

In den 1960er-Jahren schockierte der US-Fotograf und Regisseur Larry Clark mit seinen expliziten Bildern nackter Jugendlicher. Mancher Kritiker unterstellte ihm fotografische Pädophilie. Nun rückt die erste Ausstellung seiner Fotografien in Deutschland einige Legenden zurecht.

Von Carsten Probst | 29.05.2012
    Keine Frage, Larry Clark ist eine Legende. Aber wie alle Legenden ist auch die Geschichte seines Werkes hierzulande bislang etwas grob gestrickt. Das ist Larry Clark, der Skandalfotograf, der Jugendliche immer nur beim Sex und beim Hantieren mit Drogen fotografiert und am Ende auch noch selber mitmacht. Je nach Standpunkt gilt dieses Werk, das in den sechziger Jahren begann, als veraltet oder wird da und dort in die Nähe der fotografischen Pädophilie gerückt. Wie so oft ist es das Verdienst einer großen Retrospektive in der Berliner Fotogalerie c/o Berlin, dass sie die Legenden durchleuchtet, in lässiger Brillanz, ohne zu belehren.

    Natürlich gibt es hier auch die einschlägigen Ikonen zu sehen, die Schockerbilder der frühen Sechziger, bei denen man den Schock, den sie vor einen halben Jahrhundert nicht nur in der Fotografieszene auslösten, aus heutiger Sicht mitunter durchaus noch erspüren kann. Zum Beispiel dieses kleine Hochformat von 1973 mit dem verstörenden Titel "Brother and Sister". Verstörend deshalb, weil darauf ein nacktes Mädchen gefesselt auf einem Bett liegt, während ein nackter Junge mit erigiertem Penis neben ihr kniet und mit einer Pistole auf ihren Bauch zielt. Oder das nackte küssende Pärchen auf einem Sofa, das sich ganz versonnen am Geschlechtsteil des jeweils anderen zu schaffen macht. Oder die drei nackten Jugendlichen, fast noch Kinder, bei denen sich das Mädchen in der Mitte gerade einen Schuss setzt. Der Grund, weshalb heutzutage keine Protestaufmärsche vor dem Ausstellungsort mehr stattfinden, liegt auch daran, dass Larry Clarks Bildsprache heute mittlerweile so geläufig erscheint. Er verringert die Distanz zu seinen Protagonisten, er beobachtet sie nicht, sondern scheint mit seiner Kamera inmitten des Geschehens zu sein und gar nicht aufzufallen. Die Fotografie wirkt nicht wie für ein breiteres Publikum inszeniert, sondern, als befänden sich die Protagonisten in einer persönlichen, intimen Zwiesprache mit dem Fotografen selbst und würden ihn dabei manchmal völlig vergessen.

    In den sechziger und siebziger Jahren aber stellte das, was mit den fotografischen Selbstdarstellungen in den Social Networks wie Facebook oder YouTube so selbstverständlich erscheint, eine ganze Fotophilosophie auf den Kopf. Soziale Fotografie bedeutete damals noch immer für die dokumentarische Fotografen die Verpflichtung zur objektiven Darstellung von Realität. Wie schon in der Street Photography etwa eines Robert Frank drehte Larry Clark das Verhältnis von Fotografie und Realität um: Nicht mehr das, was auch dem Bild zu sehen war, war das Reale, sondern das, was der Betrachter darin sah. Insofern wirken Larry Clarks Bilder emotions- oder keineswegs teilnahmslos, sie tragen keinerlei Erregung, weder moralischer noch sexueller Natur, in sich. Sie adaptieren aber zugleich eine Normalität, die die Normalität der jugendlichen Protagonisten ist. Eigentlich sind diese Fotos damals nur dadurch zu Skandalen geworden, dass sie es für Larry Clark augenscheinlich nicht waren.

    Aber was macht diese Bilder heute aus? Abgesehen davon, das Drogen und Sex unter Jugendlichen ebenso aktuell wie Teil der Normalität sind, scheinen viele von Larry Clarks Verdiensten in der Vergangenheit zu liegen. Jock Sturges oder Wolfgang Tilmans und überhaupt eine ganze Generation von Fotografen der achtziger und neunziger Jahre haben von Clarks Vorreiterrolle profitiert. Aber es ist immer noch der narrative Ansatz in Clarks Bildsprache, seine Fähigkeit, soziale Rolle und individuelles, körperbetontes Portrait seiner Protagonisten so intim miteinander zu verschmelzen, dass sein Werk heute noch seine Wirkung tut, auch jenseits vom sexuellen oder Drogentabu.

    In seinen inzwischen farbig fotografierten Serien aus Los Angeles thematisiert Clark Lebensläufe als Bildergeschichten, die er in Buchform genreübergreifend kollagiert und so zugleich den absoluten Wahrheitsgehalt des Einzelbildes relativiert. Gleichzeitig thematisiert er damit eigene Jugenderfahrungen. So wird ein Jugendlicher namens Jonathan Velazquez über Jahre in seinen Aktivitäten und Selbstdarstellungen vor der Kamera verfolgt, das Gesicht begleitet den Betrachter durch verschiedene Rollen und Selbstinterpretationen, in denen sich am Ende der Betrachter selbst begegnet. Zugleich kontrastiert er diese Spiegelfunktion mit den öffentlichen Inszenierungen von Adoleszenz in der Werbung und im Film und lässt das eine mit dem anderen zugleich in merkwürdige unverwandte Reaktionen treten. Der junge Matt Dillon mit nacktem Oberkörper auf einem Fanposter wirkt unerreichbar, trotz aller fotografischen Inszenierung als Junge von Nebenan. Jonathan Velazquez, der unbekannte Junge aus LA, inszeniert sich ständig und wirkt dadurch um so näher, umso vertrauter. Das verdankt er Larry Clark.


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