Die Nacht zum 21. Juli 1969: Neil Armstrong betritt als erster Mensch den Mond. Seine Worte sind unvergessen: Ein Riesensprung für die Menschheit – und ein persönlicher Triumph für Wernher von Braun:
"Für mich ist die erfolgreiche Landung unserer Apolo 11-Astronauten natürlich die Erfüllung eines Ziels, für das wir schließlich mehr als vier Jahrzehnte gearbeitet haben."
Von Braun gilt vielen als Chefkonstrukteur der Saturn-V-Rakete, die die Menschen zum Mond gebracht hat. Er besticht mit seiner Eloquenz und seinem Charme. Die Öffentlichkeit liegt ihm auf beiden Seiten des Atlantiks zu Füßen. Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Rainer Eisfeld:
"Die Begeisterung über den Flug zum Mond sollte uns nicht das Leid vergessen lassen, das, um diesen Flug zu ermöglichen, auf der Erde geschehen ist."
Wernher von Braun und über hundert Mitarbeiter in seinem Team eint eine Vergangenheit im Dritten Reich. Der Mondflug hat seine barbarischen Wurzeln im Rüstungsprojekt der V2-Rakete.
"Ich kann dazu nur sagen, rückblickend, dass ich nichts anderes getan habe als was Millionen anderer Deutscher getan haben, die, als ihr Land im Krieg war, ihre Pflicht getan haben, nämlich dass sie ihre Fähigkeiten eingesetzt haben, bei dem Versuch, ihrem Land zu helfen, den Krieg zu gewinnen. Ein Ingenieur im Krieg ist Soldat. An dieser Auffassung hat sich bei mir nichts geändert."
Berlin, Ende der 1920er Jahre. Es herrscht "Raketenrummel". Angeregt durch ein populäres Buch des Physikers Hermann Oberth und Fritz Langs Film "Frau im Mond" ist die Raumfahrt in aller Munde. Zu Showzwecken rasen von Pulverraketen angetriebene Autos über die Avus-Autobahn. Christopher Lauer:
"Es gab Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre in Berlin, heute würde man sagen, eine Startup-Szene. Es gab Leute, die haben an Raketen gebastelt und versucht welche zu entwickeln, insbesondere Flüssigkeitsraketen, die also mit flüssigen Brennstoffen betrieben werden."
Jede freie Minute bei den Raketenbastlern
Auch Wernher von Braun packt das Raketenfieber. Jahrzehnte später erinnert er sich in einem Interview.
"Gleich nach dem Abitur wandte ich mich an den Raketenschriftsteller Willy Ley, der mit Oberth damals Verbindung hatte, und sagte ihm, ich würde gerne Oberth kennenlernen und helfen, wie auch immer ein Abiturient so einem Mann helfen kann. Das hat dann der Willy Ley arrangiert und ich habe dann Oberth tatsächlich im Jahr 1930 bei seinen allerersten Versuchen in der Chemisch-Technischen Reichsanstalt in Plötzensee bei Berlin helfen können."
Wernher von Braun verbringt jede freie Minute bei den Bastlern auf dem "Raketen-Flugplatz" Berlin-Tegel. Die Gruppe experimentiert mit kleinen Triebwerken und baut Raketen, die mehr als tausend Meter hoch fliegen. Christopher Lauer:
"Dann wurde er, so die Legende, von der Reichswehr entdeckt. Die hat ihn sofort eingestellt und dann sofort zum Chef der gesamten Raketenentwicklung, erst der Reichswehr gemacht und später natürlich der Wehrmacht, weil Wernher von Braun ein total genialer Typ war. Danach quasi, weil die Amerikaner auch gesehen haben, was für ein genialer Typ er war, ist er sofort in die USA gegangen und hat natürlich dort auch wieder Raketen entwickelt, ist zur NASA und hat die größte Rakete entwickelt, die es bis dahin gab, die Saturn-Rakete. So ungefähr lautet die Legende."
Die Geschichte vom kometenhaften Aufstieg des Raumfahrtenthusiasten, der quasi im Alleingang die Menschheit zum Mond bugsiert hat, ist schön – zu schön, um wahr zu sein. Christopher Lauer:
"Die Wernher-von-Braun-Forschung, das hat mich sehr irritiert, weil ich dachte, Wernher von Braun, großer Name, da gibt es sicher viel Literatur dazu, ist nicht besonders breit."
Christopher Lauer studiert an der Technischen Universität Berlin Wissenschafts- und Technikgeschichte. Für seine Bachelor-und derzeit für seine Master-Arbeit sichtet er Dokumente im Bundesarchiv und in den Sammlungen der Berliner Universitäten. Wie sich zeigt, war der Werdegang Wernher von Brauns deutlich anders als meist dargestellt. Unter anderem in einer autorisierten Biografie aus dem Jahr 1969 behauptete von Braun, er sei 1932 – im Alter von nur zwanzig Jahren – zum Leiter der Forschungsstelle des Heereswaffenamts gegangen und habe ihn "in einem langen Gespräch" vom Sinn der Raketenexperimente überzeugt. Wernher von Braun selbst hat zeitlebens den Mythos vom brillanten Wunderkind gepflegt.
"Ich habe später zunächst an der Technischen Hochschule mein Vorexamen in Maschinenbau gemacht, im Jahr 1932. Dann bin ich zur Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin umgestiegen und dort habe ich 1934 den Doktor der Philosophie in Physik gemacht."
Schlechte Noten, aber besessen vom "Raketenkrempel"
Die historische Wahrheit sieht anders aus. Tatsächlich bricht von Braun sein Maschinenbau-Studium ab und beginnt stattdessen ein Physik-Studium an der Universität. Das Vordiplom besteht er mit der schlechtest möglichen Note. In keinem der zehn Prüfungsfächer gibt es ein Sehr Gut, in drei Fächern lautet die Note sogar nur "genügend", und das ausgerechnet in Höherer Mathematik und Darstellender Geometrie – zwei Disziplinen, deren Beherrschung Voraussetzung für das Arbeiten als Ingenieur ist. Christopher Lauer:
"Es ist tatsächlich so, dass Wernher von Braun eine Rakete konstruiert hat, das Aggregat 1. Diese Rakete Aggregat 1, die er gebaut hat, war nicht funktionstüchtig. Die ist ein Konstruktionsfehler gewesen."
Vier Triebwerke dieses Typs werden gebaut, allerdings nur nach Handskizzen. Alle vier explodieren bei Versuchen auf dem Teststand. Dennoch bekommt er – formal noch ungelernt – 1932 eine Anstellung bei der Reichswehr. An der fachlichen Expertise kann es kaum liegen – viele Raketenbauer in seinem Umfeld sind deutlich begabter. Vielleicht helfen die guten Kontakte seines Vaters: Magnus von Braun ist zum Ende der Weimarer Republik Reichsminister für Landwirtschaft und Ernährung im Kabinett von Franz von Papen. Bei einem Herrenabend der Reichswehr trifft von Brauns Vater Ernst Ritter von Horstig. Der ist Chef der Abteilung für Ballistik und Munition im Heereswaffenamt Prüfwesen und beide kommen ins Gespräch, wie aus Aufzeichnungen Horstigs im Bundesarchiv hervorgeht. Christopher Lauer:
"Ernst von Horstig spricht Magnus von Braun an, ob er mit Wernher von Braun verwandt sei, der Raketenforschung macht. Dann, so zitiert es Ernst Horstig, war Magnus von Braun sehr ungehalten, hat sich aufgeregt, dass sich sein Sohn für diesen Raketenkrempel interessiert und nicht loszueisen sei von diesem Raketenfritzen. Man wolle, dass Wernher von Braun eine ordentliche Universitätsausbildung bekommt, aber im Moment sei das schwer. Denn der Sohn interessiere sich nur für dieses komische Zeugs."
Man kommt überein, dass sich der junge Mann mal im Amt vorstellen solle. Das tut er. Prompt bekommt er eine Anstellung und auch die Möglichkeit eine Doktorarbeit zu schreiben. Die allerdings ist in weiten Teilen eher ein Plagiat. Christopher Lauer:
"Wernher von Braun hat in dieser Dissertation teilweise ganze Kapitel dem Sinn nach abgeschrieben aus zum Beispiel einer Publikation, die nannte sich "Die Rakete". Das war eine Raketenzeitschrift, die zwischen 1927 und 1929 erschienen ist. Wernher von Braun schreibt da aus einem fünf Jahre alten Aufsatz viele Formeln ab und fügt dem Ganzen nichts Neues hinzu."
An anderer Stelle übernimmt er seitenweise Passagen aus Lehrbüchern etwa über Dampfmaschinen, die damals schon zehn Jahre alt sind. Und in seiner Abhandlung unter dem sehr allgemein formulierten Titel "Über Brennversuche" fehlen fast völlig eigene wissenschaftliche und technische Ideen. Vor allem enthält sie keine konkreten Daten der Versuchsreihen, die nur mit Fotos und nicht durch Konstruktionszeichnungen dokumentiert sind. Christopher Lauer:
"Die Dissertation von Wernher von Braun können Sie nicht nachrechnen. Dann kommen Leute, und sagen, ja, das war damals alles geheim. Ja, das war alles geheim. Aber wir sehen an Kurt Warmke, dass auch eine geheime Arbeit Dinge enthalten konnte, die man später noch nutzen konnte."
Wie bei Arbeiten aus dem militärischen Umfeld üblich, bleibt die Dissertation damals unter Verschluss. Das heißt aber nicht, dass sie fachlich dünn sein muss. Andere Arbeiten von Mitgliedern der Raketengruppe genügen durchaus hohen wissenschaftlichen Ansprüchen. Christopher Lauer:
"Daher sieht es für mich so aus, dass Wernher von Braun über die Verbindungen seines Vaters in die Reichswehr gerutscht ist, dass er mit Sicherheit eine charismatische Persönlichkeit war, einen charismatischen Führungsstil hatte, und dass er auch in der Lage war, Leute dazu zu bekommen, das zu tun, was er von ihnen wollte. Aber ich glaube nicht, dass Wernher von Braun in irgendeiner Weise ein besonderer Wissenschaftler oder Ingenieur war, der aufgrund seiner Fachkenntnis diesem ganzen Raketenthema irgendetwas beigesteuert hat."
Verborgene Versuche in Peenemünde
Auch ohne großartige Doktorarbeit macht der junge Mann Karriere. Für das Heereswaffenamt Prüfwesen bewertet er die Vorschläge anderer Raketenbauer. 1937 wechselt das ganze Team auf das neue Versuchsgelände in Peenemünde auf der Insel Usedom. Die militärisch sensiblen Arbeiten sollen eher im Verborgenen erfolgen, zudem ist die nahe Ostsee ein ideales Zielgebiet für Raketenversuche. Wernher von Braun, damals erst 25 Jahre alt, wird technischer Leiter dieser Einrichtung und leitet ein großes Team, das die theoretischen und technischen Probleme angeht, etwa die Lageregelung und Steuerung der Raketen. Eines ist allerdings klar: Es geht nicht um Raumfahrt und Mond, es geht um Rüstung und Bomben.
"Es ist ja immer so im Kriege, wenn die Dringlichkeiten hinter einem solchen Vorhaben stehen, sind plötzlich ungeheure Gelder und auch personelle Hilfsmittel verfügbar. Geld spielt plötzlich keine Rolle mehr. Auf der anderen Seite will das Militär natürlich ganz bestimmte Sachen haben. Die wollen nicht zum Mond fliegen, die wollen eine Fernrakete haben, die so viel Sprengstoff von Punkt A nach B tragen kann. Damit engt man seine Ziele natürlich etwas ein."
Es war ein Teufelspakt, heißt es. Wernher von Braun und andere Raumfahrtbegeisterte hätten sich – womöglich etwas naiv – mit dem NS-Regime eingelassen, weil sie nur so ihren Traum von Weltraummissionen umsetzen konnten. Doch wie viel Mondflug er damals selber will, ist unklar. In jedem Fall organisiert Wernher von Braun sehr effizient seinen Stab zur Raketenentwicklung in Peenemünde. Ende 1942 fliegt Aggregrat-4, bald V2 genannt, Vergeltungswaffe 2, erstmals bis an den Rand des Weltraums und stürzt zurück in die Ostsee – es ist die Geburtsstunde der Raumfahrt. Dass die Rakete vor allem eine schnelle Waffe ist, berührt das Peenemünder Team offenbar nicht.
"Das große Problem liegt darin, dass gewöhnlich die friedliche der Zivilisation dienende Anwendung einer neuen Entwicklung, ob das nun Atomenergie, Raketentechnik oder Fliegerei ist, spielt gar keine Rolle, so eng durchflochten ist mit ihrer möglichen militärischen Anwendung, dass es kaum möglich ist, zu sagen, das eine darf man machen und das andere darf man nicht machen, weil derjenige, der an der eigentlichen Arbeit saß, kaum die Linie ziehen kann."
Zwangsarbeiter aus Konzentrationslagern
Mit dem Anlaufen der Serienproduktion zieht das Raketenteam ganz andere Linien. Zunächst werden 800 KZ-Häftlinge in Peenemünde interniert. Später entsteht bei Nordhausen am Harz das Mittelwerk. Die in den Berg gesprengten Stollen bilden die damals weltweit größte unterirdische Fabrik. Der größte Teil der Arbeitskräfte, die die Raketen bauen müssen, sind Häftlinge des eigens dafür errichteten Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, erklärt Rainer Eisfeld. Der Professor für Politwissenschaft an der Universität Osnabrück ist inzwischen im Ruhestand und hat die viel beachtete Biografie "Mondsüchtig" über Wernher von Braun verfasst:
"Die Zahlen allein: 60.000 Häftlinge etwa haben das KZ Mittelbau-Dora durchlaufen. Von ihnen sind, genaue Schätzungen sind schwierig, etwa 15.000 bis 20.000 den Produktionsbedingungen zum Opfer gefallen. Die Zahlen und das Alter in dem sie umgekommen sind, ein großer Teil war unter 30, ein weiter Teil unter 40, sprechen für sich."
Die Häftlinge starben an Tuberkulose, Lungenentzündung und völliger Auszehrung. Sie wurden von den Wachmannschaften erschlagen, gehenkt und erschossen. Die V2 ist vermutlich die einzige Waffe der Welt, bei deren Herstellung mehr Menschen zu Tode gekommen sind als durch deren Einsatz. Beim Beschuss von London, Antwerpen und anderen Zielen soll es knapp 10.000 Opfer gegeben haben. Dass die Raketenwaffen von Häftlingen hergestellt werden, ist Wernher von Braun wohl bekannt. In einem Brief von 1944 berichtet er vom Besuch im KZ Buchenwald:
"Ich bin auf ihren Vorschlag sofort eingegangen, habe mir gemeinsam mit Doktor Simon in Buchenwald einige geeignete Häftlinge ausgesucht und ihre Versetzung ins Mittelwerk erwirkt.
Mit herzlichem Gruß und Heil Hitler, Ihr ergebener Wernher von Braun"
Mit herzlichem Gruß und Heil Hitler, Ihr ergebener Wernher von Braun"
Rainer Eisfeld:
"Dieser Prozess, der ihn selber zur Mitwirkung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit bringt, der lässt sich anhand der Dokumente heute sehr gut nachvollziehen. Von Braun selbst und zahlreiche andere Ingenieure und Publizisten in ihrem Gefolge haben sich große Mühe gegeben, Peenemünde lange als eine heile Welt der Wissenschaft zu schildern, getrennt von dem Sklavenstaat, den die SS, so die Terminologie, in Mittelbau-Dora und Mittelwerk errichtet hat. Man wollte nur für die Entwicklung zuständig gewesen sein und nicht für die Produktion. Dieses Bild war drastisch geschönt."
Denn bei der Herstellung der Raketen sind viele Mitarbeiter aus Peenemünde beteiligt. Die ganze Anlage steht unter der Leitung von Arthur Rudolph, der zuvor auch schon auf Usedom eine führende Position bekleidet hat. Auch Wernher von Braun hat mit den Häftlingen unter Tage mehr zu tun als er jemals zugegeben hat. Rainer Eisfeld:
"Er hat zunächst einmal nicht erwähnt, und in seinem Gefolge auch seine Biografen nicht, dass er außer seiner Tätigkeit als Entwicklungschef in Peenemünde noch eine zweite Funktion hatte. In dem Koordinationsausschuss, den Albert Speer als Rüstungsminister eingerichtet hatte, um die notwendigen Rohstoffe, Materialien und Arbeitskräfte für die Serienfertigung der V2 zu beschaffen, leitete er den Arbeitsausschuss Endabnahme. Und in dieser Funktion war er auch zuständig für Fragen des Häftlingseinsatzes."
Sein Flugtagebuch belegt über ein Dutzend Reisen ins Mittelwerk – angeblich immer nur aus technischen Gründen. Wernher von Braun behauptete stets, er habe nie einen Toten gesehen und er sei auch nie Zeuge von Misshandlungen geworden. Der Zustand der Häftlinge aber bleibt ihm nicht verborgen. Rainer Eisfeld:
"Er kannte die Verhältnisse. Und sehr viel später hat er dann zugegeben, ja ich habe diese, und er hat dann durchaus mitfühlende Worte gefunden, diese Hungergestalten gesehen, die eines aufrechten Mannes unwürdig waren. Aber, so seine Behauptung immer durchweg: Ich hatte nichts damit zu tun. Ich konnte nichts machen."
"Karlshagen, den 12. November 1943.
An den Direktor des Sonderausschusses A4
Geheime Kommandosache!
Sehr geehrter Herr Degenkolb!
Im Hinblick auf die Schwierigkeit der dort erfolgenden Prüfgänge dürfte ein Zahlenverhältnis von Häftlingen zu deutschen Fachkräften von 2:1 auf absehbare Zeit nicht zu unterschreiten sein. Die Zahl von 60 deutschen Kräften plus 120 Häftlinge für Vorwerk Mitte gilt jedoch ohne Spritzstände. Heil Hitler! Wernher von Braun"
An den Direktor des Sonderausschusses A4
Geheime Kommandosache!
Sehr geehrter Herr Degenkolb!
Im Hinblick auf die Schwierigkeit der dort erfolgenden Prüfgänge dürfte ein Zahlenverhältnis von Häftlingen zu deutschen Fachkräften von 2:1 auf absehbare Zeit nicht zu unterschreiten sein. Die Zahl von 60 deutschen Kräften plus 120 Häftlinge für Vorwerk Mitte gilt jedoch ohne Spritzstände. Heil Hitler! Wernher von Braun"
Schriftstücke im Bundesarchiv belegen, wie viel Wernher von Braun mit den Häftlingen zu tun hatte. Das "Anfordern" von Häftlingen für die Produktion war ihm jedenfalls sehr wohl möglich.
Die Alliierten wollen das Knowhow
Als jedem klar ist, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist, fliehen die Peenemünder vor den russischen Truppen zunächst in den Harz, später dann nach Bayern. Dort begibt sich Wernher von Braun mit seinem Gefolge gezielt in amerikanische Gefangenschaft.
"Zuletzt bin ich gelandet in einem Lager für Wissenschaftler und zwar ausschließlich damals V2-Leute in Garmisch. Da haben wir die ersten amerikanischen Wissenschaftler kennengelernt und sind schnell in tiefe Fachgespräche versunken mit denen, die nun wissen wollten, wie dieses und jenes bei der V2 gemacht worden war. Und aus dieser Geschichte ergab sich ein Vertragsangebot, zunächst für ein Jahr nach Amerika zu gehen."
Eine Situation, in der der Organisator der Raketenforschung, der Manager eines großen Rüstungsprojekts, zeigen kann, was in ihm steckt. Der Vertreter des gerade besiegten Deutschen Reichs "verhandelt" mit den Siegern. Zuvor hat er tonnenweise Dokumente in einem Bergwerk versteckt und spielt diesen Trumpf nun aus. Schließlich sammelt die US-Armee alle Dokumente und verfügbaren Raketen aus dem Mittelwerk und schafft das gesamte Material über den Atlantik. Die systematische Vernichtung der KZ-Häftlinge ist zwar durchaus bekannt, doch im beginnenden Kalten Krieg mit der Sowjetunion spielt dieser Umstand keine allzu große Rolle, erläutert Rainer Eisfeld.
"Am Ausgangspunkt steht die Übereinkunft der westlichen Alliierten, anstelle finanzieller Reparationen wie nach dem Ersten Weltkrieg sogenannte intellektuelle Reparationen von den Deutschen zu verlangen. Das heißt, man wollte wissenschaftliches Knowhow, technisches Knowhow für wirtschaftliche und militärische Zwecke nutzen."
Enttäuschende Anfänge in den USA
Kurz nach dem Krieg verfügt US-Präsident Harry Truman in einer Direktive, dass die bis dahin bestehenden Einschränkungen für die Einbürgerung wegfallen sollten. Die deutschen Raketenbauer haben nun eine neue Heimat – doch dort geht es für sie keineswegs nahtlos weiter.
Rainer Eisfeld:
"Die gesamten Peenemünder Konstrukteure sind zunächst erst einmal gewissermaßen auf Eis gelegt worden, in Fort Bliss, in Texas nahe dem Raketenversuchsgelände White Sands. Man ist damit beschäftigt gewesen, ehemalige V2-Raketen zusammenzubauen und zu starten, häufig mit meteorologischer Nutzlast und dergleichen mehr."
So enttäuschend die Anfänge in den USA für Wernher von Braun und sein Team auch verlaufen - eine Alternative haben sie nicht. Rainer Eisfeld:
"Eine Änderung ist erst eingetreten mit dem Koreakrieg 1950. Der hat dazu geführt, dass in Huntsville, Alabama, die bestehenden Versuchsanlagen der Armee für ferngelenkte Geschosse ausgebaut wurden und Wernher von Braun zum technischen Direktor der Raketenentwicklung gemacht wurde."
Popstar der Raumfahrt
Mit einem Mal machen die Peenemünder Konstrukteure wieder das, was sie schon in Deutschland gemacht haben. Sie stellen Waffen her. Zunächst baut die Gruppe die Kurzstreckenrakete Redstone, eine weiter entwickelte V2 mit Atomsprengkopf, später das Mittelstreckengeschoss Jupiter. Vom Mond ist auch in den USA noch lange nicht die Rede, wohl aber träumen viele von Satelliten, die die Erde umkreisen sollten. Wernher von Braun, dessen deutsche Vergangenheit bekannt ist, aber keine Rolle spielt, arbeitet vor allem an der Popularisierung der Raumfahrt, schildert Christopher Lauer.
"Wernher von Braun war dann sehr viel in der Öffentlichkeit. Er hatte mit Walt Disney eine Fernsehserie gemacht, wo er den Weltraum popularisiert hat. Er hat eine große Reihe im Collier's Magazin gemacht, das war eine bunte Illustrierte, wo er auch über Raumfahrt berichtet hat. Er war eine Person des öffentlichen Lebens. Er verkehrte auch mit Regierungsmitgliedern, war gut vernetzt in der amerikanischen Politik."
Am 4. Oktober 1957 ist der designierte Verteidigungsminister Neil McElroy zu Besuch bei Wernher von Braun in Huntsville. Just an jenem Tag startet die Sowjetunion Sputnik, den ersten Satelliten. Während das nerv tötende Sputnik-Piepsen um die Welt geht, bedrängt Wernher von Braun Neil McElroy, ihn endlich seine Projekte frei durchführen zu lassen. Man hätte, so behauptet er, schon ein Jahr zuvor fertig sein können. Er verspricht, binnen sechzig Tagen einen Satelliten zu starten. McElroy muss seine Vereidigung wenige Tage später abwarten. Dann schickt er ein knappes Telegramm.
"Legen Sie los!"
Das Pech des konkurrierenden Raketenteams der US-Marine wird zum Glück für Wernher von Braun. Im Dezember 1957 explodiert die Vanguard-Rakete der Marine Sekunden nach dem Start – die ganze Welt sieht, wie sehr die Amerikaner hinter den Russen zurückliegen. Ende Januar 1958 hebt dann Explorer-1 ab, der erste US-Satellit. Er fliegt mit einer Jupiter-C-Rakete ins All, einer modifizierten Atomrakete aus Huntsville. Damit wird von Braun endgültig der "Raumfahrt-Held" – fast zu einem Popstar auf beiden Seiten des Atlantiks. Christopher Lauer:
"Weil, ich glaube, Wernher von Braun im Nachkriegsdeutschland natürlich eine Funktion erfüllt. Der Spiegel nannte ihn den Raketen-Beau, der Columbus des Weltalls. Das war so schon ein bisschen "unser Mann in Hollywood". Dieses "Es war nicht alles schlecht im Dritten Reich" und jetzt zeigt ein deutscher Ingenieur den USA, wie man das mit der Raumfahrt macht. Das schwang da ganz klar mit."
Die Schatten der Vergangenheit
1960 wird das Raketenzentrum in Huntsville Teil der neu gegründeten NASA – und ein Jahr später gibt US-Präsident John F. Kennedy den Mond als Ziel vor. Nach 28 Jahren militärischer Arbeit ist Wernher von Braun für eine zivile Behörde tätig – und baut endlich eine Mondrakete.
Seine Vergangenheit in der Waffenentwicklung holt ihn dennoch ein. Überlebende Häftlinge des Mittelwerks erheben schwere Vorwürfe. Er weicht aus und bezeichnet Kritik an der militärischen Nutzung der Raketen als unfair – wofür 1965 der Physiker und Songwriter Tom Lehrer nur beißenden Spott übrig hat.
"Er ist ein Mann, dessen Staatstreue sich nach der Zweckmäßigkeit richtet. Wenn man ihn Nazi nennt, runzelt er nicht mal die Stirn
Wernher von Braun: "Sie haben dasselbe Problem bei einem ganz gewöhnlichen Küchenmesser. Mit einem Küchenmesser können sie ein Stück Fleisch schneiden, was sie aufessen. Aber sie können damit auch einen Menschen umbringen."
"Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, ein Küchenmesser zu bauen ist unmoralisch, weil es als eine Mordwaffe verwendet werden kann, können wir zurück in die Höhlen kriechen. So geht das einfach nicht."
Wenn die Raketen erst gestartet sind, wen kümmert es, wo sie einschlagen? Dafür bin ich nicht zuständig, sagt Wernher von Braun:
"Wir müssen uns darüber klar sein, dass der Unterschied, ob sie mit einem Küchenmesser einen Menschen umbringen oder es dafür benutzen, sich ein Stück Fleisch zum Essen abzuschneiden, einfach von ihren moralischen Grundhaltungen abhängt und gar nichts anderem."
"Das gilt für Atombomben und Raketen genauso wie für ein Küchenmesser."
Einmal aber werden die Schatten der Vergangenheit bedrohlich lang. Ausgerechnet während der intensivsten Arbeit am Mondprogramm findet in Essen ein Prozess gegen drei Männer der Wachmannschaft des KZ Mittelbau-Dora statt. Dort waren die Häftlinge für die V2-Zwangsarbeit untergebracht. Wernher von Braun und Walter Dornberger, der frühere Kommandeur der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, müssen als Zeugen aussagen. Allerdings dringen sie darauf, einem öffentlichen Auftritt in Deutschland zu entgehen. Von Braun macht seine Aussage am 4. Februar 1969 – nicht einmal ein halbes Jahr vor dem Flug von Apollo 11 – im deutschen Generalkonsulat in New Orleans. Dornberger leistet in Bezug auf die KZ-Häftlinge in Peenemünde einen glatten Meineid.
"Sollen wir Heutigen unsere Arbeiten zur Erschließung des Weltraums einstellen, weil Raketen, wie Flugzeuge, auch militärisch eingesetzt werden können?"
Der Rest ist schnell erzählt. Nach der Mondlandung wechselt Wernher von Braun in die NASA-Zentrale nach Washington. Dort hat er kaum noch Einfluss, die NASA reduziert das Raumfahrtprogramm drastisch und so nimmt Wernher von Braun bald eine Stelle in der Privatwirtschaft an. 1977 erliegt er einem Krebsleiden. Er erlebt nicht mehr, dass Anfang der 80er Jahre eine spezielle Einheit des Justizministeriums nach NS-Verbrechern sucht, die sich durch falsche Angaben ihre Einbürgerung in die USA erschlichen haben. Dabei, erklärt Rainer Eisfeld, gerät Arthur Rudolph in den Fokus der Ermittlungen. Rainer Eisfeld:
"1982 ist ihm die Frage gestellt worden, ob er in seiner Funktion als Betriebsdirektor des unterirdischen Mittelwerks weitere KZ-Häftlinge anfordern konnte. Ja, das hat er zum ersten Mal zugegeben. 37 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Yes, I did, ja das habe ich getan. Dann ist ihm die Absicht des Justizministeriums eröffnet worden, gegen ihn ein Verfahren zur Ausbürgerung einzuleiten."
Was hätten wir getan? Nachgeborenen steht kein Urteil zu
Arthur Rudolph kommt dem durch den Umzug nach Deutschland zuvor. Er versucht, das Einreiseverbot in die USA über den Umweg Kanada zu umgehen, wird aber gestellt und klagt dagegen. Rainer Eisfeld:
"Dann hat ein Bundesgericht die Zurückweisung bestätigt mit der Feststellung, er sei nach seinen eigenen Angaben in Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt gewesen. Und ich denke, dieses Gerichtsurteil, das im Falle Arthur Rudolphs existiert, liefert auch einen Maßstab, um Wernher von Braun zu beurteilen, der – wie gesagt – sukzessive von der Empfehlung vorhandene Häftlinge weiter einzusetzen, über die Berechnung von Häftlingszahlen bis zur persönlichen Auswahl von Häftlingen ebenfalls in dieses Sklavenarbeitsprogramm verwickelt worden ist."
Niemand, der nicht selbst dabei war, kann sagen, wie er sich in Peenemünde, im Mittelwerk oder später in den USA verhalten hätte. Da steht Nachgeborenen kein Urteil zu. Doch die bis heute gern gepflegte Hochglanzlegende des unbekümmerten Weltraumfans, der nur aufgrund widriger Zeitläufte ins NS-Regime verstrickt wurde, ist längst widerlegt. Leider hat sich Wernher von Braun nie öffentlich zu seiner inneren Haltung im Dritten Reich und seinem Mitwirken am Zwangsarbeitersystem geäußert.
"Vielleicht sollte man an dieser Stelle einem der überlebenden Häftlinge des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora das Wort geben. Einer der zentralen Sätze in der Studie, die er schließlich lange nach 1945 veröffentlicht hat und die übrigens auch in den USA erschienen ist, lautet: Die Begeisterung über den Flug zum Mond sollte uns nicht das Leid vergessen lassen, das, um diesen Flug zu ermöglichen, auf der Erde geschehen ist. Ich denke, das ist eigentlich ein gutes Motto für ein solches Jubiläum."