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Die Kinder der Generation Wende

Lettland gehört zu den sogenannten Tigerstaaten im Baltikum: In der jungen Republik an der Ostsee boomt die Wirtschaft immer noch, die Preise haben rasant angezogen, gleichzeitig wachsen aber die sozialen Gegensätze. Der Wohlstand der westlichen EU-Länder ist längst nicht erreicht und so suchen viele Letten ihr Glück bei den reichen europäischen Nachbarn.

Mit Reportagen von Birgit Johannsmeier, Redakteurin am Mikrofon: Bettina Nutz |
    Kristina, 16 Jahre, lebt im Norden Lettlands bei ihrer Großmutter:

    "Mein Vater hat versprochen, dass er zur Abiturfeier kommt, aber er ist nicht gekommen. Er hat nicht mal angerufen. Aber jetzt hat mich meine Mutter nach Irland eingeladen. Ich freue mich darauf, auch mal die Welt zu sehen."

    Ilze, 14 Jahre, lebt im Osten Lettlands und ist in großer Sorge:

    "Ich habe Angst, dass mein Vater nach Irland fliegt. Er ist Bauarbeiter. Für ein, zwei Monate reichen seine Aufträge noch, danach ist er arbeitslos. Ich möchte nicht, dass er uns verlässt. Ohne ihn wird mein Leben sehr traurig sein."

    Flughafen Riga in Lettland, im Baltikum. Es ist Sonntag Abend, Abschiedszeit. Die Welt der Erwachsenen, der Mütter und Väter:

    "Ich fliege nach Dublin. Ich arbeite dort. In einem Restaurant. Jetzt war ich zum Urlaub in Lettland. Aber hier habe ich keine Arbeit."

    "Ich komme aus Lettgallen und fliege nach Dublin. Ich arbeite in einer Fleischfabrik. Hier in Lettland reicht das Geld zum Leben nicht. Jetzt nehme ich auch meine Tochter mit. Sie lebte drei Jahre ohne mich und wird jetzt dort zur Schule gehen."

    "Die Kinder benötigen Kleider und Schuhe, wovon sollen wir das kaufen? Dort ist es besser als hier. Wer einen legalen Job hat, ist im sozialen Netz, kann Kredite aufnehmen. Es ist viel besser als hier."

    "Sie nennen uns die Glücksucher und behaupten, das wahre Glück sei hier in Lettland zu finden. Aber das stimmt nicht."

    Ein Kontinent ist in Bewegung. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union 2004 und der Öffnung der Arbeitsmärkte für die neuen EU-Bürger hat sich auch innerhalb der Staatengemeinschaft eine unerwartete Dynamik entwickelt: Hunderttausende Menschen reisen von Ost nach West, auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, nach Wohlstand und Selbstbestimmung. Denn die neue Union ist immer noch in eine reiche und eine ärmere Hälfte geteilt. Selbst eine boomende Region wie das Baltikum muss einen stetigen Aderlass verkraften. Junge, gut ausgebildete Menschen versprechen sich bei den westlichen EU-Nachbarn ein angemessenes Auskommen und mehr Anerkennung. Vornehmliche Ziele sind Schweden, Großbritannien und Irland, denn sie gehören zu den wenigen Alt-EU-Mitgliedern, die die Neuen mit offenen Armen empfangen. Vor allem Irland hat sein Wirtschaftswunder auch den modernen "Gastarbeitern" aus dem Osten zu verdanken: auch Litauern und Letten.

    Europa in Bewegung - für das kleine Lettland, ein Zwei-Millionen-Volk, ist die Auswanderung immer schwieriger zu verkraften. Man schätzt, dass etwa sechs Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung bereits fort ist. Die meisten Letten entscheiden sich für die Grüne Insel wegen der attraktiven Löhne. Und wegen der geringen Entfernung: mit dem Flugzeug sind die drei Meere rasch überquert. Da wird aus einem Aufenthalt auf Probe schnell ein neues Leben. Eine neue Existenz - allerdings fern von der Familie. Oft genug brechen die Eltern gemeinsam zum Geld verdienen auf. Die Kinder bleiben zurück - versorgt von den Großeltern.



    Beruf Großmutter: Lonia Else hütet vier Enkelkinder und macht sich Sorgen um die Zukunft
    Kaum lässt der Regen nach, scheucht Lonia Else ihre vier Enkelkinder in den Garten. Der 19-jährige Kristaps nimmt gleich Harke und Eimer und marschiert mit seiner 16-jährigen Schwester Kristine ins Kartoffelfeld, Erde auflockern und Unkrautjäten. Derweil hat die zwölfjährige Solveiga die kleine Madara Huckepack genommen. Und gallopiert mit ihr zum Gänsestall. Denn Kükenfüttern, das macht der Dreijährigen besonders viel Spass.

    Großmutter Lonia schaut dem wilden Treiben vom Gemüsebeet aus zu. Die resolute Frau wirft ihr rotes Haar in den Nacken und lächelt. Noch vor einem Jahr hätte sie nicht im Traum daran gedacht, wieder eine Horde Kinder um sich zu haben.

    "Im letzten Herbst verlor meine Schwiegertochter plötzlich ihren Job und mein Sohn war schon arbeitslos. Wovon sollten sie ihre Kinder ernähren? Wir sahen keinen anderen Ausweg: Die beiden mussten zum Geldverdienen nach Irland gehen. Damit es den Kindern einmal besser gehen wird."

    Lonia gibt ein paar kurze Anweisungen und wendet sich wieder den Möhren und Gurken zu. Die 64-jährige ist stolz auf den Hof, den sie vor zehn Jahren mit ihrem Mann erworben hat. Am Rande von Rujena, einer Kleinstadt im Norden Lettlands. Neben dem holzverschalten Wohnhaus steht eine jahrhundertealte Scheune mit Schieferdach. Hier sollte eigentlich das Korn lagern, dass sie auf ihren 38 Hektar erwirtschaften wollte. Aber als Lonias Mann tödlich verunglückte, musste sie auch ihren Traum von einer richtigen Bauernwirtschaft begraben. Umso glücklicher sei sie jetzt mit ihren Enkelkindern, meint Lonia. Ein kurzes Strahlen huscht über ihr Gesicht.

    "Ich war sehr froh, dass meine Enkel zu mir ziehen. Seit mein zweiter Mann vor sechs Jahren gestorben ist, lebte ich alleine. Die Kinder meinen ja, ich sei ein bisschen streng, aber ich will, dass etwas aus ihnen wird. Kristine hat soeben die neunte Klasse beendet und wir werden sie in der Kunsthochschule einschreiben. Ich bin glücklich über meine neue Familie."

    Zurück in der Stube erzählt die Oma, wie sehr sich die Kinder anfangs über ein schöneres Leben mit mehr Wohlstand gefreut hätten. Für den 19-jährigen Kristaps begann ein großes Abenteuer, denn den Ältesten nahmen die Eltern gleich mit: zum Muschelnsammeln an die irische Nordseeküste.

    "Im Internet habe ich gelesen, wann Ebbe ist. Dann konnte ich Muscheln sammeln. Das waren mal drei, mal nur eine Stunde. Ich sammelte die Muscheln von den Felsen und übergab sie unserem Boss. Er zahlte mir 1,80 Euro für das Kilo. 150 Euro pro Woche konnte ich verdienen, da ist wenig übrig geblieben. Essen, Wohnen, ein bisschen Kleidung, mehr war nicht drin. Trotzdem besser als in Lettland. Deshalb fahre ich bald wieder hin."

    Während die anderen Brote schmieren, beginnt die dreijährige Madara zu singen und spricht den ersten englischen Satz, den ihr die Grossmutter beigebracht hat. Madara hebt ihre Ärmchen in die Höhe und möchte auf Omas Arm.

    "Madara hat mich sofort als Ersatzmama angenommen und will mich immer "Mama" nennen. Aber ich sage nein. Jedes Kind hat seine eigene Mutter und ich bin deine Großmutter."

    Stattdessen zeigt sie den Kindern täglich die Fotos der Eltern und erzählt von den Festen, die sie in ihrer kleinen Küche gefeiert haben. Zu Weihnachten, am Namenstag, aber das sei lange her.

    "Mein Sohn und seine Frau wollten nur für drei Monate nach Irland gehen und Ende des Jahres wieder zurück nach Lettland kommen. Aber kurz vor Weihnachten haben sie sich getrennt und leben schon mit ihren neuen Partnern zusammen. Sie sind weggegangen, damit es ihren Kindern einmal besser geht, aber was wird jetzt?"

    Oma Lonia hält inne und schaut die 16-jährige Kristine an. Kristines Blick wird finster, wenn sie über ihren Schulabschluss erzählt.

    "Mein Vater hat versprochen, dass er zur Abiturfeier kommt, aber er ist nicht gekommen. Er hat nicht mal daran gedacht, mich anzurufen, er hat einfach vergessen, dass ich Abitur gemacht habe. Das hat mich sehr traurig gemacht. Aber jetzt hat mich meine Mutter nach Irland eingeladen. Ich freue mich darauf, auch mal die Welt zu sehen."

    Die Kinder der "Generation Wende", die für die Aussicht auf ein besseres Leben auf einen oder beide Elternteile verzichten müssen, haben in Lettland eine besonderen Namen. Sie heißen "Pilzwaisen", denn die ersten lettischen Gastarbeiter verdingten sich auf irischen Champignonfarmen. Für knochenharte Arbeit von früh bis spät, für Unterkunft in schäbigen Quartieren und mit Heimweh im Herzen, verdienten die Letten vergleichsweise gutes Geld.

    Die Journalistin Laima Muktupavela machte auf das Schicksal der Pilzsammler aufmerksam, stellvertretend für alle Auswanderungswilligen. Sie mischte sich auf der irischen Insel unter die osteuropäischen Arbeiter und schrieb einen Bestseller, der 2003 den Lettischen Jahrespreis für Literatur erhielt. Der Titel: "Das Champignon-Vermächtnis". Seither lässt sie das Thema nicht mehr los.



    Irland fesselt und beflügelt: Laima Muktupavela möchte ihre Erfahrungen als Emigrantin nicht missen
    Während sie ihr Abendessen vorbereitet, wäscht Laima Muktupavela mit Hingabe ihre roten Weingläser ab, die sie aus Irland mitgebracht hat. Laima ist eine kleine dynamisch Frau Mitte vierzig, trägt ihr schulterlanges blondes Haar gescheitelt und lacht gerne. Noch bis vor kurzem war sie Redakteurin bei der Lettischen Tageszeitung "Lauku Avize", "Nachrichten vom Land". Und schrieb gerne über "Menschen auf der Suche nach dem Glück". Ihr Roman über das Leben der lettischen Gastarbeiter in Irland hat sie über Nacht zur berühmten Schriftstellerin gemacht.

    "Ich hatte mit Leuten gesprochen, die nach Irland gegangen sind. Und hatte das Gefühl sie lügen, sie erzählen mir nicht die Wahrheit über ihr Leben in Irland. Sie möchten nicht, dass ich erfahre, wie ihr Leben dort wirklich aussieht. Da sagte mein Chefredakteur: Laima, du bist eine gute Journalistin, du solltest einen Roman darüber schreiben. Damit kannst du auch mehr verdienen. Da dachte ich, also gut, fahre ich selber dorthin."

    Sieben Jahre ist das her: Laima Muktupavela ließ sich über eine Arbeitsagentur für vier Monate nach Irland vermitteln, zahlte ihren Flug und war schon da. Sie lebte mit lettischen Gastarbeitern in einem kleinen Haus am Meer und fuhr jeden Tag zehn Kilometer mit dem Rad zur Arbeit. Vier Monate lebte sie zusammen mit den Menschen, die auf der Suche nach dem Glück gewesen sind.

    "Ich musste um fünf aufstehen, damit ich um sechs Uhr den ersten Champignon pflücken konnte. Manchmal war ich erst um sechs oder acht Uhr abends fertig. Aber ich war stolz auf mich, dass ich durchhielt. Ich hatte mir gar nicht so viel Kraft und Ausdauer zugetraut. Und ich genoss es, plötzlich Geld zu haben. Zu Hause ging alles für die Kinder drauf. In Irland blieb immer noch etwas übrig, um mir einen Rock oder eine Bluse zu kaufen. Ich fühlte mich schön und war glücklich."

    Aber neben ihrem Glück über den unerwarteten Reichtum und neben der Freude, mit dem Fahrrad ein unbekanntes Land zu erobern, stieß Laima auch auf die vermuteten Demütigungen. Auf die Schattenseiten des Gastarbeiterlebens in Irland, über die ein Auswanderer in Lettland nicht so gerne spricht.

    "Ich habe mich wie eine Sklavin gefühlt. Aber darüber will niemand erzählen. Eines Morgens hatte ich geschwollene Beine und konnte kaum noch laufen. Ich bat meinen Chef, mich zur Apotheke gehen zu lassen, aber er wollte nicht. In meinem Roman schreibe ich, dass er am Ende nachgegeben hat. Aber in Wirklichkeit hat er mich nicht gerne zur Apotheke gehen lassen."

    Für die vier Monate in Irland hatte Laima drei Töchter bei ihrem Mann in Lettland zurückgelassen. Die beiden jüngsten würden sich gar nicht daran erinnern, sie hätten viel Spaß mit dem Vater gehabt und seien sehr selbstständig geworden. Wäsche waschen, einkaufen, Küche putzen, die Kinder seien zu viel mehr fähig, als wir ihnen zutrauten, ist Laima sicher. Nur ihre Älteste habe ihr böse Briefe geschrieben.

    " Meine 17-jährige Tochter Anna hat mir ein Foto geschickt, auf dem ich sie als Baby im Arm hatte und schrieb: Du bist gar nicht meine Mutter. Denn Mütter verlassen ihre Kinder nicht. Dieser Brief hat mich zurückgebracht. Ohne Kinder wäre ich nicht zurückgekommen. Irland hat mein Leben völlig verändert. Irland hat mir Flügel gegeben."

    Aus "Das Champignonvermächtnis":

    "Der Rekrutenwerber greift flink nach dem Umschlag, den ich ihm hinhalte, und überfliegt mit routiniertem Blick die Scheinchen. Und von denen ist eine Menge drin: grüne Dollars, aber auch 50-Lat-Scheine mit Segelschiffen, die aussehen wie geklont. Als Gegenleistung reicht er mir ein Ticket Riga-Kopenhagen-Dublin. Ich bekomme noch ein paar erbauliche Worte mit auf den Weg: niemand hält dich dort fest, und wenn es dir nicht gefällt, dann kommst du halt nach einem Jahr wieder nach Hause zurück, überweise das Geld per Bank, bloß nicht per Brief nach Hause schicken, denn damit subventionierst du die lettischen Postboten, sieh zu, dass du die Sprache lernst, den Weg wirst du schon irgendwie finden, na, dann mal Hals- und Beinbruch!

    Und gleich geht’s weiter beim nächsten. Leute meines Schlages, von denen er Vermittlungsgebühren kassiert. Leute, die unsicher sind und Angst haben wie vor einem Kopfsprung ins Wasser, von dem man nicht weiß, wie tief er ist.

    Im Rekrutenwerber-Büro wartet eine ganze Reihe von uns. Und wir sollen schon übermorgen ins gelobte Land fliegen.

    Obwohl es viele Faktoren gibt, die in Erwägung gezogen werden müssen, müsste ich nicht allzu lange überlegen, wen ich auswählen würde, wäre ich selbst so eine Sklavenhalterin, zum Beispiel irgendwo am Mississippi.

    Am besten lassen sie zu Hause eine ganze Schar Kinder zurück, denn dann arbeiten sie um so mehr, um ihrer Brut die ewig hungrigen Mäuler zu stopfen. Dann nehmen sie alles und noch viel mehr ohne Murren in Kauf, bloß damit es ihren Kindern an nichts gebricht.
    Ungefähr so."

    Soziologen und Psychologen vermuten, dass die zurückgelassenen Kinder ein riesiges gesellschaftliches Problem darstellen. Wirklich zu belegen ist das nicht, denn bislang fehlen entsprechende Studien. Einzig Liepaja, die Ostsee-Hafenstadt, hat zumindest mit einer eigenen Statistik die Entwicklung der sogenannten "Pilzwaisen" in Zahlen dokumentiert. So weiß man nun, dass mehr Väter als Mütter fortgehen. Dass etwa zwölf Prozent der Kleinen gleich auf beide Elternteile verzichten müssen. Kaum ein Kind wird aber sich selbst überlassen, die Großfamilie scheint zu funktionieren. Eine Veränderung hat man in Liepaja allerdings auch registriert: nach der unsicheren Anfangsphase nehmen jetzt immer mehr Letten ihre Söhne und Töchter ins Ausland mit.

    Das Gros der Auswanderer stammt jedoch aus der lettischen Provinz. Aus den Gegenden, die vom Wirtschaftsboom der jungen baltischen Republik vergessen worden waren. In den Dörfern ist beinahe jede Familie zerrissen. Die Verzweiflung der Erwachsenen und die Verunsicherung der Kinder sind überall zu spüren. In Lettgallen, im Südosten Lettlands, nahe der russischen Grenze, stellt sich die einzige Schule der Region einer großen Herausforderung: sie muss die Nöte der verlassenen Jungen und Mädchen - so gut es geht - auffangen.



    Wut auf die Fremde: Schüler in Vecvarkava wünschen sich ihre Eltern zurück
    Es ist 8.00 Uhr früh in Vecvarkava, einem kleinen Dorf in Lettgallen. Satte Wiesen, ein schmaler, schilfbewachsener Flusslauf und kleine Spitzdachhäuser umrahmen das Herz von Vecvarkava: die Schule. Der einstige Plattenbau ist rundherum hell und neu verschalt und scheint für die kleine Gemeinde eigentlich viel zu groß.

    Aber die Schule ist beliebt, die Kinder der gesamten Region kommen hierher zum Unterricht. Sogar in den Ferien stellen sich die Schüler der neunten Klasse pünktlich vor ihrer Lehrerin auf, um erste Anweisungen entgegenzunehmen. Renata Andina verteilt Aufgaben im Schulgarten, lässt Blumen gießen und Labore aufräumen.

    "Wir wollen die Kinder weg von der Strasse holen, sie sollen richtig arbeiten und Geld verdienen. Wir zahlen 1,50 Euro pro Stunde, vier Stunden am Tag, einen Monat lang. Sie sollen verstehen, dass man hart arbeiten muss, um Geld fürs tägliche Brot zu verdienen."

    Renata Andina weiß, wovon sie spricht. Obwohl Lettland in den letzten Jahren einen Wirtschaftsboom ohne Gleichen erlebte und viele hundert Millionäre hervorgebracht hat, verdient Renata als Lehrerin gerade mal 220 Euro im Monat. Auch ihr Mann, ihr älterer Sohn und ihr Bruder konnten ihre Familien nicht ernähren.

    "Unsere Leute müssen nach Irland fahren, um zu überleben. Sie haben keine Wahl. Alle meine Verwandten arbeiten dort und können uns sogar unterstützen. Auch ich habe einen Sommer lang Champignons gesammelt. In einer Woche gab es dreimal soviel Geld, wie hier in einem Monat. Aber es war eine ganz schöne Demütigung! Ich verdiente mit einfacher Arbeit mehr, als mit meinem Beruf, den ich mit Leib und Seele ausübe."

    Mit Leib und Seele hört Renata Andina auch ihren Schülern zu. Viele Kinder sind mit ihren Eltern nach Irland gegangen, manch einer ist aber ganz ohne Vater und Mutter in Lettland geblieben und lebt allein bei einer Tante oder den Großeltern, erzählt die 46-jährige Pädagogin.

    "Ich möchte jedem Kind das Gefühl geben, dass es nicht allein ist, aber die Eltern kann niemand ersetzen. Die Schüler versuchen ihren Schmerz zu verstecken und verlieren nie ein Wort über ihre Eltern in Irland. Aber wenn die anderen über Mama und Papa in Vecvarkava sprechen, dann sehe ich ihnen ihre Trauer an. Die Kinder fühlen sich von ihren Eltern im Stich gelassen, dieses Trauma verfolgt sie durch ihr ganzes Leben."

    Nach dem Blumengießen nehmen sich vier Mädchen das Mathelabor vor - Bücher abstauben, Regale auswischen und über das nächste Wochenende reden. Für die Auswanderer nach Irland haben Laura und Kristine nicht viel übrig.

    "Ich sehe keinen Grund wegzufahren. Das ist schlecht. Hier bei uns in der Heimat gibt es doch genug Arbeit."

    " Viele reisen nach Irland wegen des Geldes. Mir gefällt das nicht. Mein Nachbar Arturs war auch in Irland und sagt, dass sich die Iren ganz schlecht den Letten gegenüber benehmen."

    Während die beiden ihrer Wut über die Irlandarbeiter freien Lauf lassen, hat sich die 14-jährige Ilze in eine Ecke verzogen und putzt weiter still vor sich hin. Ilze hat selbst eine Freundin, die oft weint, weil sie ohne Eltern geblieben ist. Und Ilze fürchtet, dass ihr bald dasselbe passieren wird.

    "Ich habe Angst, dass mein Vater nach Irland fliegt. Er ist Bauarbeiter. Für ein, zwei Monate reichen seine Aufträge noch, danach ist er arbeitslos. Er hat schon angekündigt, dass er sich dann auf den Weg machen will, weil er in Lettland keine andere Arbeit finden kann. Ich möchte nicht, dass er uns verlässt. Ohne ihn wird mein Leben sehr traurig sein."

    Während die Schüler fleißig putzen, nimmt die Lehrerin Renata Andina ihren zweijährigen Enkel Rinalds in Empfang. Sie passt auf ihn auf, solange seine Mutter Geld beim Erdbeerpflücken verdient. Ein paar Jahre müsse der Kleine noch ohne den Vater groß werden, meint Renata, aber ihr Sohn komme alle drei Monate zu Besuch, so sei die Trennung nicht zu schlimm. Auch Renatas Familie hat sich mit einem Leben in zwei Welten arrangiert.

    "Mein Mann und mein Sohn, sie werden vielleicht noch fünf Jahre bleiben, bis es uns finanziell gut geht. Wir haben Land und Häuser gekauft und richten uns ein. Auf unsere Regierung und höhere Löhne haben wir lange genug gewartet, wir müssen unser Leben selbst in die Hände nehmen. Die Politiker sollten mal zu uns nach Vecvarkava kommen, mal über unsere Schotterstraßen fahren und selbst versuchen, hier zu überleben."

    Der Exodus und seine sozialen Folgen decken Lettlands bislang ungelöste Probleme auf: die Armut auf dem Lande, trotz Hochkonjunktur, ist nur eines davon. Ein anderes die Einkommensschere zwischen einigen Dollarmillionären und vielen qualifizierten Akademikern, die schlecht bezahlt werden: Lehrer, Ärzte, Ingenieure. Es sind Menschen in Schlüsselberufen, die ihrer Heimat den Rücken kehren. Zum Wohl der Familie. Und der Kinder. Auch wenn das für die Jüngsten oft bitter ist.

    Auf dem Land allerdings zeigt sich die ganze Dramatik der Situation. Kleine Dörfer wirken wie ausgestorben. Größere Ortschaften haben mindestens ein Drittel ihrer Einwohner verloren. Sie haben die Heimat ohne Jobs und ohne soziale Absicherung gegen fremde britische Inseln mit Arbeit, Kindergeld und Krankenversicherung getauscht. Die verwandtschaftlichen Netzwerke sorgen dafür, dass den Weggegangenen weitere Angehörige folgen. Auch in Lettgallen, im Dorf Vecvarkava, herrscht weiter Aufbruchstimmung.



    Zerrissene Familien, verlassene Häuser: die Stimmung auf dem Land ist schlecht
    Aufgeregt ruft Marija Zemele ihren Schäferhund zu sich, als ihr Sohn Andris mit dem Rasenmähen beginnt. Andris sitzt stolz auf seinem Minitraktor, mit dem er die lettische Wiese in einen englischen Zierrasen verwandeln will. Schon jetzt ist der Vorgarten der Bäuerin ein Kleinod, das jedem Besucher des Dorfes Vecvarkava sofort ins Auge fällt. Vielleicht auch, weil er eher in ein Hochglanzmagazin für Hobbygärtner als in einen bäuerlichen Alltag passt.

    "Wir arbeiten nur noch für unseren Lebensunterhalt und für die Seele. Es fehlt aber noch ein Springbrunnen mit indirekter Beleuchtung."

    Mitten auf der Wiese liegt ein Findling, auf einem Holzstumpf steht ein Plastikstorch und ein hölzernes Reh lugt hinter der bunten Blumenstaude hervor. Marijas Lieblingsplatz ist die kleine Bank, die unter einer Madonna steht. Die rauen Hände der Bäuerin und ihr sonnengegerbtes Gesicht sehen nach harter Feldarbeit aus. Trotzdem will Marija die Landwirtschaft an den Nagel hängen.

    "Es lohnt sich nicht mehr, den Hof weiter zu führen. Für einen Liter Milch bekommen wir neun Cent, im Laden kostet er einen Euro. Wir könnten 25 Milchkühe halten, aber ohne Unterstützung geht das nicht. Mein Mann und ich, wir bewirtschaften alles alleine, manchmal hilft unser Sohn. Arbeiter können wir uns nur in der Erntezeit erlauben, dann zahle ich zehn Euro am Tag."

    Die geringen Löhne auf dem Land jagten alle Leute fort, meint Iveta Stivzeska. Dabei sei Lettgallen für seine Bauern und seine fruchtbaren Äcker berühmt. Iveta Stivzeska ist Sozialarbeiterin der Gemeinde Vecvarkava und gerade auf der Straße mit ihrer vierjährigen Tochter unterwegs.

    "Lettgallen wird von der Regierung einfach ignoriert. Wir verdienen hier viel weniger, als die Leute in der Hauptstadt Riga. Ich bleibe nur hier, weil meine Kinder schulpflichtig sind, denn die Schule ist wie eine große Familie. Mein Mann war auch zwei Jahre in Irland, jetzt arbeitet er hier als Lastwagenfahrer. Aber wer weiß, wenn die Benzinpreise steigen, muss er wieder fort."

    Die meisten Arbeitsplätze in der Region bietet das Sägewerk von Peteris Schneps. Es liegt gut zehn Kilometer von Vecvarkava entfernt. Die drei schmuddeligen Werkshallen stammen noch aus der Zeit vor der Wende, da gehörten sie der örtlichen Kolchose. Auffällig sind hingegen eine neue Säge und die beiden Sattelschlepper, die der Werksbesitzer noch immer nicht ganz bezahlt hat. Grad mal zweihundert Euro im Monat könne man hier verdienen, verraten Juris und Anita, die mit dem Bretter-Sägen ihre kleine Bauernwirtschaft finanzieren. Wer zur Akkordarbeit bereit sei, ginge sogar mit 600 bis 1000 Euro nach Hause, fügt der Chef Peteris Schneps hinzu. Aufgebaut aus Ruinen habe er sein Werk, meint der bullige Mann im T-Shirt und jetzt liefen ihm glatt die Arbeiter weg.

    "Die Leute, die arbeiten können und wollen, sind alle in Irland und wir müssen mit denen auskommen, die hier geblieben sind. Mir fehlen 20 Leute und ich muss meine Kredite abbezahlen. Arbeitet einer gut, muss er auch für den arbeiten, der seinen Rausch am Straßenrand ausschläft. Auf mich und unsere Bauern kommen harte Zeiten zu. Nur wer dieses Jahr überlebt, hat auch eine Chance im nächsten Jahr."

    Nach Jahren des gigantischen Wirtschaftswachstums steckt Lettland heute in einer tiefen Krise. Steigende Benzinpreise sind auch für den Sohn von Marija Zemele Grund genug, nicht den Hof seiner Mutter zu übernehmen. Sogar er habe sein Glück in Irland versucht, meint Andris Zemelis, und seiner Mutter diesen Rasenmäher geschenkt. Aber Heimat bleibe eben Heimat, deshalb arbeitet er heute lieber bei der Lettischen Polizei. Und für die Extraausgaben hilft ihm sein musikalisches Talent.

    "Ich will mich nicht wie meine Eltern abrackern, ich will richtig leben, ausgehen und mich gut anziehen. Wenn das Geld nicht reicht, spiele ich auf einem Geburtstag oder einer Hochzeit. Sie zahlen bis zu 360 Euro für einen Auftritt."

    Iva, die Heldin in Laima Muktupavelas Roman "Das Champignonvermächtnis", gehört zur "Generation Wende". Iva ist eine Frau in den Dreißigern, die sich selbst als nicht besonders attraktiv oder klug beschreibt. Sie ist unverheiratet, hat keine Kinder, die sie zurücklassen müsste, als sie sich als Pilzpflückerin anwerben lässt. Sie steht vor ganz anderen Herausforderungen, als ihre Eltern zu Zeiten des sowjetischen Kommunismus. Über fünf Jahrzehnte waren die Grenzen zum Westen für die Letten unüberwindbar.

    "Es hat wunderschönen Neuschnee gegeben.

    Bei uns im Haus schlafen alle noch. Es ist früh am Morgen des ersten Weihnachtstages.

    Mag man in so einem Augenblick an zu Hause und an Lettland denken? Nein: Dort, wo ich bin, dort ist für mich der Mittelpunkt der Welt, dort sind meine Traditionen und mein Zuhause. Gleichzeitig zolle ich den Letten Bewunderung, die ihr nacktes Leben vor den Russen retten konnten und in die sogenannte Sicherheit des Exils entkamen, wo sie mit Zähnen und Klauen ihre Bräuche verteidigten und mit ganzer Seele Mittsommer, Weihnachten und sogar alle zwei Jahre ihr Sängerfest feierten.
    Wir hier auf der Insel sind nicht mehr so. Ich weiß, dass man hier, jenseits der lettischen Grenzen, nirgendwo Sauerkraut bekommt, das wie zu Hause schmeckt. Ich in nicht die einzige, die nicht nur keine Schweinerüssel mehr isst, sondern auch keinen schweren Koffer mit Erinnerungen und Bräuchen mehr mit sich herumschleppt. Manche haben auch gar nichts mehr, was sie schleppen könnten. Hier auf der Insel wären solche Traditionen nur eine Fiktion, ein Klotz am Bein, den festzuhalten nur schmerzt. Darum muss ich mich nicht masochistisch quälen, indem ich an zu Hause und das Leben DAMALS und DORT hinter den Meeren denke. Man muss HIER und JETZT leben!"

    Letten und Iren verbindet ein ähnliches Schicksal. Irland war bis zum Eintritt in die Europäische Union das Armenhaus des Kontinents. Im Zeitraffer ging es dann nach oben: aus dem irischen Agrarstaat wurde eine moderne Dienstleistungsgesellschaft. Aus dem Auswandererland ein Magnet für hoch motivierte Zuwanderer. Lettland hofft auf eine Erfolgsgeschichte wie die irische. Doch die Zeiten des ungebremsten Wachstums scheinen im Baltikum vorbei zu sein. Eine Rezession droht und der Fachkräftemangel verschärft die Lage. Auch Lettland müsste Einwanderer anwerben, um die freien Stellen zu besetzen. Ein Heer von arbeitswilligen Russen, Ukrainern, Weißrussen und Usbeken stünde in der Nachbarschaft bereit. Die Regierenden in Riga sperren sich allerdings gegen diese Option. Die Einwanderungsgesetze sind äußerst streng und sollen es bleiben. Denn der Zuzug russischsprachiger Menschen ist unerwünscht und gilt deshalb als Politikum. In den Jahrzehnten der sowjetischen Diktatur wurden Völker aus anderen Sowjetrepubliken im Baltikum zwangsangesiedelt - diese Politik der Sowjetisierung ist bis heute unvergessen.

    Unternehmer wie Nils Martirovs lassen sich von historischen Befindlichkeiten nicht abschrecken. Er glaubt, dass die Regierung ihre Haltung bald aufgeben muss. Die Vermittlung von Leiharbeitern aus dem Osten ist für ihn bereits heute ein gutes Geschäft.



    Jeder Auswanderer hinterlässt eine Lücke: das Geschäft mit den Leiharbeitern
    Letzte Anweisungen am Werkstor für einen Lagerarbeiter: Nils Martirovs liebt klare Regeln, das sieht man ihm auf der Stelle an. Wann genau beginnt die Nachtschicht, wie schnell muss man die Transporter beladen, wie lang darf eine Rauchpause sein. Trotzdem schwer vorzustellen, dass der drahtige Mann mit den schwarzen Locken seine Karriere einst als Eishockeyprofi begann. Jetzt gibt er präzise Anweisungen an seinen Leiharbeiter aus Odessa, den er soeben an eine Getränkefabrik in Riga vermittelt hat. Denn Nils Martirovs hat eine Marktlücke entdeckt.

    "Ich war Manager einer großen Tankstellenkette. Wenn vor fünf Jahren ein Angestellter mehr Geld oder bessere Arbeitsbedingungen verlangte, dann bat ich ihn einfach, woanders sein Glück zu versuchen. Doch vor zwei Jahren wendete sich das Blatt. Die besten Leute gingen nach Irland oder England. Meine Angestellten forderten wieder höhere Löhne. Diesmal drohten sie mir, zu gehen. Ich konnte plötzlich keine guten Leute mehr finden und kam auf die Idee, Leiharbeiter aus der Ukraine anzuwerben."

    So wie Nils Martirovs klagte die gesamte Industrie über einen eklatanten Facharbeitermangel. Von der Bau- bis zur Forstwirtschaft. Nils Martirovs machte sich kurzerhand selbstständig, sprach seine alten Freunde in der Ukraine an und wurde Leiter der Baltisch Ukrainischen Handelskammer in Kiew.

    "Wir Letten und Ukrainer haben eine ähnliche Geschichte. Beide Länder gehörten zur ehemaligen Sowjetunion. Wir haben keine Sprachprobleme, Letten und Ukrainer sprechen Russisch und die Ukraine ist nur 1000 Kilometer von uns entfernt. Die Ukrainern können zwei bis dreimal soviel Geld wie zu Hause verdienen. Unseren Betrieben bieten wir motivierte Leute, die gewillt sind zu arbeiten."

    Allein im letzten Jahr habe er viele hundert Arbeiter aus der Ukraine nach Lettland gebracht, erzählt Nils Martirovs. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die Industrie auf dem heimischen Arbeitsmarkt erfolglos sei, denn für seine Dienste müsse man viel Geld bezahlen. Und trotzdem scheitere sein Büro immer wieder an der Lettischen Bürokratie. Vielen Beamten seien die russischsprachigen Leiharbeiter ein Dorn im Auge.

    "Wenn ein Lette nach Irland gehen will, dauert es nur zwei Tage. Aber wenn wir einen Ukrainer nach Lettland einreisen lassen wollen, dann dauert das zwei bis drei Monate. Das ist Politik. Alle Beamten versuchen den Prozess zu verlängern. Ja, vielleicht haben sie etwas gegen alle, die aus der ehemaligen Sowjetunion sind. So spüre ich täglich Schikane. Sie wollen die Ukrainer nicht. Aber Lettland ist heute nicht mehr isoliert. Wir sind ein Teil der EU, ein Teil der Welt und wenn wir uns nicht dem Markt anpassen, verlieren wir unsere Führungsposition."

    Arbeitskontrolle in Riga. Jeden Abend überprüft Nils Martirovs, ob seine Leiharbeiter aus Odessa auch zuverlässig sind. Heute Abend kommt die halbe Nachschicht zu spät. Die Arbeiter haben verschlafen und nehmen es mit der Pünktlichkeit nicht ganz so genau.

    "Ich erwarte Disziplin. Wenn ich acht sage ist es acht, nicht viertel nach acht. Gut, wir sprechen gleich."

    Hinter verschlossener Tür hält Nils Martirovs seinen Leuten eine Standpauke. In seinem Auto, auf dem Weg zurück ins Büro, kocht der ehemalige Eishockeyspieler. Er weiß, sein Geschäft ist hart und risikoreich.

    "Zu dieser Schicht gehörten zehn Leute. Zwei haben sich permanent beschwert, andere begannen zu trinken, also musste ich fünf nach Hause schicken. Ich habe das Geld verloren, das ich für sie ausgegeben habe. Aber es geht vor allem um meinen Ruf. Vielleicht werde ich die Leute in Zukunft nicht mehr auf eigene Kosten herbringen. Wenigstens einen Anteil sollten sie übernehmen, damit sie verstehen, dass sie selbst Verantwortung übernehmen müssen. Ich muss daraus lernen. Es ist wichtig, keinen Fehler zweimal zu machen."

    Aus "Das Champignonvermächtnis":

    "Der Motor brummt, die Triebwerke laufen, die Räder rollen, und mit einem leichten a-a-ah starten wir gemeinsam in eine andere Dimension. Entlang der y-Achse. Unter uns auf der x-Achse bleiben das britische Königreich und eine völlig andere Mentalität zurück. Eine andere Realität.
    Tee oder Kaffee? Irish coffee, bitte. Sorry, wir haben keine Schlagsahne …. Macht nichts, ein Baileys tut es auch. Ich trinke ihn wie Irish coffee und weiß, dass ich alles überstanden habe und hinter mir lasse. Die Erniedrigung, die Scham, die - dreckige Arbeit - und das Gefühl der eigenen Nichtexistenz.

    Jetzt weiß ich, was mit mir in Krisensituationen und in den Momenten passiert, in denen sich Himmel und Erde mitten auf dem Meer vermischen.

    Mir scheint sogar, dass ich solche hypnotischen Situationen schon einmal erlebt habe.

    Wie ein sich drehendes Feuerkreuz hat mich das Schicksal schon oft von einer Hand in die andere herübergeschleudert. Ja, wenn es einen solchen Zustand der Leere zwischen Himmel und Erde gibt, dann weiß ich, dass ich mein Ränzel schnüren und um der Selbsterhaltung willen bloß in einem anderen Sandkasten spielen muss.
    Leb wohl, schöner blauer Mantel!
    Irgendwo über drei Meeren zwischen Irland und Lettland."

    Es mag sein, dass sich mancher Lette in Irland nach dem baltischen Sommer sehnt. Die Zahl der Auswanderer bleibt dennoch größer als die der Rückkehrer. Auch die irische Geschichte lehrt, dass ein bis zwei Drittel der Emigranten mit ihren Familien für immer fortbleibt.

    Während die lettische Regierung die Abwanderung immer noch als zeitlich befristetes Phänomen betrachten will, wird sich die Opposition für 2009, für die kommenden Europa- und Kommunalwahlen, das Thema auf die Fahnen schreiben. Das Wohlstandsgefälle im Land, die Kinderschicksale und schließlich fehlende Anreize für potentielle Rückkehrer liefern Stoff genug.

    Wäre Martin Mednis ausschließlich seinem Verstand gefolgt, wäre er weiter in Irland geblieben. Doch die Gefühle waren stärker. Ihn trieb das Heimweh zurück und machte ihn so zu einem Glücksfall für Lettlands Wirtschaft.



    Rückkehr aus Heimweh: wer aus Irland nach Lettland heimkehrt, darf kein Willkommen erwarten
    Die besten Geschäfte ließen sich in seinem nagelneuen Stadtjeep machen, meint Martin Mednis. Martin Mednis ist 30 Jahre alt, hochgewachsen, blond und immer gut gelaunt. Und er liebt es lässig: T-Shirt, Turnschuhe, Jeans. Auf seiner Tour durch die Heimatstadt Cesis vergeht keine Minute, in der er nicht die Lichthupe bedient oder einem seiner Freunde auf dem Gehsteig freundlich zuwinkt. Hier zu Hause weiß jeder, dass der ungelernte Martin Mednis zu Reichtum gekommen ist, weil er drei Jahre lang in Irland gearbeitet hat.

    "Ich war Abteilungsleiter in einer Fabrik für Tiefkühlkost und habe die Nachtschichten überwacht. In kürzester Zeit baute ich die lettischen Fliessbandarbeiter zu Spitzenteams auf. Wir waren besser, als die Iren. Aber Heimat ist Heimat. Zurück in Cesis fragten mich die Iren, ob ich nicht auch Letten vermitteln könnte. Für gutes Geld natürlich. Rund 1000 Leute habe ich nach Irland geschickt, meist aus Cesis. Aber ich musste aufgeben, als der Betrieb modernisiert wurde und vollautomatische Fließbänder die Arbeit übernahmen."

    Seine beruflichen Erfolge in dem irischen Betrieb bescherten Martin beste Zeugnisse. Natürlich habe er sich davon auch eine reibungslose Karriere zu Hause erhofft, verrät Martin, aber ganz so leicht ginge es in Lettland anscheinend doch nicht.

    " In den Jahren in Irland hatte ich einfach vergessen, wie schwierig der Arbeitsmarkt in Lettland ist. Ich war doch wirklich erfolgreich in Irland, aber zu Hause half es mir nicht. Ich habe viele Betriebe aufgesucht, sie sagten, ja gib uns Zeit, aber sie riefen nie zurück. Ich war auch bei unserer Bierbrauerei in Cesis, ohne Erfolg. Heute weiß ich, dass du gute Freunde brauchst, um hier einen guten Job zu bekommen."

    Aber Martin gab nicht auf. Von seinem Ersparten eröffnete er zuerst eine Fliesenwerkstatt. Die hat er verkauft, als auf den Hügeln rund um Cesis das Skifieber begann. Nach zwei warmen Wintern war es allerdings Zeit für eine neue Herausforderung. Er hält mit seinem Jeep vor den grünen Skipisten an, die soeben im Regen ertrinken.

    "Wenn bei uns Häuser abgerissen werden, entsteht viel Bauschutt. Als wir die Hügel dieses neuen Skigebietes um 50 Meter verlängern wollten, haben wir sie damit aufgeschüttet. Und mir kam eine Idee. Ich könnte diesen Bauschutt doch auch zum Straßenbau einsetzen! Ich fand eine Firma mit den passenden Traktoren und dachte, weshalb nicht? In Irland habe ich viel Erfahrung gesammelt und denke heute: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Der wird auch keinen Champagner trinken."

    Am Ende habe er sich doch überzeugen lassen, statt des Bauschutts die üblichen Dolomitsteine für seinen Straßenbau einzusetzen. Eine große Baustelle ist mitten in seiner Heimatstadt Cesis, zwei andere viele hundert Kilometer entfernt. Ehemalige Schotterpisten werden endlich asphaltiert.

    Unterwegs holt Martin seine Tochter Alice von der Tagesmutter ab. Alice ist gerade 18 Monate alte. Weil beide Eltern heute Abend arbeiten, wird Alice vom Papa rasch zur Tante gebracht.

    Und weiter geht es für Martin zur nächsten Baustelle. Ein Kunde habe nicht gezahlt, deshalb ziehe er nun die Technik ab. Während des Baubooms im letzten Jahr seien viele aus Irland zurück nach Lettland gekommen, erzählt Martin. Jetzt sei die lettische Wirtschaft wieder auf Talfahrt und sein bester Freund habe sich spontan für weitere fünf Jahre in Irland verpflichtet. Bis sein Haus in Cesis schuldenfrei sei. Für ihn selbst käme das nicht mehr in Frage.

    "Hier in Lettland muss ich jeden Tag auf Überraschungen gefasst sein. Am Fünfzehnten will die Bank, dass ich meinen Kredit bediene, Kinder benötigen Geld, ich selber will mir etwas leisten, meine Mitarbeiter wollen ihren Lohn. Manchmal denke ich: Gut, ich verkaufe alles und gehe mit Eltern, Frau und Kind nach Irland. Bleibe auf der Insel, arbeite die Woche über, habe am Wochenende frei, aber dann denke ich wieder: Wenn du nicht wagst, wirst du nicht gewinnen und niemals Champagner trinken."

    Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: "’Leb wohl, Papa, über drei Meere! Lettlands Kinder der Generation Wende." Eine Sendung mit Reportagen von Birgit Johannsmeier. Die Musik hat Sylvia Systermans ausgesucht. Die Literaturpassagen wurden von Frauke Poolman gelesen. Und am Mikrophon verabschiedet sich Bettina Nutz!