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Die Kinder der rumänischen Revolution

Mitte Dezember 1989 gingen in Temeswar hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen Diktator Nicolae Ceausescu zu demonstrieren. Die Unruhen griffen bald auf alle großen rumänischen Städte über, sie endeten blutig und brutal. Heute spricht man von mehr als 1100 Revolutionstoten. Die Kinder, die in jenen Revolutionstagen zur Welt kamen, sind heute 18 Jahre alt. Jacqueline Hene berichtet.

    Viktoria Chiticariu ist eine junge Frau ,wie man sie überall auf der Welt treffen könnte: Sie trägt Jeans und Kapuzenshirt und sitzt in ihrer Freizeit am liebsten vor dem Computer.

    "Ich gehe auf ein Gymnasium für Post- und Telekommunikationswesen. Da mache ich mein Fachabitur, Spezialisierung auf Informatik und Management. Nach dem Abi will ich Wirtschaft studieren und dann einen topbezahlten Job finden, damit ich mir ein gutes Leben leisten kann. Dafür würde ich auch ins Ausland gehen."

    "Ein gutes Leben" ist Viktoria gewohnt. Ihr Vater hat nach der Revolution mit Grundstücksspekulationen viel Geld gemacht. Die Chiticarius' haben ein komfortables Haus gebaut, Flachbildfernseher und Designer-Möbel inklusive. Sie habe alles, was sie braucht, sagt Viktoria. Über die Ereignisse im Dezember '89, ihrem Geburtsmonat, wisse sie nicht viel.

    "Nein! Im Geschichtsunterricht habe ich über die Revolution nichts gelernt. Dabei interessiert es mich, was Mutter und Vater damals erlebt haben. Ich frage sie oft nach dem Wer, Wie, Warum."

    Viktorias Eltern sind dabei, als an die 200.000 Menschen in Temeswar gegen Diktator Ceausescu demonstrieren. Sie erleben, wie das Militär in die Menge schießt, sehen die Toten und Verletzten. Die hochschwangere Ana Chiticariu bekommt Panik. Mitten auf dem Opernplatz setzen die Wehen ein. Irgendwie schafft es das Ehepaar in eine Klinik, wo Ana ein gesundes Mädchen zur Welt bringt. Der Name Viktoria wird mit Bedacht gewählt.

    "Ich arbeite viel. Morgens stehe ich auf, gebe dem Schwein zu fressen. Dann geht es aufs Feld. Bei uns im Garten wachsen Paprika, Mais, Kartoffeln, Gurken, Kohl, Möhren und Zwiebeln."

    Razvan Moga, auch er feiert in diesen Tagen seinen 18. Geburtstag, ist in den Wirren der rumänischen Revolution zur Welt gekommen. Razvan trägt Arbeitshosen, Gummistiefel und ein T-Shirt mit der Aufschrift CIA. Zusammen mit seinem Großvater lebt er in Tapu, einem Dorf in Siebenbürgen.

    "Wir besitzen zwei Betten, vier, fünf Stühle, einen Tisch und einen Ofen. Im Winter kochen wir hier auch. Wasser holen wir vom Brunnen."

    Die Mogas gehören zu den Ärmsten im Dorf. Großvater Moga ist seit einem Unfall vor elf Jahren arbeitsunfähig. Da er für die Rente noch zu jung ist, hat er keinerlei Einkommen. Razvan blieb nach acht Klassen Dorfschule ohne Lehrstelle und ohne Job. Die zwei Männer bewohnen eine windschiefe Hütte. Vor zehn Jahren wurde ihnen der Strom abgedreht.

    "Wenn ich Geld hätte, würde ich als erstes wieder Strom bestellen und dann das ganze Haus reparieren, innen und außen, die Wände streichen, neue Fenster einsetzen, am liebsten Plastefenster, und Laminatfußboden legen."

    Razvan sagt das ohne Resignation. Schließlich hätten es viele Nachbarn vorgemacht, hätten ihre Höfe in den vergangenen Jahren herausgeputzt und es schließlich doch noch geschafft.

    Für Paula Cretu ist ein Leben in Rumänien keine Alternative. Sie hat nur ein Ziel: Paula will nach dem Studium weg, am liebsten nach Kanada.

    "Die Gehälter in Rumänien sind lachhaft. Es lohnt sich nicht, Engagement im Beruf zu zeigen, es interessiert niemanden und wird nicht honoriert. Oder man findet erst gar keine Arbeit. Ich kenne Leute mit Hochschuldiplom, die Kaugummis verkaufen, um von irgendetwas leben zu können."

    Vater Nicolae ist orthodoxer Pfarrer und will Paulas Pessimismus nicht teilen. Die ausgebildeten jungen Rumänen würden in der Heimat gebraucht, sagt er. Wer weggehe, sei ein Verräter.

    "Wir sind keine Verräter, Vater, sondern junge Menschen, die ihr eigenes Leben führen wollen. Wenn Du jung wärst, würdest Du es doch genauso machen wie ich. Mama jedenfalls versteht mich, sie würde auch gehen, wenn sie könnte."

    Vater Nicu schüttelt nur den Kopf. Er sieht die Hoffnungen jener Revolutionstage gen Westen entschwinden.