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Die Kinder von Marx und Coca-Cola

In seinem neuen Film porträtiert Olivier Assayas eine Gruppe junger Schüler aus gutem Haus, die 1971 für die Weltrevolution kämpfen. Packend und berührend stellt er dar, wie Idealismus in Melancholie münden kann und wie die Träume der Jugendlichen verblassen.

Von Rüdiger Suchsland |
    Dieser Film macht keine Umstände, sondern springt einfach mitten hinein: Eine Schulklasse, 16-, 17-jährige, Philosophie-Unterricht, und während ein Schüler ein "A" in den Tisch ritzt und einen Kreis darum, das Symbol der Anarchisten, zitiert der Lehrer Blaise Pascal - das Leben sei zerbrechlich, und doch das Einzige, was wir haben, jenseits des Himmels. Und dieses Himmelreich bleibe denen verschlossen, die nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubten.

    Anarchismus und Theologie, das ist schon eine gute Kombination für den Anfang.

    Dann Schnitt; eine Demonstration: Die Polizei prügelt die Schüler zusammen, als gäbe es kein Morgen. Man kann sich zwar heute manches gar nicht mehr vorstellen, doch in diesem Film ist alles belegt. Man muss eben, um einen Aufstand zu verstehen, auch verstehen, gegen wen er gerichtet ist.

    Dieser Aufstand, das ist das, was dem revolutionären Pariser Mai von 1968 folgte, in dem die europäischen Studentenrevolte in Frankreich auch die Fabriken erreichte und auf bürgerliche Kreise überschwappte: Charles de Gaulle wurde aus dem Élysée-Palast vertrieben, und für einen Augenblick stand alles auf der Kippe, schien alles möglich. Danach verpufften die Hoffnungen auf eine so rasche wie grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft schnell. Die Utopien und das Unbehagen in der westlichen Kultur aber blieben, und hiervon, von dieser Generation, die knapp zu spät kam für die Revolte, erzählt der Franzose Olivier Assayas.

    "Die wilde Zeit", der auf Französisch präziser "Après Mai" heißt, also "Nach-Mai", setzt 1971 ein und porträtiert eine Gruppe junger Schüler aus gutem Haus. Sie wollen für die Weltrevolution kämpfen, ihre Freiheit in jeder Hinsicht auskosten und sie wollen Künstler werden. Im Zentrum steht Gilles, eine Art Alter Ego des 1958 geborenen Regisseurs. Wie der Vater von Assayas ist Gilles' Vater Drehbuchautor, und auch Gilles geht am Ende zum Film. Davor wird er und wir mit ihm Augenzeuge der vielen Facetten der Bewegung, die auf den überschäumenden Pariser Mai folgten. Das Politische differenzierte sich aus, individualisierte sich, und in der bis heute beliebten Formel "Das Private sei politisch" steckt die Privatisierung des Politischen: durch "Bewusstseinserweiterung" auf Drogentrips und Indienreisen, durch sexuelle Revolution und Feminismus, durch Musik und Kino als Medien der erwarteten Befreiung.

    Der untergründige rote Faden ist die Gewalt, die vielleicht mit Schuld trägt am Scheitern größerer Träume. Assayas zeigt, wie ein harmloses Sprayen von Graffitis in eine Gewaltspirale mündet: Molotowcocktails werden geworfen, Sicherheitsleute prügeln mit Eisenstangen und am Ende liegt ein Mensch im Koma.

    Auch darin, in diesem schleichenden Übergang zwischen den Ebenen, zwischen legitimem Widerstand und illegitimem Terror, erinnert der Film an Assayas' letzte Zeitreise in seine eigene Vergangenheit der 60er- und 70er-Jahre, das Terrordrama "Carlos".

    "Die Wilde Zeit" schlägt sich nicht überdeutlich auf irgendeine Seite, nimmt keine Schuldzuweisung vor.

    Es ist auch eher Ansichtssache der Figuren, was man eigentlich ganz genau für eine Revolution hält, und ob man etwas von ihr hält, natürlich auch.

    Diese Jugendlichen, dargestellt von einem ganzen Dutzend bezaubernder, unbekannter Jungschauspieler, sind subjektiv, aber nie individualistisch. Das heißt: Sie kapseln sich nicht ab von Gesellschaft, sondern finden in sich das Allgemeine.

    Grundsätzlich ist Assayas Auffassung von gutem Kino auch eher musikalisch:
    "Après Mai" ist ein ungemein berührender, packender und zugleich luftig und charmant inszenierter Film, der davon erzählt, wie Idealismus in Melancholie münden kann, wie die Träume der Jugend verblassen. Gilles macht die Erfahrung, allein zu sein, denn am Ende gehen alle ihres Weges.

    Diese Kinder von Marx und Coca-Cola glauben nicht an Gott, auch nicht wenigstens wie Pascal, aber sie glauben an Bildung, an das Kino und an die Freiheit. In ihrem Pathos des Lesens, des Lernens liegt einer der größten Unterschiede zu heute: Welcher Schüler kauft sich heute schon am Morgen noch fünf Zeitungen?

    Hier liegt die besondere Stärke und gegenwärtige Bedeutung des Films: Assayas ruft uns eine Epoche und eine Lebensform ins Gedächtnis, in der die Menschen kein Internet und kein Smartphone hatten, dafür viel Zeit, nicht nur zum Lesen. Man experimentierte mit sich selbst: Mit Sex, Drogen, man rauchte - Sicherheitsdenken, welcher Art auch immer galt als reaktionär, spießig oder als einfach dumm. Auch die Eltern spielen für diese Jugend einfach keine Rolle. Großartig!

    Vielleicht ist ja etwas dran an der Überlegung, dass wir etwas von dieser Generation lernen können. Nicht nur, aber auch, dass Sicherheitsdenken und Dummheit zusammengehören. Denn – siehe Pascal – nichts ist sicher, außer der Tod. Und so erzählt Assayas nicht nur indirekt, was uns heute fehlt, weil wir es vergessen haben, er zeigt uns auch, dass nichts so sein muss, wie es heute ist, sondern dass alles anders sein kann und irgendwann wird.