Die Kirchen hätten versagt, sagte die frühere Ministerpräsidentin von Thüringen, Christine Lieberknecht, vergangene Woche in einem Zeitungsinterview: "Die Kirche hat in dieser Zeit Hunderttausende Menschen allein gelassen. Kranke, Einsame, Alte, Sterbende."
Der Soziologe Hartmut Rosa kritisierte, dass zurzeit wenig von Kirchen oder von religiösen Vertretern zu hören ist. "Ich habe mich oft gewundert, wo eigentlich diese Mutlosigkeit herkommt, dass da das Gefühl entsteht: Die Gesellschaft will uns nicht hören", so Rosa im Deutschlandfunk. Und die FAZ veröffentlichte unlängst einen Kommentar über die Kirche mit dem Titel: "Nicht systemrelevant!".
Thomas Hirsch-Hüffell ist evangelischer Theologe. Fast 20 Jahre hat er das Gottesdienst-Institut der evangelischen Kirche geleitet. Außerdem ist er publizistisch tätig. Und er ist Fotograf. Aus seiner Sicht sind viele Entwicklungen in der Kirche allerdings ungewöhnlich und sehr positiv.
Christiane Florin: Herr Hirsch-Hüffel, wenn Sie Ihre Kamera scharf stellen. Was haben Sie in den vergangenen Wochen von den Kirchen gesehen?
Hirsch-Hüffel: Ich habe eine wunderbare Heilige Anarchie gesehen, also dass Leute sich einfach herausgenommen haben, Dinge zu tun, die sie vielleicht schon lange tun wollten: an Gartenzäunen mit der Quetsche zu stehen, den Leuten auf Verlangen Lieder zu singen, sie zu segnen, während sie im Vorgarten stehen, dass sie den Leuten Päckchen packen, dass sie sich vor der Tür was einfallen lassen, dass sie Leute anrufen, auch Sterbende. Von daher kann ich das nicht so ganz teilen, dass man sagt: Die haben auf breiter Linie die Sterbenden und die Leute verlassen. Das finde ich nicht fair.
Hartmut Rosa ist differenzierter. Das ist etwas Anderes. Aber dass man die Leute allein gelassen hat, das kann ich in den Gemeinden nicht bestätigen. Das ist die Chance der Gemeinden vor Ort gewesen, dass sie relativ gut ihre Leute kannten und was getan haben. Nicht alle gleichermaßen, aber in der gesamten Hilflosigkeit haben sie herumprobiert und haben sich irgend etwas überlegt. Hartmut Rosa ist ein anderes Thema.
Dass die Kirche sich im Augenblick nicht laut äußert, hängt damit zusammen, dass sie geübt hat, mit Eingeweihten, also mit Leuten zu sprechen, die schon dazugehören. Sie hat eine theologische Sprache und eine musikalische Sprache, die denen zugedacht ist. Die kann sich im öffentlichen Diskurs noch nicht so gut bewegen, und in diesem Diskurs schon mal gar nicht. Und das macht es schwer. Deshalb sind sie auch vorsichtig, leise und auch kleinlaut gelegentlich.
"Die Kirche kann keine Front bilden, sie ist Sauerteig"
Florin: Sie haben vorhin gesagt, die Kritik von Frau Lieberknecht, sei nicht fair gewesen. Aber sie ist nicht die einzige, die das sagt. Dahinter steckt vermutlich nicht alleine der Wunsch, dass die Kirchen Seelsorge leisten, sondern auch der Wunsch, dass sie dafür kämpfen. Sie sagten, die Kirchen seien nicht laut gewesen. Haben Sie dieses Kämpferische nicht vermisst? Oder ist kämpferisch im Zusammenhang mit Seelsorger die falsch Kategorie?
Hirsch-Hüffel: Wofür soll denn die Kirche kämpfen: Dass sie sich treffen darf? Ist das die Front, an der sie kämpfen sollte? Das finde ich überhaupt nicht. Sie soll Fantasie haben. Sie ist kein Nationalstaat. Sie kann keine Front bilden gegen etwas, sondern sie ist ein Sauerteig in einer Gesellschaft.
So gebärdet sie sich jetzt teilweise auch, dass sie hier und da auftaucht, flashmobartig und es auf diese Weise versucht, vergleichbar mit Guerilla, also eine Heilige Guerilla, die sagt: "Wir sind übrigens da. Wir sind es aber in kleiner Form." So wie das Virus auch hier und da auftaucht und nicht mehr einen Nationalstaat darstellt, sondern überall auftaucht, so taucht auch die Kirche überall hier und da auf. Das macht nichts her. Wir sind immer so gewöhnt, dass das was her macht. Das Robert Koch-Institut ist eine klare Institution, es hat Grenzen, es hat Verlautbarungen. Da denkt man "Hossa! Die stellen etwas dar." Das ist nicht die Art der Kirchen. Wofür sei sie genau kämpfen? Ich weiß es nicht.
Florin: Womit erklären Sie sich die Heftigkeit der Kritik? Ist das nun ein Problem der Kritikerinnen und Kritiker?
Hirsch-Hüffel: Ich glaube, es sind auch ein paar alte Rechnungen, die noch beglichen werden müssen. Die Kirche hat den Leuten in früheren Zeiten bis in die Betten hinein genau erklärt, was sie zu tun haben. Das war einfach zum Teil ekelhaft, und das ist es noch. Sie tritt immer wieder auf als großer Block, auf den man bauen kann. Jetzt, im Moment, tut sie das nicht. Ich bin eigentlich ganz froh darum, dass sie es ihr mal die Stimme verschlägt und sie nicht jetzt großkotzig herumredet, sondern neue Sachen ausprobiert.
Die alten Rechnungen heißen: Wir sagen jetzt mal "Hallo, wo seid ihr denn?". Früher wusstet ihr immer, was wir alles machen sollen – und jetzt wisst ihr gar nichts mehr. Ich denke: Ja, vielleicht ist es Zeit für Demut. Und vielleicht muss sie sich beschimpfen lassen im Augenblick, wenn etwas Gutes unter der Hand geschieht – meinetwegen.
"Erfolg einer enormen Religionsfreiheit"
Florin: Um Ostern herum gab es die erste Diskussion über die Frage, ob wieder Gottesdienste erlaubt sein sollten. Bei einer Insa-Umfrage kam heraus, dass 19 Prozent der Deutschen sagen, sie vermissen Gottesdienst an Ostern. Unter den konfessionell gebundenen Befragte waren es 29 Prozent der Katholiken, 24 Prozent der Protestanten, also mehr als im Durchschnitt der Bevölkerung, aber eben auch nicht die Mehrheit. Was sagen Ihnen solche Zahlen?
Hirsch-Hüffel: Die Zahlen sagen mir, dass wir in eine Zeit übergehen, wo es Bekenntnis-Gottesdienste gibt. Früher ging man in den Gottesdienst, weil das so war, weil man dort hinging. Es war eine Gewohnheit. Jetzt gibt es die Zeit, wo man hingeht, weil man etwas erwartet, weil die Pastorinnen eine nette Stimme hat, weil man Trost kriegt oder warum auch immer. Aber das sind Bekenntnis-Räume. Das ist der Erfolg einer enormen Religionsfreiheit, die nicht mehr verlangt, dass das ganze Dorf geht. Oder dass "man" geht. Das ist keine Schrumpfung, sondern es zeigt sich die Religionsfreiheit in ihrem ganzen Ausmaß. Man kann jetzt wählen. Man kann im Internet nachsehen und eine Heilerin anrufen und mit der reden, das ist auch ein religiöser Ausdruck.
Florin: Zeigt sich in der Corona-Krise etwas stärker, was vorher schon da war? Wirkt Corona wie eine Lupe oder zeigt sich auch für Sie etwas völlig Neues?
Hirsch-Hüffel: Ich glaube Corona zeigt auf allen Gebieten gesellschaftlich wie in einem Brennglas, was los ist. Der Kontrast wird regelrecht scharf gestellt, sodass man nun genauer die Grenzen erkennt. Insofern zeigt sich für mich da gar nichts Neues. Ich bin auf eine seltsame Weise unbesorgt, dass die Kirche daraus auch geläutert hervorgeht und etwas schneller kapiert, wo der Hase hinläuft. Dass es so einfach imperial nicht weitergeht.
"Der imperiale Gestus der Kirche geht zu Ende"
Florin: Was heißt imperial?
Hirsch-Hüffel: Die Kirche, eher die katholische als die evangelische, hat sich über die Jahrhunderte gebärdet wie ein Imperium. Und sie hat im Vatikan eine Regierung, sie hat einen Hofstaat. Diese Großform steht ja auch auch im Politischen in Frage. Diese Großform ist in Europa zu Ende. Das Imperiale, der imperiale Gestus der Kirche mit festen Häusern, mit großen Gehältern - das geht zu Ende, und es wird in eine andere Form überführt. Das ist ein Generationenprojekt, das aber das muss man klar sehen.
Florin: Und warum immer die bange Frage: Sind wir noch weiterhin systemrelevant? Ist das die falsche Frage?
Hirsch-Hüffel: Alle Systeme, die im Abstieg sind, haben diese Frage. Das ist völlig normal. Und man merkt: Man ist nicht so systemrelevant, wie man dachte. Und das wird Zeit, dass man es merkt und dass man Formen findet, wie es anders geht. Also die Reform-Gemeinde in Ihrem Einspieler sagt: "Wir machen kleine Formate, Versuch und Irrtum. Wir wissen nicht, wie es geht, und das sagen wir auch öffentlich. Wir teilen die Ungewissheit der Leute." Das wäre die neue Demut. Das ist doch auch Jesus gemäß. Ich meine: Auf einem Wohnungslosen ein Imperium zu bauen ist, das ist irgendwie auch ein bisschen seltsam.