Mario Dobovisek: Zu uns ins Studio gekommen ist Ursula Enders, sie ist Vorsitzende des Vereins Zartbitter, einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Jungen und Mädchen. Guten Tag, Frau Enders!
Ursula Enders: Guten Tag!
Dobovisek: "Ich will sterben", schreibt Pola Kinski in ihrem Buch. Ist das typisch für Opfer sexuellen Missbrauchs?
Enders: Das tiefe Gefühl der Ohnmacht löst wirklich oft Suizidgedanken aus, und Mädchen und Jungen sind in der Situation allein, und ich denke, gerade in so einem Fall wie hier die Tochter von Kinski ist es so, dass sie nicht nur in der Familie allein ist und die Schwierigkeit hat, so etwas offen zu machen, sondern vor allen Dingen auch deshalb, weil sie ein öffentliches Opfer gewesen wäre, und hätte sie es aufgemacht, so hätte sie entblößt auch in der Öffentlichkeit gestanden.
Dobovisek: Ist Pola Kinski aus Ihrer Sicht eine Heldin, weil sie diese Taten öffentlich macht und damit auch im Grunde um Hilfe sucht?
Enders: Ich denke, mit dem zeitlichen Abstand und mit dem Zeitgeist, den wir heute haben, einem größeren Bewusstsein für die Problematik fällt es heute leichter, es öffentlich zu machen. Ich finde, alle, die es öffentlich machen, sind extrem mutig, und ich möchte sie nicht als die Heldin darstellen, sondern einfach den Mut aller Betroffenen, die sich artikulieren, hier wahrnehmen.
Dobovisek: Sie haben den Zeitgeist erwähnt, den Zeitgeist der damaligen Zeit – diese Vergehen sind ja schon Jahrzehnte her. Hat sich das deutlich gewandelt, wie wir heute mit dem Thema umgehen?
Enders: Wenn Mädchen und Jungen heute betroffen sind, haben sie zumindest im Kindergarten, in der Schule, im Fernsehen, über das Radio gehört, dass es sexualisierte Gewalt gibt, dass es Missbrauch gibt. Sie wissen auch, dass ein Täter, eine Täterin Unrecht tut. Was sich nicht verändert hat, ist, dass sie auch heute noch fast immer ohne Hilfe bleiben, weil wir reden über die Fälle in der Vergangenheit, wir reden über Prävention – und bieten nach wie vor kaum Hilfe für die Opfer heute an. Das heißt, wir werden in 20 Jahren uns damit beschäftigen müssen, dass wir die Fälle von heute aufarbeiten. Insoweit ist das veränderte öffentliche Bewusstsein ein wesentlicher Schritt, aber der erste.
Dobovisek: Bevor wir die Hilfen möglicherweise gleich weiter vertiefen werden, noch einmal kurz zurück zu dem Zeitgeist: Gibt es heute aus Ihrer Sicht weniger Fälle sexuellen Missbrauchs in den Familien aber auch in Institutionen?
Enders: Es werden immer neue Formen bekannt, zum Beispiel auch Missbrauch durch Geschwister, gerade wenn es in Institutionen geht. Wir haben andere Formen inzwischen über sexualisierte Gewalt in den Medien, das heißt, wir können nicht sagen, haben wir mehr oder weniger, sondern die Formen verändern sich. Was ich aber glaube, ist, dass Kinder und Jugendliche heute eher wissen, dass es Unrecht ist, und auch mithilfe von Freundinnen und Freunden stoppen können.
Dobovisek: Wie hoch schätzen Sie die Zahl des sexuellen Missbrauchs, die Zahl der Opfer ein in den Familien im Verhältnis jetzt zu Opfern zum Beispiel in Institutionen?
Enders: Ein Drittel aller Taten finden in der Familie statt, zwei Drittel außerhalb, und davon sind natürlich sehr viele auch in Institutionen. Wir wissen, dass etwa ein Drittel aller Täter jünger als 21 Jahre ist, und das sind oft auch Felder außerhalb der Familie. Deshalb: Die Fälle in der Familie sind häufig die Fälle, in denen die betroffenen Mädchen und Jungen die Taten oder die an ihnen verübten Gewalthandlungen am wenigsten stoppen können und am wenigsten Hilfe bekommen und auch oft die massivsten Schädigungen haben, weil es oft über viele Jahre läuft. Aber sie machen ein Drittel aus, und wir müssen uns beide Bereiche anschauen.
Dobovisek: Wie können Sie den Opfern helfen?
Enders: Das Erste ist: Opfern muss geglaubt werden, auch wenn nicht alle Details, die Kinder erzählen, nicht stimmen. Das überfordert die Wahrnehmung von Kindern und entspricht auch nicht ihrer Verarbeitung, weil sie vieles ausblenden und dann nicht ganz exakt wiedergeben können, wie die Polizei das will, aber die Kernaussage stimmt. Das Erste ist Glauben, das Zweite ist räumlicher Schutz, und dann brauchen Mädchen und Jungen akute Unterstützung in der Verarbeitung, Soforthilfe, und wir können nicht sagen, ihr kriegt vielleicht in zwei, drei Jahren mal eine Therapie.
Dobovisek: Und das kostet Geld.
Enders: Das kostet Geld, aber die Trauma-Folgekosten sind viel höher, wenn wir diese Hilfe nicht geben. Und für mich ist es das Belastendste in der Arbeit, mitzubekommen, dass auch Mädchen und Jungen heute noch in der Mehrzahl der Fälle in der Aufarbeitung alleine bleiben. Das wäre vergleichbar wie einem Unfallopfer auf der Autobahn, das keine Hilfe bei der Heilung der inneren Blutungen bekommt, und ich finde, hier ist die Politik absolut verantwortungslos. Seit drei Jahren wird darüber gesprochen, und wir haben bis jetzt keinen Pfennig mehr an Geld für Hilfen für die aktuellen Opfer.
Dobovisek: Ist das fahrlässig, damit sozusagen, wie Sie es ja beschrieben haben, die Folgeschäden oder die Folgen des sexuellen Missbrauchs in vielen Jahren, ja, immens zu steigern?
Enders: Ich finde, es ist eine Form der Mittäterschaft, weil die Politik sich absolut nicht der Verantwortung stellt und wirklich politische Kosmetik betreibt, wenn sie über Aufarbeitung spricht, weder den ehemaligen Opfern ihre Entschädigung und Therapie anbieten, noch die heutigen Opfer versorgt.
Dobovisek: Wie drücken sich denn diese Spätfolgen aus, diese traumatischen Belastungen bei Erwachsenen?
Enders: Das ist sehr unterschiedlich. Es führt zu Ängsten, es kann zu Depressionen führen, andere psychische Erkrankungen, oder aber auch zu dem Gefühl, ich muss Besonderes leisten, dass man sich überfordert. Nicht alle Folgen werden sofort negativ definiert von der Umwelt. Es gibt nicht die Folge, aber viele Folgen sind darauf zurückzuführen, viele psychosomatische Erkrankungen auch.
Dobovisek: Kommen wir zurück zum sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen, die wissenschaftliche Aufarbeitung wurde seitens der Bischofskonferenz ja diese Woche gestoppt. Wie sollte es mit dieser Aufarbeitung nun weitergehen?
Enders: Ja, die Kirche hat sich sicherlich nicht mit Ruhm bekleckert, gleichwohl habe ich damit gerechnet, dass die Aufarbeitung sehr schwierig wird, und zwar nicht aufgrund nur dieser Dynamik, dass Kirche wieder zumacht, ebenso wie die Politik, die das Ding dann wieder ausblendet, ebenso wie Sportverbände, einzelne Institutionen, das sind immer Wellenbewegungen. Man nähert sich dem Thema und geht wieder zurück. Auf der anderen Seite hatte ich damit gerechnet, weil Prof. Pfeiffer nicht derjenige ist, der sehr explizit im Thema ist und sich intensiv vermutlich nicht ausreichend mit den innerkirchlichen Dynamiken oder institutionellen Dynamiken auseinander.
Dobovisek: Was veranlasst Sie zu diesem Vorwurf?
Enders: Ja, ich bekomme mit, dass Herr Prof. Pfeiffer von einem Thema zum anderen wechselt, oft sehr prägnant auch Dinge auf den Punkt benennt, das finde ich ja auch sehr lobenswert momentan, dass das Thema wieder in der Öffentlichkeit ist, aber zugleich nicht immer ganz differenziert zum Thema Missbrauch arbeitet. Er hat ja eine Studie vorgelegt vor zwei Jahren, die auch zumal Teile des Themas nicht erfasst hat und davon ausging, der Missbrauch ist zurückgegangen, und er hat ja die Fälle sexualisierter Gewalt durch Jugendliche nicht mitbenannt und auch Betroffene nicht befragt, die in Heimen und in der Psychiatrie sind, das heißt, er hat den ganzen Bereich ja ausgeschnitten.
Dobovisek: Das ist jetzt Ihre Auffassung, die Meinung Christian Pfeiffers können wir an dieser Stelle nicht nachvollziehen. Wer wäre denn oder welches Institut wäre denn besser geeignet, um diese wissenschaftliche Aufarbeitung zu verfolgen?
Enders: Ja, zum Beispiel könnte ich glauben, Herr Wetzels, der damals auch für Pfeiffer die erste repräsentative Untersuchung gemacht hat und der sowohl Jurist als auch Psychologe ist. Die Kirche muss jetzt was tun. ich finde es nicht falsch, dass sie wieder in die Verantwortung genommen wird, und mein Anliegen ist es, dass man wirklich guckt, jetzt auch die Teile der Kirche zu unterstützen, die eine Aufarbeitung wollen – und die gibt es, obwohl: Die Widerstände sind sehr groß.
Dobovisek: Wie groß sind die Widerstände und wie klein ist der Teil derer in der Kirche, die eine öffentliche Aufklärung wollen?
Enders: Ich glaube, das Fußvolk will die öffentliche Aufarbeitung, und ich habe eine sehr kritische Distanz immer wieder zur Kirche, habe sie auch oft kritisiert öffentlich, aber ich weiß, dass es Bistümer gibt, die es wirklich wollen, das habe ich gehört, es gibt auch Bistümer, die keine Akten vernichtet haben, und ich möchte, dass damit angefangen wird.
Dobovisek: Was sagen Sie zu den Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch und zu den Strafen? Reicht der Strafrahmen aus?
Enders: Ich habe da eine sehr differenzierte Position. Wenn man immer höhere Strafen fordert, führt das dazu, dass den heutigen Mädchen und Jungen die Aufdeckung der Gewalt erschwert wird. Wenn Sie hören, jemand geht lebenslang in den Knast – lebenslänglich ist ja relativiert –, und immer härtere Strafen, dann bedeutet das, dass sie aktuell oft weniger sprechen, weil es ja eine von ihnen geliebte Person ist und sie noch gar nicht wahrnehmen, dass es ist. Ich denke, wir müssen sehr differenzierte Formen finden, gleichwohl kann ich auch das Anliegen der erwachsenen Betroffenen verstehen, dass sie möchten, dass die Gesellschaft einen klaren Standpunkt zur Gewichtung nimmt. Und mir ist die Ausweitung der Verjährungsfrist und Abschaffung der Verjährungsfristen auf dem Rahmen der zivilrechtlichen Ebene, nämlich der Entschädigung der Opfer, sehr viel wichtiger, und ich denke, da müssen wir einfach zusammen gucken.
Dobovisek: Ursula Enders ist Vorsitzende von Zartbitter e.V., einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Jungen und Mädchen. Vielen Dank für Ihren Besuch hier heute morgen bei uns im Studio!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ursula Enders: Guten Tag!
Dobovisek: "Ich will sterben", schreibt Pola Kinski in ihrem Buch. Ist das typisch für Opfer sexuellen Missbrauchs?
Enders: Das tiefe Gefühl der Ohnmacht löst wirklich oft Suizidgedanken aus, und Mädchen und Jungen sind in der Situation allein, und ich denke, gerade in so einem Fall wie hier die Tochter von Kinski ist es so, dass sie nicht nur in der Familie allein ist und die Schwierigkeit hat, so etwas offen zu machen, sondern vor allen Dingen auch deshalb, weil sie ein öffentliches Opfer gewesen wäre, und hätte sie es aufgemacht, so hätte sie entblößt auch in der Öffentlichkeit gestanden.
Dobovisek: Ist Pola Kinski aus Ihrer Sicht eine Heldin, weil sie diese Taten öffentlich macht und damit auch im Grunde um Hilfe sucht?
Enders: Ich denke, mit dem zeitlichen Abstand und mit dem Zeitgeist, den wir heute haben, einem größeren Bewusstsein für die Problematik fällt es heute leichter, es öffentlich zu machen. Ich finde, alle, die es öffentlich machen, sind extrem mutig, und ich möchte sie nicht als die Heldin darstellen, sondern einfach den Mut aller Betroffenen, die sich artikulieren, hier wahrnehmen.
Dobovisek: Sie haben den Zeitgeist erwähnt, den Zeitgeist der damaligen Zeit – diese Vergehen sind ja schon Jahrzehnte her. Hat sich das deutlich gewandelt, wie wir heute mit dem Thema umgehen?
Enders: Wenn Mädchen und Jungen heute betroffen sind, haben sie zumindest im Kindergarten, in der Schule, im Fernsehen, über das Radio gehört, dass es sexualisierte Gewalt gibt, dass es Missbrauch gibt. Sie wissen auch, dass ein Täter, eine Täterin Unrecht tut. Was sich nicht verändert hat, ist, dass sie auch heute noch fast immer ohne Hilfe bleiben, weil wir reden über die Fälle in der Vergangenheit, wir reden über Prävention – und bieten nach wie vor kaum Hilfe für die Opfer heute an. Das heißt, wir werden in 20 Jahren uns damit beschäftigen müssen, dass wir die Fälle von heute aufarbeiten. Insoweit ist das veränderte öffentliche Bewusstsein ein wesentlicher Schritt, aber der erste.
Dobovisek: Bevor wir die Hilfen möglicherweise gleich weiter vertiefen werden, noch einmal kurz zurück zu dem Zeitgeist: Gibt es heute aus Ihrer Sicht weniger Fälle sexuellen Missbrauchs in den Familien aber auch in Institutionen?
Enders: Es werden immer neue Formen bekannt, zum Beispiel auch Missbrauch durch Geschwister, gerade wenn es in Institutionen geht. Wir haben andere Formen inzwischen über sexualisierte Gewalt in den Medien, das heißt, wir können nicht sagen, haben wir mehr oder weniger, sondern die Formen verändern sich. Was ich aber glaube, ist, dass Kinder und Jugendliche heute eher wissen, dass es Unrecht ist, und auch mithilfe von Freundinnen und Freunden stoppen können.
Dobovisek: Wie hoch schätzen Sie die Zahl des sexuellen Missbrauchs, die Zahl der Opfer ein in den Familien im Verhältnis jetzt zu Opfern zum Beispiel in Institutionen?
Enders: Ein Drittel aller Taten finden in der Familie statt, zwei Drittel außerhalb, und davon sind natürlich sehr viele auch in Institutionen. Wir wissen, dass etwa ein Drittel aller Täter jünger als 21 Jahre ist, und das sind oft auch Felder außerhalb der Familie. Deshalb: Die Fälle in der Familie sind häufig die Fälle, in denen die betroffenen Mädchen und Jungen die Taten oder die an ihnen verübten Gewalthandlungen am wenigsten stoppen können und am wenigsten Hilfe bekommen und auch oft die massivsten Schädigungen haben, weil es oft über viele Jahre läuft. Aber sie machen ein Drittel aus, und wir müssen uns beide Bereiche anschauen.
Dobovisek: Wie können Sie den Opfern helfen?
Enders: Das Erste ist: Opfern muss geglaubt werden, auch wenn nicht alle Details, die Kinder erzählen, nicht stimmen. Das überfordert die Wahrnehmung von Kindern und entspricht auch nicht ihrer Verarbeitung, weil sie vieles ausblenden und dann nicht ganz exakt wiedergeben können, wie die Polizei das will, aber die Kernaussage stimmt. Das Erste ist Glauben, das Zweite ist räumlicher Schutz, und dann brauchen Mädchen und Jungen akute Unterstützung in der Verarbeitung, Soforthilfe, und wir können nicht sagen, ihr kriegt vielleicht in zwei, drei Jahren mal eine Therapie.
Dobovisek: Und das kostet Geld.
Enders: Das kostet Geld, aber die Trauma-Folgekosten sind viel höher, wenn wir diese Hilfe nicht geben. Und für mich ist es das Belastendste in der Arbeit, mitzubekommen, dass auch Mädchen und Jungen heute noch in der Mehrzahl der Fälle in der Aufarbeitung alleine bleiben. Das wäre vergleichbar wie einem Unfallopfer auf der Autobahn, das keine Hilfe bei der Heilung der inneren Blutungen bekommt, und ich finde, hier ist die Politik absolut verantwortungslos. Seit drei Jahren wird darüber gesprochen, und wir haben bis jetzt keinen Pfennig mehr an Geld für Hilfen für die aktuellen Opfer.
Dobovisek: Ist das fahrlässig, damit sozusagen, wie Sie es ja beschrieben haben, die Folgeschäden oder die Folgen des sexuellen Missbrauchs in vielen Jahren, ja, immens zu steigern?
Enders: Ich finde, es ist eine Form der Mittäterschaft, weil die Politik sich absolut nicht der Verantwortung stellt und wirklich politische Kosmetik betreibt, wenn sie über Aufarbeitung spricht, weder den ehemaligen Opfern ihre Entschädigung und Therapie anbieten, noch die heutigen Opfer versorgt.
Dobovisek: Wie drücken sich denn diese Spätfolgen aus, diese traumatischen Belastungen bei Erwachsenen?
Enders: Das ist sehr unterschiedlich. Es führt zu Ängsten, es kann zu Depressionen führen, andere psychische Erkrankungen, oder aber auch zu dem Gefühl, ich muss Besonderes leisten, dass man sich überfordert. Nicht alle Folgen werden sofort negativ definiert von der Umwelt. Es gibt nicht die Folge, aber viele Folgen sind darauf zurückzuführen, viele psychosomatische Erkrankungen auch.
Dobovisek: Kommen wir zurück zum sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen, die wissenschaftliche Aufarbeitung wurde seitens der Bischofskonferenz ja diese Woche gestoppt. Wie sollte es mit dieser Aufarbeitung nun weitergehen?
Enders: Ja, die Kirche hat sich sicherlich nicht mit Ruhm bekleckert, gleichwohl habe ich damit gerechnet, dass die Aufarbeitung sehr schwierig wird, und zwar nicht aufgrund nur dieser Dynamik, dass Kirche wieder zumacht, ebenso wie die Politik, die das Ding dann wieder ausblendet, ebenso wie Sportverbände, einzelne Institutionen, das sind immer Wellenbewegungen. Man nähert sich dem Thema und geht wieder zurück. Auf der anderen Seite hatte ich damit gerechnet, weil Prof. Pfeiffer nicht derjenige ist, der sehr explizit im Thema ist und sich intensiv vermutlich nicht ausreichend mit den innerkirchlichen Dynamiken oder institutionellen Dynamiken auseinander.
Dobovisek: Was veranlasst Sie zu diesem Vorwurf?
Enders: Ja, ich bekomme mit, dass Herr Prof. Pfeiffer von einem Thema zum anderen wechselt, oft sehr prägnant auch Dinge auf den Punkt benennt, das finde ich ja auch sehr lobenswert momentan, dass das Thema wieder in der Öffentlichkeit ist, aber zugleich nicht immer ganz differenziert zum Thema Missbrauch arbeitet. Er hat ja eine Studie vorgelegt vor zwei Jahren, die auch zumal Teile des Themas nicht erfasst hat und davon ausging, der Missbrauch ist zurückgegangen, und er hat ja die Fälle sexualisierter Gewalt durch Jugendliche nicht mitbenannt und auch Betroffene nicht befragt, die in Heimen und in der Psychiatrie sind, das heißt, er hat den ganzen Bereich ja ausgeschnitten.
Dobovisek: Das ist jetzt Ihre Auffassung, die Meinung Christian Pfeiffers können wir an dieser Stelle nicht nachvollziehen. Wer wäre denn oder welches Institut wäre denn besser geeignet, um diese wissenschaftliche Aufarbeitung zu verfolgen?
Enders: Ja, zum Beispiel könnte ich glauben, Herr Wetzels, der damals auch für Pfeiffer die erste repräsentative Untersuchung gemacht hat und der sowohl Jurist als auch Psychologe ist. Die Kirche muss jetzt was tun. ich finde es nicht falsch, dass sie wieder in die Verantwortung genommen wird, und mein Anliegen ist es, dass man wirklich guckt, jetzt auch die Teile der Kirche zu unterstützen, die eine Aufarbeitung wollen – und die gibt es, obwohl: Die Widerstände sind sehr groß.
Dobovisek: Wie groß sind die Widerstände und wie klein ist der Teil derer in der Kirche, die eine öffentliche Aufklärung wollen?
Enders: Ich glaube, das Fußvolk will die öffentliche Aufarbeitung, und ich habe eine sehr kritische Distanz immer wieder zur Kirche, habe sie auch oft kritisiert öffentlich, aber ich weiß, dass es Bistümer gibt, die es wirklich wollen, das habe ich gehört, es gibt auch Bistümer, die keine Akten vernichtet haben, und ich möchte, dass damit angefangen wird.
Dobovisek: Was sagen Sie zu den Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch und zu den Strafen? Reicht der Strafrahmen aus?
Enders: Ich habe da eine sehr differenzierte Position. Wenn man immer höhere Strafen fordert, führt das dazu, dass den heutigen Mädchen und Jungen die Aufdeckung der Gewalt erschwert wird. Wenn Sie hören, jemand geht lebenslang in den Knast – lebenslänglich ist ja relativiert –, und immer härtere Strafen, dann bedeutet das, dass sie aktuell oft weniger sprechen, weil es ja eine von ihnen geliebte Person ist und sie noch gar nicht wahrnehmen, dass es ist. Ich denke, wir müssen sehr differenzierte Formen finden, gleichwohl kann ich auch das Anliegen der erwachsenen Betroffenen verstehen, dass sie möchten, dass die Gesellschaft einen klaren Standpunkt zur Gewichtung nimmt. Und mir ist die Ausweitung der Verjährungsfrist und Abschaffung der Verjährungsfristen auf dem Rahmen der zivilrechtlichen Ebene, nämlich der Entschädigung der Opfer, sehr viel wichtiger, und ich denke, da müssen wir einfach zusammen gucken.
Dobovisek: Ursula Enders ist Vorsitzende von Zartbitter e.V., einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Jungen und Mädchen. Vielen Dank für Ihren Besuch hier heute morgen bei uns im Studio!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.