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Die Klagegedichte der Nelly Sachs
"Unsere abgestürzten Versuche zu Gott"

Nelly Sachs fühlte sich mehr als Deutsche denn als Jüdin. Dann kam Hitler. Politische und private Krisen führten dazu, dass Nelly Sachs sich in ihren Gedichten mit der jüdischen Überlieferung beschäftigte - vor allem mit der Mystik. Ihre Dichtung ist Widerstand und Todesklage angesichts der Shoah.

Von Burkhard Reinartz |
Die Schriftstellerin Nelly Sachs, aufgenommen am 24.10.1966 in ihrer Wohnung im schwedischen Stockholm, nachdem die Vergabe des Literaturnobelpreises an sie bekanntgegeben worden war.
Die Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs, aufgenommen im Jahr 1966 (imago / United Archives International)
Völker der Erde,
Zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit dem Messer des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Völker der Erde.
O dass nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt -
Und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht -

Völker der Erde,
lasset die Worte an ihrer Quelle,
denn sie sind es, die die Horizonte
in die wahren Himmel rücken können -
Diese Zeilen spricht die Lyrikerin Nelly Sachs am 17. Oktober 1965 im Rundbau der Frankfurter Paulskirche. An diesem Tag erhält sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zartgliedrig ist sie, klein, fast wie ein Kind. Ihr gilt der Ruhm der Stunde, der 70-jährigen sprachgewaltigen Dichterin. Sie hält eine kurze Dankesrede.
"Wenn ich heute, nach langer Krankheit, meine Scheu, nach Deutschland zu kommen, überwunden habe, geschieht das auch, um der neuen deutschen Generation zu sagen, dass ich an sie glaube."

"Kinderhölle der Einsamkeit"

Nichts deutet in den Anfängen ihres Lebens darauf hin, dass sie einmal zu den jüdischen Exildichterinnen gehören wird. Leonie - Nelly - Sachs wird am 10. Dezember 1891 in Berlin geboren. Die Eltern stammen aus Kaufmannsfamilien. Die Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde ist reine Formsache. Sie empfinden sich in erster Linie als Deutsche. Nelly wächst als Einzelkind auf - in der abgeschotteten Idylle des Berliner Tiergartenviertels.
"Die kleine Kinderhölle der Einsamkeit. Tiergartenspaziergänge in der Abendsonne. Angst, das Anderssein zu erkennen zu geben. Immer versteckt. Schlechte Schülerin. Schlecht im Rechnen. War Träumerin. Hab für mich getanzt, 'in mich eingerollt', schrecklich schüchtern."
Die Lyrikerin Mascha Kaléko - "Ich möchte in dieser Zeit nicht Gott sein"
Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, schrieb Mascha Kaleko: "Wir haben keinen Freund auf dieser Welt. Nur Gott." Später klagte sie Gott an.

"Ungebrochenes religiöses Vokabular"

Als ihr Vater 1930 nach längerer Krankheit stirbt, ehrt sie ihn mit einem Gedicht, das ihre spirituelle Weltanschauung zeigt.
Wir müssen leiser, immer leiser werden,
Dass uns der sanfte Engel wieder ruft,
Im Lärm der Dinge dunkelt eine Gruft,
Drin Friede ruht, das schöne Totenwort.

Gott lebt im Beten unsrer Liebe fort,
sinkt immer tiefer in die eigne Segnung.
Hier unten sind wir nur Begegnung.
Doch Aufgeblühte sind wir dort.
"Das Gedicht ist sicher noch ganz einer neuromantischen Metaphorik verhaftet: 'Gott lebt im Beten unserer Liebe fort'. Das ist traditionelles, noch ungebrochenes religiöses Vokabular." Sagt Karl-Josef Kuschel hat sich intensiv mit Nelly Sachs auseinandergesetzt. Bis zum Jahr 2013 lehrte er Theologie des interreligiösen Dialogs an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen: "Aber die letzten beiden Zeilen des Gedichts lassen in der Tat etwas Anderes anklingen. Hier unten, das heißt also unter uns Menschen, sind wir nur Begegnung. Wir begegnen uns auch mit unserer Fraglichkeit, mit unserer Gebrochenheit, also mit unserer Endlichkeit."

Liebe und Todessehnsucht

Schon als Kind schreibt Nelly ihre ersten Gedichte und Erzählungen. Mit siebzehn Jahren erlebt die junge Frau etwas, was sie aus der Bahn wirft: Als sie ihre Eltern an einen Kurort begleitet, wird die junge Frau vom "größten Schmerz der Liebe" getroffen. Sie lernt einen älteren Mann kennen, in den sie all ihr Hoffen und Sehnen hineinlegt. Der Vater verbietet die Beziehung.
Kuschel: "Man kann Nelly Sachs’ Dichtung nur im Kontext ihrer Zeiterfahrung verstehen, und zwar als liebende Frau, die total enttäuscht wird, gebrochen ist, gerade auch in ihrer Sehnsuchtserfahrung nach einem Geliebten. Das ist die individuelle Ebene. Und dann als Jüdin, die begreift, was auf dem Spiel stand durch die Nazi- Verfolgung und die Naziverbrechen und dass sie den Mut hatte und die Kraft zu einer sprachlichen Beschwörung des Gefährdeten."
Nach dem Tod des Vaters wird sie ihrer großen Liebe wieder begegnen und seine Ermordung durch die Nazischergen erleben.
"Von meinem siebzehnten Jahr an habe ich an einem Schicksal gestanden, dessen Schmerzenssinn mir verborgen blieb. Ein Schicksal, dass mich haarnah an den Tod brachte."
Sie verweigert die Nahrungsaufnahme, magert auf Haut und Knochen ab. Todessehnsucht. Der Arzt Richard Cassirer, ein enger Freund der Familie stellt die Diagnose: "Anorexia nervosa" - Magersucht. Richard Cassirer weiß, dass der jungen Frau kein Medikament helfen kann. Er ermutigt sie, zu schreiben, um ihren Schmerz zu bewältigen. Sie folgt seinem Rat.
Wenn wir schlafen gehn,
Weinen wir hier in die Kissen:
Wachen ist tiefes Vermissen.
Schlafen ist Heimwärtswehn.

Wenn wir schlafen gehen,
Werden wir liebend gebettet:
Engel naht, tränenverspätet,
Schwindet auf duftenden Zehn.

Wenn wir schlafen gehen
Üben wir lächelnd das Sterben.

Eine aufgezwungene Identität

Zwischen 1910 und 1933 lebt Nelly Sachs im elterlichen Haus ein unspektakuläres Leben. Sie versucht, ihre Einsamkeitsgefühle und Todessehnsucht in Schach zu halten.
"Ich besorgte Häusliches, pflegte, wo Krankheit war, und begann, wenn das Atmen schwer wurde, Zettel zu bekritzeln. Zuweilen sandte ich Selma Lagerlöf davon, wie man sein Gebet hinaus ins Unwirkliche richtet."
Die junge Frau veröffentlicht die ersten Texte und Gedichte. Die märchenhaften Texte werden konzentrierter. Auch die Inhalte ihrer Gedichte wandeln sich. Sie wachsen aus der rein persönlichen Sphäre in einen universelleren Raum.
Im Januar 1933 wird Adolf Hitler Reichskanzler. Die Jahre der "Sternenverdunklung" beginnen. Nelly Sachs, die sich bis dahin mehr als Deutsche fühlte denn als Jüdin, wird wie vielen anderen assimilierten Juden eine jüdische Identität aufgezwungen.
"Erst später, angesichts des aufkommenden Antisemitismus, besinnt sie sich, dass die individuelle Krise erweitert werden muss auf die Krise der Zugehörigkeit zu diesem Volk," analysiert Kuschel, "da entsteht dann eine Verbindung zu ihrer jüdischen Herkunft, die ja völlig verdrängt war durch die Assimilation. Die Erfahrung lautet: Wenn du vergisst, dass du Jude bist, werden dich andere daran erinnern."

"Das Sinken geschieht um des Steigens willen"

In den Jahren des Terrors erwacht ihr jüdisches Lebensgefühl. Sie entdeckt die Kabbala, die chassidische Mystik.
Besonders eine Zeile aus dem Schöpfungsbuch der jüdischen Mystik wird zum Leitstern ihres Lebens:
"Das Sinken geschieht um des Steigens willen."

Dem Naziterror ausgeliefert

Die Nationalsozialisten enteignen die Häuser der Familie Sachs. Fast ohne Einkommen leben Mutter und Tochter in einem möblierten Zimmer und warten auf die Möglichkeit zur Ausreise oder auf die Deportation. Mehrfach wird die Dichterin zur Gestapo vorgeladen. Eines Morgens dringen SA-Leute in ihre Wohnung ein und plündern sie aus.
Passanten vor einer zerstörten Fensterfront eines jüdischen Geschäfts in Berlin nach der Reichspogromnacht 1938.
Im Nationalsozialismus gab es für Juden keine Sicherheit (picture alliance/KEYSTONE)
Es kamen Schritte. Starke Schritte. Schritte stießen an die Tür. Sofort sagten sie: Die Zeit gehört uns.

Die Tür war die erste Haut die aufgerissen wurde. Die Haut des Heims. Dann fuhr das Trennungsmesser tiefer. Und dies geschah auf der Erde.

Unter Bedrohung leben: im offenen Grab verwesen ohne Tod. Das Gehirn fasst nicht mehr. Hier ist nichts mehr zu fassen, hier nicht!
Alles dahin gelebte - Hier.
alles dahin geliebte - Hier.
Gnade des Nicht-mehr-sein-Dürfens. Höchster Wunsch auf Erden: Sterben ohne gemordet zu werden.

Flucht ins Unwirtliche

Am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Die Zeit des Wartens auf die Einreiseerlaubnis nach Schweden wird immer gefährlicher. Am 16. Mai erhält Nelly Sachs die Einweisung ins Arbeitslager als Durchgang zum Konzentrationslager. Verzweifelt läuft sie zur schwedischen Botschaft - wo die Einreiseerlaubnis bereits seit zwei Wochen vorliegt. Noch am gleichen Tag entkommen Mutter und Tochter mit einem der letzten Passagierflugzeuge, die Berlin verlassen durften, dem Holocaust. Ihr einziger Besitz: ein Koffer mit persönlichen Dingen und ein paar Reichsmark.
Schweden zeigt sich bei der Ankunft unwirtlich und abweisend. Mutter und Tochter leben provisorisch in einem Kindergarten und später bei verschiedenen Familien. Nach eineinhalb Jahren beziehen sie eine winzige Parterrewohnung am Bergsundstrand 23 im Stockholmer Süden. Bis zu ihrem Lebensende wird Nelly Sachs in der kleinen Wohnung am Bergsundstrand leben. Zwischen 1940 und 1950 sind die finanziellen Verhältnisse von Mutter und Tochter katastrophal. Sie können sich nur durch Zuwendungen der jüdischen Gemeinde über Wasser halten.
"Armut, Krankheit, vollkommene Verzweiflung! Weiß heute noch nicht, wie ich überhaupt überlebte."

Der Tod als Lehrmeister

Nelly Sachs lernt schwedisch, um als Übersetzerin zu arbeiten. Dann erkrankt Margarethe Sachs schwer. Tagsüber pflegt die Tochter ihre Mutter. Nachts, wenn die alte Frau schläft, arbeitet die inzwischen 50-jährige Dichterin an ihren Gedichten. Hier, am Tisch der winzigen Küche, schreibt sie ihre weltberühmten Gedichte. Die Dichterin verarbeitet ihren persönlichen Schmerz, indem sie ihn in den kollektiven Schmerz des jüdischen Volkes einbettet. Allmählich entsteht ihr eigentliches Werk, für das sie 1965 den Nobelpreis erhalten wird.
Zum 100. Geburtstag des Dichters Wolfgang Borchert - Rufer in der Trümmerwüste
Gott hat versagt und der Dichter klagt ihn an: "Draußen vor der Tür", uraufgeführt 1947, ist auch ein spirituelles Werk. Wolfgang Borchert erzählt darin die Geschichte eines Kriegsheimkehrers.
"Dieses Leben in den Nächten, viele Jahre ohne Schlaf, eigentlich jede Nacht den Tod neu gelernt, da ich das letzte mir gebliebene geliebte Wesen so weit fort umfangen sah. Dieses Leben zwang mir im Angesicht der Leidenden die Worte auf, die später meine Gedichte hießen. - Der Tod war mein Lehrmeister."
Karl-Josef Kuschel: "'Der Tod war mein Lehrmeister'. Da klingt etwas Anderes an. Es ist nämlich der Tod des eigenen Volkes, die Vernichtung des Volkes, die grauenhafte Erfahrung, dass erst dieses Sterben und der erzwungene Tod dieses Volkes ihr eine andere Weise des Umgangs mit ihrem Leben, mit ihrer Sprache, mit ihrer Dichtung verschafft hat. Und das ist vielleicht auch das Geheimnis von Nelly Sachs, dass sie angesichts eben des massenhaften Todes nicht resigniert ist, nicht verstummt ist, nicht so zerbrochen war, dass sie gar keine Sprache mehr hatte, sondern sie beginnt mit einer ganz neuen Sprache."
"Ein Dante, ein Shakespeare wäre notwendig, der Menschheit diesen Abgrund zu zeigen, aber so muss es eine schwache Frau tun."

O die Schornsteine

O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft –
Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?
O die Schornsteine
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –
Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?
O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war –
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod –
O ihr Schornsteine,
O ihr Finger
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!
Ein Gleis führt zu einem großen Backsteinbau
Am Ende dieser Gleise endeten im KZ Auschwitz die Leben von mehr als einer Million Juden (Zuma Press / Imago / Omar Marques)
Nelly Sachs stimmt die Totenklage für sechs Millionen ermordete Juden an. Ihre Klage umfasst auch die Anklage gegen die "Unmenschen" und gegen alle, die weggeschaut und geschwiegen haben, die Anklage gegen das "nesselbewachsene Ohr" der Menschheit.
Wir Toten Israels sagen euch:
Wir reichen schon einen Stern weiter in unseren
verborgenen Gott hinein.

Denn auch des Todes Drama
schmerzt sich seine Zeitläufte ab,
weiß hinter dem Vorhang
um neuen Beginn

Durch den Schmerz

"Wenn sie an die Präsenz des verborgenen Gottes glaubte, was sie über die jüdische Tradition, die kabbalistische Tradition ja angenommen hat und sich dann fragt: Warum, warum wir Juden? Gibt es einen Sinn in diesem Sinnlosen? Dann kommt es zu solchen schwierig nachzuvollziehenden Formulierungen: 'Berufung, Wunde zu sein'. Berufung durch Gott heißt es wohl. Das heißt also auch, unsere Wunden zu zeigen, unsere Wunden nicht zu verdrängen, sondern unsere Wunden sozusagen offen zu legen. Und die Frage ist ja: Halten wir stand? Lassen wir uns zerbrechen? Und ihre Dichtung ist eben ein einziger Widerstand dagegen, endgültig gebrochen zu sein."
Sagt Karl-Josef Kuschel. Nelly Sachs geht den Weg des "Durchschmerzens" wie sie es nennt, um nicht im Schmerz unterzugehen.
"All diese Texte sind buchstäblich abgerungen dem Unsäglichen. Das Unsägliche sagbar zu machen und der Fassungslosigkeit über das Geschehene und Widerfahrene eine sprachliche Form zu geben, das ist die große Leistung und die große Bedeutung dieser Lyrikerin."

Sternenstaub

Wie kaum eine andere Dichterin durchstößt Nelly Sachs ab Mitte der 1950er-Jahre die Grenze des Irdischen und dringt in kosmische Bereiche vor. Staub wird zu einer ihrer wichtigsten Metaphern - atomisierter Stein, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Von Hiobs Staub, der durch die Schornsteine der Krematorien gejagt wurde, über den kosmischen Sternenstaub zum biblischen "Staub bist du und Staub wirst du".
Wir Sterne, wir Sterne
Wir wandernder, glänzender, singender Staub -
Unsere Schwester die Erde, ist die Blinde geworden
Unter den Leuchtbildern des Himmels -
Religion bei Samuel Agnon - Schreiben aus der Erschütterung heraus
Samuel Joseph Agnon ist der erste und bisher einzige männliche Literatur-Nobelpreisträger aus Israel. Zeit seines Lebens war Agnon ein zutiefst religiöser Mensch, der aber immer wieder zweifelte an Gott.
Ab Mitte der 50er-Jahre wird ihr Werk im größerem Umfang publiziert. 1961 erscheint die Gesamtausgabe der Gedichte im Suhrkamp-Verlag. Sie erhält die schwedische Staatsbürgerschaft und ab 1958 eine Entschädigungsrente der Bundesrepublik Deutschland in Höhe von 550 DM monatlich. Den späten Erfolg ihres Werkes – sie ist mittlerweile rund 70 Jahre alt - kann sie kaum fassen.
"Aus meiner Einsamkeit herausgerissen in die große Welt der Literatur scheint mir alles traumhaft."

"Deine Angst ist ins Leuchten geraten"

Dann wird die Dichterin erneut von den Schrecken der Vergangenheit überfallen. Nach dem Besuch in Deutschland anlässlich der Verleihung des Droste-Preises erleidet sie einen Nervenzusammenbruch und Anfälle von Verfolgungswahn. Ab 1960 verbringt sie längere Zeit in der Psychiatrie, wo sie - heute kaum noch vorstellbar - mit Elektroschocks behandelt wird. Auch in den Jahren der psychischen Krankheit schreibt Nelly Sachs weiter und überwindet ihre Lebenskrise. 1965 erhält sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, ein Jahr später den Nobelpreis für Literatur – gemeinsam mit Samuel Joseph Agnon.
"Ich habe mich selbst aus der Tiefe herausgeholt."
Nelly Sachs (74) beim Einzug in die Paulskirche in Frankfurt am Main am 17.10.1965. In ihrer Begleitung befinden sich (l-r) Bundesminister Hans Lenz, Bürgermeister Menzer, Friedrich Wittig (Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels), Oberbürgermeister Willi Brundert und der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn. Die jüdische Dichterin deutscher Sprache wurde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Nelly Sachs bei der Verleihung zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Jahr 1965 (Picture Alliance / dpa / Roland Witschel)
Weine aus die entfesselte Schwere der Angst.
Zwei Schmetterlinge halten das Gewicht der
Welten für dich.
Und ich lege deine Träne in dieses Wort:

Deine Angst ist ins Leuchten geraten.
"Es heißt ja nicht, Angst zum Verschwinden bringen, Angst durch Hoffnung oder gute Laune ersetzen, aber sie wird zum Leuchten gebracht. Man muss sich der Angst immer wieder stellen. Das ist nicht wegzutherapieren, sondern immer wieder in die Begegnung mit dem Wort hinein zu bringen", sagt Karl-Josef Kuschel.

"Zeigt uns langsam eure Sonne"

Im Jahr 1967 erleidet die Dichterin einen Herzanfall. Zwei Jahre später folgt eine Krebsoperation. Am 12.Mai 1970 stirbt Nelly Sachs in Stockholm. Sie wurde 79 Jahre alt.
Wir Geretteten,
Immer noch essen an uns die Würmer der Angst.
Unser Gestirn ist vergraben im Staub.
Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Lasst uns das Leben leise wieder lernen.