Die Öffnung der Ehe sei zwar gesellschaftspolitisch relevant, aber kein wahlentscheidendes Thema, so Neugebauer. Dennoch brauche die Opposition nun neue Themen. Merkel habe mit ihrem Richtungswechsel auf geschickte Art und Weise die Hürden für Koalitionen mit SPD und Grünen weggeräumt.
Langfristig sei Merkel die Siegerin in diesem Verfahren. Sie habe gezeigt, dass sie durch beiläufige Bemerkungen Prozesse in Gang setzen könne. In ihrem Konzept leiste sie so einen Beitrag zur Modernisierung der deutschen Gesellschaft.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Am Telefon ist der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer. Schönen guten Tag.
Gero Neugebauer: Guten Tag, Frau Schulz.
Schulz: Herr Neugebauer, ich würde gerne mit Ihnen mal anfangen mit der SPD. Fraktionschef Oppermann hat ja davon gesprochen, dass der Ball auf dem Elf-Meter-Punkt gelegen habe und dass man den nur habe reinmachen müssen. Wenn eine Partei jetzt ihr wahltaktisches Kalkül so offen zum Markte trägt, ist das gut?
Neugebauer: Es trägt dazu bei, den Eindruck zu verwischen, dass die SPD bislang in dieser Koalition an der langen Leine von Frau Merkel gelaufen ist und bestimmte Initiativen, die ihr mehr Profil, sozialdemokratisches Profil hätten verschaffen können, unterlassen hat. Wir erinnern uns: auch das Einwanderungsgesetz ist eines von den Vorhaben, die mal angesprochen wurden und dann dem Koalitionsfrieden geopfert wurden. Insofern ist es schon richtig, dass Oppermann zum Ende der Legislaturperiode sagt, jetzt haben wir Wahlkampf, jetzt wollen wir Alternativen zeigen.
Schulz: Heißt aber, dass der Triumph, den die Sozialdemokraten heute feiern, wohl kaum Wählerstimmen einbringen wird?
Neugebauer: Das Problem ist gesellschaftspolitisch relevant, wie ja schon angesprochen worden ist. Aber es gehört nicht zu den Themen, die wirklich wahlentscheidend sind, und die Frage ist auch, ob damit nicht auch der SPD ein Thema weggenommen wurde, denn Frau Merkel hat ja in sehr geschickter Art und Weise nun die Hürden, die die Grünen und die SPD für eine Koalition mit der Union aufgebaut haben, weggeräumt. Der Punkt ist weg und nun müssen sie halt neue Punkte finden.
Merkel erzeuge mit beiläufigen Äußerungen Prozesse
Schulz: Wir hatten gestern Morgen den Politikwissenschaftler von Lucke im Gespräch. Der sagt, im Grunde zeigt diese Debatte oder hat als Resultat durch die Bank Verlierer. Es verliert auch der Wähler, es verliert auch die Demokratie, weil dieses wahltaktische Kalkül so überdeutlich wird. Sie zeichnen die Kanzlerin jetzt als strategische Siegerin. Schlüsseln Sie uns das noch mal auf.
Neugebauer: Die CDU verliert an konservativen Wählern. Wie die SPD durch die Agenda 2010 ihre Wähler verloren hat, verliert die Union ihre konservativen Wähler schlicht und einfach durch Tod. Es sterben ihr immer mehr ältere Wähler weg. Das ist ja die Kohorte, aus der die Union die meisten Stimmen bekommt. Das heißt, der Punkt wird auch weniger relevant für Wahlentscheidungen in der Union.
Dazu kommt, dass Frau Merkel zwar von sich aus immer sagt, ich bin mal sozial, mal liberal, mal konservativ. Sie kann es weiter von sich sagen, wenn das vielleicht auch mit der Glaubwürdigkeit geringer ist, aber es ist in ihrem Konzept auch ein Beitrag zur Modernisierung der deutschen Gesellschaft und insofern ist sie langfristig die Siegerin in diesem Verfahren, denn sie hat gezeigt, sie kann durch eine fast beiläufige Äußerung Prozesse erzeugen, die eigentlich schon lange am Kochen sind, wo jetzt aber der Deckel runter muss, um das nicht im Wahlkampf zu einem dominierenden Thema zu machen, das für die Union die wichtigeren Themen dann überdeckt. Insofern meine ich, sie hat klug gehandelt, dass sie das jetzt aufgebracht hat, und zwar jetzt, wo es im Wahlkampf dann keine Rolle mehr spielt, und nicht dann, wenn es in Koalitionsverhandlungen auf einmal eine Rolle spielen soll und dann auf die Uneinigkeit in der Union trifft.
SPD könne Vorsprung der Union schlecht aufholen
Schulz: Und die Union hat jetzt noch das zusätzliche Argument in der Hand, dass sie warnen kann vor Rot-Rot-Grün, was ja zum Beispiel im Wahlkampf im Saarland offenbar ein ganz wichtiges Argument gewesen ist. Wie wollen die Sozialdemokraten diese Warnung jetzt entkräften?
Neugebauer: Die Sozialdemokraten werden weiter darauf beharren, dass sie für eine eigene Mehrheit kämpfen und dass sie ihre Position durchbringen wollen. Sie werden nun allerdings auch deutlich machen müssen, wo die Positionen sind, die so unvereinbar sind. Und wenn man sich mal bestimmte Dinge anschaut, dann muss man feststellen, so weit sind die Positionen der Union und der SPD nicht auseinander. Sie zielen auf dieselben gesellschaftlichen Gruppen, nämlich auf die Mitte der Gesellschaft. Sie haben Themen, die auf dem Problemhorizont der Deutschen weit oben sind, zum Beispiel die Frage Sicherheit, aber auch die Frage Arbeitsplätze und Wirtschaft, auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Das Problem ist allerdings aus meiner Sicht, dass hier die Union alleine aufgrund der Tatsache, dass sie zurückgreifen kann auf eine strukturelle Mehrheit, die sie im Wahlvolk hat, und dass sich, durch die Wahlentscheidungen in den letzten Jahren dokumentiert, das Wahlverhalten der Deutschen mehr und mehr nach rechts verschoben hat, einen Vorsprung hat, der für die SPD schlecht aufzuholen ist, zumal sie in der letzten Legislaturperiode ja zumindest als Regierungspartei nicht so gut bewertet worden ist, einen Vorsitzenden hatte, der ihr keine Machtperspektive mehr vermitteln konnte, und nicht zuletzt auch in den Landtagswahlen eigentlich nie so Ergebnisse herausgefahren hat, dass man sagen konnte, oh, das ist eine Partei, die ist mit dem Nimbus des Siegers versehen.
Schulz: Ist das so? Sind die Wähler nach rechts gerückt? Oder hat die Kanzlerin nicht die CDU mit ihrer Politik – es war ja die Kanzlerin, die die Position geräumt hat - mit diesem Räumen von Positionen nach links positioniert?
Neugebauer: Ja. Aber ich könnte auch umgekehrt argumentieren, die Kanzlerin ist vorangegangen, die Wähler sind ihr gefolgt. Ich gebe Ihnen insofern Recht: Es gibt einen Druck in der Gesellschaft, Positionen zu räumen, und Frau Merkel hat das in der Flüchtlingsfrage getan - allerdings auf eine Art und Weise, als ob sie da den Willen der Bevölkerung vollzieht und dann immer sagen kann, habe ich ja schon immer gesagt, wir heißen sie erst willkommen und dann werden wir sie halt wieder abschieben, wenn sie nicht die Voraussetzungen für das Bleiben erfüllen. Insofern ist sie da mit sich völlig im Reinen. Und was für sie auch spricht ist die Fähigkeit zu sagen, ich bin es ja, die diese ganzen Prozesse macht und diese leitet, und wenn dann die Entwicklung in der Politik im Wählerverhalten das sagt, was ich sage, es geht mehr nach rechts, dann ist das ja auch darauf zurückzuführen, dass die Union mit einem Problem konfrontiert ist, das die SPD vor Jahren hatte oder Jahrzehnten mit den Grünen und vor wenigen Jahrzehnten mit den Linken, dass sich auf einmal rechts von der Union eine Partei auftut, die in der Lage ist, bestimmte Wähler aus dem konservativen Lager zu locken, aber auch aus dem Nichtwähler-Bereich, die der Union verloren gehen beziehungsweise von der Union nicht mehr gewonnen werden können. Insofern ist diese Verschiebung natürlich auch eine Verschiebung, die auf Verlagerungen von Themenschwerpunkten in der Gesellschaft zurückgeht, nicht zuletzt auf die Flüchtlingspolitik. Aber es gibt ganz wenig Punkte, wo man sagen kann, Merkel hat das wirklich aus der Hand gegeben.
"Es wird schwer für die Grünen"
Schulz: Wenn wir von geräumten Positionen sprechen, dann gibt es ja die Entscheidung von vor Jahren, nach Fukushima die Abkehr von der Atomenergie. Das war eine Entscheidung, die den Grünen das politische Geschäft ja entscheidend erschwert hat, weil seitdem das große Projekt fehlte. Der Kampf für die Ehe für alle, der ist jetzt heute Vormittag auch zu Ende. Welche Themen bleiben den Grünen denn dann?
Neugebauer: Wahrscheinlich nur noch ihr Urthema: Klima, Klimapolitik. Auf der einen Seite kann die grüne Partei nun darauf hinweisen, dass die Positionen, die die Bundesrepublik vertreten hat – ich erinnere an den mühsamen Gang von Frau Hendricks zur Klimakonferenz nach Paris -, nicht so weit sind, wie man es immer gesagt hat. Aber andererseits kann Frau Merkel sagen, schaut euch doch den Trump an, da sind wir doch meilenweit entfernt, da sind wir doch voraus, da kann ich ja sogar die Botschafterin des guten Klimas für die Welt darstellen. Also es wird schwer für die Grünen, aber nicht zuletzt auch deshalb, weil sie, glaube ich, versäumt haben, in den letzten Jahren Themen der gesellschaftlichen Modernisierung aufzugreifen, und weil sie es auch versäumt haben, und das nicht nur durch die Präsentation des Personals, sondern auch durch eine Art Dialog mit der Bevölkerung, zu ermitteln, was interessiert eigentlich mehr, worin können die Grünen noch spezifische Pluspunkte gewinnen, die sie unterscheidbar machen von den anderen, und was hat ihnen jetzt eigentlich geholfen zu sagen, eigentlich sind wir ja Opposition, aber wir wären auch gerne in der Regierung immer mit dabei. Das sind also mehrere Faktoren und wenn den Grünen jetzt noch ein Thema aus der Hand geschlagen wird, das ihnen vor allen Dingen in ihrer Klientel immer genutzt hat, dann wird das für sie schwerer werden.
Schulz: Jetzt noch die grün-schwarzen oder schwarz-grünen Gedankenspiele. Ist das auch Teil des Problems, die Glaubwürdigkeit der Grünen bei ihrem Kernthema, der Umweltpolitik?
Neugebauer: Wenn man die Grünen jetzt beim Wort nimmt, die sagen, das ist weiterhin unser Kernthema, und es ist aber auch ein Thema, das nicht als isoliertes kleines Thema zu betrachten ist, sondern das auf verschiedene Art und Weise mit anderen Politikbereichen verflochten ist, dann können sie sagen, es sei weiterhin ein wichtiges zentrales Thema für die grüne Politik. Aber wir wissen auch, dass die Wahrnehmung der Grünen durch andere Argumente bestimmt wird. Wir sehen die Position in der CSU, die die Grünen ja nun heute nicht mehr als die Ministranten des Teufels betrachten, sondern ihnen eher schon mehr zutrauen, insbesondere auf der persönlichen Ebene, aber insgesamt doch noch ein sehr gespaltenes Verhältnis haben. Und die Grünen auf der anderen Seite auch im Verhältnis zur Linken. Das ist durchaus nicht so ungetrübt, dass man darauf sagen könnte, die können ohne größere Konflikte auf eine rot-rot-grüne Koalition zusteuern. Die Grünen sind in der Tat im Moment schlecht dran und sie werden Schwierigkeiten haben, eine Position zu erringen, von der aus sie sagen können, an uns geht keine Koalition vorbei.
Schulz: Der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk. Danke Ihnen ganz herzlich dafür.
Neugebauer: Bitte schön.
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