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Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980

Roland Barthes schlüpfte in die unterschiedlichsten Rollen: Er galt als Literaturwissenschaftler und Semiologe, als Zeitkritiker und Kultursoziologe, als Kolumnist und Kunstliebhaber. Die wenigsten wissen aber, daß er in seiner Jugend auch Gesangsunterricht nahm, und zwar bei dem sizilianischen Sänger Charles Panzera. Erst der Gesang Panzeras, den wir gerade hörten, gab ihm ein Gefühl für die Materialität der eigenen, der französischen Sprache. Barthes war fasziniert von einem Gesang, der mit dem Körper des Sängers eins ist, der aus der Tiefe der Stimmhöhlen, Muskeln und Knorpeln kommt. Immer wenn Barthes die Lieder Robert Schumanns hörte, empfand er die Spuren des Körpers – Herzklopfen, Angst und Glücksgefühl, die sich der Stimme beimischten:

Klaus Englert |
    Welcher Körper singt also das Lied? Was singt mir in meinem, des Zuhörenden Körper das Lied? Alles, was in mir widerhallt, mich ängstigt oder mein Begehren weckt. Gleichgültig, woher diese Verletzung oder diese Freude kommt: Für den Liebenden wie für das Kind singt der romantische Gesang immer die Stimmung des verlorenen, verlassenen Subjekt.

    Über Panzera, das romantische Lied und die "Körnung der Stimme" spricht Roland Barthes in einem Interviewband, der nun 23 Jahre nach seinem Tod vom Suhrkamp-Verlag veröffentlicht wurde. Körnung der Stimme – so heißt auch der Titel des Buches. In einem der zahlreichen Interviews beschreibt Barthes, was ihn an dieser Stimme fasziniert: Die Belegtheit und Rauheit, die materielle Mischung aus Körper und Sprache. Gerade diese Mixtur empfand er als erotisch. Genaugenommen gab es für Roland Barthes keine Stimme, die nicht Objekt des Begehrens sein könnte:

    Die Welt des romantischen Lieds ist die Welt der Liebe, die Welt im Kopf des liebenden Subjekts: ein einziges geliebtes Wesen, aber ein ganzes Volk von Figuren. Diese Figuren sind keine Personen, sondern kleine Bilder, die jeweils aus einer Erinnerung bestehen, aus einer Landschaft, einer Wanderung, einer Stimmung, aus jedem beliebigen Anlaß zu einer Verletzung, einer Sehnsucht oder einem Glücksgefühl.

    Der Körper und die Sprache – dies ist das große Thema Roland Barthes in seinen letzten Jahren vor dem Unfalltod 1980. Über die Sprache in Roman, Film und Mode hatte Barthes bereits in den 50er und 60er Jahren bedeutende Bücher geschrieben. Zudem war er ein außerordentlicher Interpret der menschlichen Tätigkeiten, er observierte die Sprachen und Gebärden des modernen Alltags und entlarvte deren Ideologie. Später kam die Zeit des Strukturalismus, der wissenschaftlichen Analyse künstlicher Strukturen. Und es war die Zeit, als Barthes die Sprache vermehrt als Ordnungsgefüge untersuchte. Doch dann kam plötzlich die hedonistische Phase. 1970 erschien S/Z, eine Interpretation über Honoré Balzacs Sarrasine. Der Stil hat sich nun grundlegend geändert: Barthes schrieb nicht mehr die großen, wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern Fragmente, die sich dem Impuls verdanken: Alles in allem 93 Fragmente, denen Girodets keusch-lüsternem Bild Der Schlaf des Endymion vorangestellt wurde. Schließlich der 7. Januar 1977, als der 61-jährige Barthes in Paris seine Antrittsvorlesung im renommierten Collège de France hielt. Die Pariser Intelligenz – unter ihnen Michel Foucault, Pierre Boulez und Alain Robbe-Grillet – staunte nicht schlecht, als sie plötzlich folgende Worte vernahmen:

    Die Sprache als Performanz aller Rede ist weder reaktionär noch progressiv; sie ist ganz einfach faschistisch; denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, sondern zum Sagen zwingen.

    Deswegen distanzierte sich Roland Barthes in seinen letzten Jahren von der geordneten Wissenschaftssprache. Er sprach nicht mehr von Ordnung, Willen und der Gewalt des Denkens, sondern von Eros, Nachlässigkeit und dem Trieb des Sinnens und Trachtens. Dieser Hedonismus ist eine Reaktion auf die teils terroristische teils dogmatische Entwicklung der Linken nach 1968. Barthes stellte sich gegen eine selbsternannte Avantgarde, deren Vorstellungen in leblosen Ideologien erstarrt sind. Er vermißte bei ihr ein Schreiben, das sich als lustvollem Genießen verstand. Deswegen schrieb er:

    Avantgarde ist immer dann anzutreffen, wenn es der Körper ist, der schreibt, und nicht die Ideologie.

    Roland Barthes Kehrtwende nach 1968 hatte sogar Auswirkungen auf seinen Vortragsstil: Die zahllosen Studenten, die zu seinen Vorlesungen im Collège de France pilgerten, waren allerdings enttäuscht. Plötzlich philosophierte der Meister über das "Neutrale", das sich dem Schweigen nähert. Nicht dem trotzigen Schweigen, das selbst zum Dogmatismus wird, sondern dem skeptischen Schweigen, das gar nicht erst in den lauten Widerstreit der philosophischen Meinungen eintritt. Erstaunlich nur, daß sich Barthes in seinen letzten Jahren vermehrt den Massenmedien zuwandte. Dennoch blieb seine Sprache enigmatisch, selbst in einer Sendung von France-Cultur über das romantische Lied:

    Wer sich darin ausdrückt, ist ein sonderbares, unzeitgemäßes, abweichendes und, man könnte sagen: verrücktes Subjekt, würde es nicht in einer letzten Eleganz die ruhmreiche Maske des Wahnsinns zurückweisen.

    Kurz vor seinem Tod am 26. März 1980 begann Roland Barthes, einen Roman zu schreiben. Dies war sein Weg, um sich von der Wissenschaft zu verabschieden. In seinem letzten Interview, das Le Nouvel Observateur posthum am 20. April veröffentlichte, näherte sich seine Sprache der Poesie an:

    Das Schreiben ist eine Kreation; und in dem Maße ist es auch ein Verfahren der Fortpflanzung, der Prokreation. Es stellt ganz einfach eine Art und Weise dar, das Gefühl des Todes und der allumfassenden Vernichtung zu bekämpfen und zu bezwingen. (...) Während des Schreibens streut man Keime aus; man mag sich vorstellen, daß man so etwas wie Samen ausstreut und folglich in den allgemeinen Kreislauf der Samen eintritt.