"Angenommen, man könnte über die Stadt dahingleiten wie ein Ibis. Ein Schachbrett aus rostigen Wellblechdächern würde man sehen, Grundstücke mit dunkelgrünem Laub. Und auch die Grisaille der cités, der einfachen Wohnviertel von Kinshasa, die scheinbar nie enden. (…) Die Avenue Lubumbashi würden wir sehen, eine schnurgerade Achse, in die zahlreiche kleine Straßen und Gassen münden, die jedoch asphaltiert wurde. Es ist Regenzeit, manche Pfützen sind groß wie Schwimmbecken. Selbst der geschickteste Taxifahrer bleibt hier stecken. Der pechschwarze Schlamm spritzt unter den quietschenden Reifen hoch und beschmutzt den klapprigen, aber frisch gewaschenen Nissan oder Mazda."
Dort, wo der imaginäre Ibis landet, trifft der belgische Autor David Van Reybrouck einen alten Mann, Papa Nkasi. Van Reybrouck beschreibt die einfache Hütte, in der die beiden miteinander reden: es ist halb dunkel, in der Hitze knarrt das Wellblechdach. Auf den Wänden stehen Handynummern und Worte der christlichen Verheißung, der alte Nkasi sitzt neben einer Klistierspritze und einer Schale mit Auswurf auf seiner schmuddeligen Matratze. Der Alte ist im Jahr 1882 geboren, und trotz seiner körperlichen Hinfälligkeit ist sein Gedächtnis noch wach. Nkasi ist der älteste der Zeitzeugen, die Van Reybrouck während der Recherchen für seine Geschichte des Kongo trifft. Sie leben weit verstreut in einem Land von der Größe Westeuropas, das allerdings mehr ein Archipel ist als ein Land, wie Van Reybrouck sehr treffend formuliert. Er bezieht sich dabei auf die Zustände im Jahr 2006, als nach vielen Jahrzehnten erstmals wieder demokratische Wahlen stattfanden:
"Der Kongo war inzwischen ein Land ohne Infrastruktur. Es war unmöglich, das Land mit dem Auto von der einen zur anderen Seite zu durchqueren. Selbst die großen Zentren waren nicht mehr miteinander verbunden. Der Kongo war eher ein Archipel als ein pays continent, ein Archipel, dessen Inseln nur per Flugzeug, Helikopter oder Boot zu erreichen waren."
Das ist also das Land, das Van Reybrouck auf der Suche nach Zeitzeugen durchkreuzt. Das Ergebnis ist ein erstaunliches Buch: Trotz aller Faktenfülle ist es erzählerisch, anschaulich und lebensnah. Außerdem gelingt Van Reybrouck etwas, was angesichts der kongolesisch-belgischen Kolonialgeschichte kaum zu überschätzen ist: Obwohl er Belgier ist, schreibt er keine Herrschaftsgeschichte aus belgischer Perspektive, sondern lässt Kongolesen beschreiben, wie sie die historischen Ereignisse erlebt haben. Und was erzählt er nun auf diese Weise? Er beginnt mit den wenigen Fakten, die aus der Vorgeschichte bekannt sind, und schildert das imaginäre Leben eines Jungen vor 90.000 Jahren. Und er endet fast in der Gegenwart, im Jahr 2010. Sein letztes Kapitel heißt "www.com" und beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Kongo und China - für Van Reybrouck ein Blick in das Dritte Millennium. Was der Leser aus den vielen Jahren dazwischen erfährt, ist oft selbst für den überraschend, der die kongolesische Geschichte in großen Zügen kennt. Greifen wir die frühe belgische Kolonialzeit heraus, die 1908 beginnt. Bis dahin war der Kongo das Privateigentum des belgischen Königs Leopold II. Nach der brutalen, oft tödlichen Ausbeutung unter Leopold II. war nun das erklärte Ziel eine "wissenschaftliche Kolonisierung". Mit der Tropenmedizin entstand ein neues Fachgebiet. Um die Verbreitung der Schlafkrankheit zu verhindern, durften die Kongolesen ihre Dörfer nicht mehr verlassen, es sei denn, sie hatten eine ausdrückliche Reiseerlaubnis.
"Der Staat kroch den Menschen buchstäblich unter die Haut. Nicht nur die Landschaft wurde kolonisiert, auch der Körper und das Selbstbild. Der Staat, das war der Ausweis, auf dem stand, wer man war, woher man kam und wohin man gehen durfte."
Zur gleichen Zeit fingen die Ethnografen an, die einheimische Kultur umfassend zu dokumentieren. Van Reybrouck macht deutlich: Erst durch das unbedingte Verlangen der Wissenschaft, die Menschen und ihre sogenannten Stämme zu definieren, entstanden diese "Stämme" überhaupt. "Der Geist des Tribalismus war aus der Flasche", schreibt Van Reybrouck. Es gäbe so Vieles herauszugreifen. Zum Beispiel die bisher kaum bekannte Tatsache, dass kongolesische Truppen während des Zweiten Weltkriegs die Sahara durchquerten, um in Libyen gegen die deutsch-italienischen Truppen zu kämpfen. Van Reybrouck hat einen Zeitzeugen gefunden, der von den Strapazen bei der Durchquerung erzählt.
"Wir haben mehr als einen Monat gebraucht.(...) Manchmal kamen wir nur zwei Kilometer am Tag voran. (...) Wir lebten von Keksen und Corned Beef in Dosen. Wir bekamen nur einen halben Liter Wasser pro Tag. Viele wurden krank. Von den zweitausend Soldaten sind zweihundert unterwegs gestorben. (... ) Wir haben wie die Tiere gelebt, wir konnten uns nicht waschen."
Van Reybroucks Buch ist bemerkenswert wenig ideologisch. Gerade bei der Beschäftigung mit dem Kongo ist das nicht selbstverständlich: die oft grausame, schillernde Geschichte des Landes führt noch heute zu heftigen Kontroversen. Ein Beispiel ist Patrice Lumumba. Der erste Premierminister des Landes wurde 1961 unter Beteiligung des CIA und des belgischen Geheimdienstes umgebracht. Während der Feier zur Unabhängigkeit hielt Lumumba gegen das Protokoll eine Rede, die berühmt geworden ist: als Anklage und Abrechnung mit der Kolonialzeit. Van Reybrouck würdigt sie als eine der großen historischen Reden. Er schreibt aber auch: Es war eine große Rede, aber der Zeitpunkt war falsch. Lumumba verkannte, dass er in seiner Rolle als Premier das Land in diesem Moment hätte einen müssen, statt es weiter zu spalten. Außerdem dauern die Kämpfe um die kongolesischen Rohstoffe bis heute an. Europa ist mit der einstigen belgischen Kolonie wirtschaftlich noch immer eng verbunden.
"Dass die Naturreichtümer und Bodenschätze des Kongo die Weltwirtschaft mit beeinflusst haben, ist sattsam bekannt. Von der Billardkugel und dem Gummireifen über die Patronenhülse und die Atombombe bis zum Handy."
Darüber hinaus hat die kongolesische Geschichte die Weltgeschichte mit bestimmt und gestaltet. Das macht das Buch deutlich und eröffnet damit eine überraschende und faszinierende Perspektive auf die Weltgeschichte: einmal nicht vom hohen Norden aus, sondern aus der Mitte der Erde heraus, der tropischen Zone am Äquator. Fazit: Eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre, die nicht nur für die Geschichte des Kongo aufschlussreich ist.
David van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte.
Suhrkamp Verlag, 783 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-518-42307-3
Dort, wo der imaginäre Ibis landet, trifft der belgische Autor David Van Reybrouck einen alten Mann, Papa Nkasi. Van Reybrouck beschreibt die einfache Hütte, in der die beiden miteinander reden: es ist halb dunkel, in der Hitze knarrt das Wellblechdach. Auf den Wänden stehen Handynummern und Worte der christlichen Verheißung, der alte Nkasi sitzt neben einer Klistierspritze und einer Schale mit Auswurf auf seiner schmuddeligen Matratze. Der Alte ist im Jahr 1882 geboren, und trotz seiner körperlichen Hinfälligkeit ist sein Gedächtnis noch wach. Nkasi ist der älteste der Zeitzeugen, die Van Reybrouck während der Recherchen für seine Geschichte des Kongo trifft. Sie leben weit verstreut in einem Land von der Größe Westeuropas, das allerdings mehr ein Archipel ist als ein Land, wie Van Reybrouck sehr treffend formuliert. Er bezieht sich dabei auf die Zustände im Jahr 2006, als nach vielen Jahrzehnten erstmals wieder demokratische Wahlen stattfanden:
"Der Kongo war inzwischen ein Land ohne Infrastruktur. Es war unmöglich, das Land mit dem Auto von der einen zur anderen Seite zu durchqueren. Selbst die großen Zentren waren nicht mehr miteinander verbunden. Der Kongo war eher ein Archipel als ein pays continent, ein Archipel, dessen Inseln nur per Flugzeug, Helikopter oder Boot zu erreichen waren."
Das ist also das Land, das Van Reybrouck auf der Suche nach Zeitzeugen durchkreuzt. Das Ergebnis ist ein erstaunliches Buch: Trotz aller Faktenfülle ist es erzählerisch, anschaulich und lebensnah. Außerdem gelingt Van Reybrouck etwas, was angesichts der kongolesisch-belgischen Kolonialgeschichte kaum zu überschätzen ist: Obwohl er Belgier ist, schreibt er keine Herrschaftsgeschichte aus belgischer Perspektive, sondern lässt Kongolesen beschreiben, wie sie die historischen Ereignisse erlebt haben. Und was erzählt er nun auf diese Weise? Er beginnt mit den wenigen Fakten, die aus der Vorgeschichte bekannt sind, und schildert das imaginäre Leben eines Jungen vor 90.000 Jahren. Und er endet fast in der Gegenwart, im Jahr 2010. Sein letztes Kapitel heißt "www.com" und beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Kongo und China - für Van Reybrouck ein Blick in das Dritte Millennium. Was der Leser aus den vielen Jahren dazwischen erfährt, ist oft selbst für den überraschend, der die kongolesische Geschichte in großen Zügen kennt. Greifen wir die frühe belgische Kolonialzeit heraus, die 1908 beginnt. Bis dahin war der Kongo das Privateigentum des belgischen Königs Leopold II. Nach der brutalen, oft tödlichen Ausbeutung unter Leopold II. war nun das erklärte Ziel eine "wissenschaftliche Kolonisierung". Mit der Tropenmedizin entstand ein neues Fachgebiet. Um die Verbreitung der Schlafkrankheit zu verhindern, durften die Kongolesen ihre Dörfer nicht mehr verlassen, es sei denn, sie hatten eine ausdrückliche Reiseerlaubnis.
"Der Staat kroch den Menschen buchstäblich unter die Haut. Nicht nur die Landschaft wurde kolonisiert, auch der Körper und das Selbstbild. Der Staat, das war der Ausweis, auf dem stand, wer man war, woher man kam und wohin man gehen durfte."
Zur gleichen Zeit fingen die Ethnografen an, die einheimische Kultur umfassend zu dokumentieren. Van Reybrouck macht deutlich: Erst durch das unbedingte Verlangen der Wissenschaft, die Menschen und ihre sogenannten Stämme zu definieren, entstanden diese "Stämme" überhaupt. "Der Geist des Tribalismus war aus der Flasche", schreibt Van Reybrouck. Es gäbe so Vieles herauszugreifen. Zum Beispiel die bisher kaum bekannte Tatsache, dass kongolesische Truppen während des Zweiten Weltkriegs die Sahara durchquerten, um in Libyen gegen die deutsch-italienischen Truppen zu kämpfen. Van Reybrouck hat einen Zeitzeugen gefunden, der von den Strapazen bei der Durchquerung erzählt.
"Wir haben mehr als einen Monat gebraucht.(...) Manchmal kamen wir nur zwei Kilometer am Tag voran. (...) Wir lebten von Keksen und Corned Beef in Dosen. Wir bekamen nur einen halben Liter Wasser pro Tag. Viele wurden krank. Von den zweitausend Soldaten sind zweihundert unterwegs gestorben. (... ) Wir haben wie die Tiere gelebt, wir konnten uns nicht waschen."
Van Reybroucks Buch ist bemerkenswert wenig ideologisch. Gerade bei der Beschäftigung mit dem Kongo ist das nicht selbstverständlich: die oft grausame, schillernde Geschichte des Landes führt noch heute zu heftigen Kontroversen. Ein Beispiel ist Patrice Lumumba. Der erste Premierminister des Landes wurde 1961 unter Beteiligung des CIA und des belgischen Geheimdienstes umgebracht. Während der Feier zur Unabhängigkeit hielt Lumumba gegen das Protokoll eine Rede, die berühmt geworden ist: als Anklage und Abrechnung mit der Kolonialzeit. Van Reybrouck würdigt sie als eine der großen historischen Reden. Er schreibt aber auch: Es war eine große Rede, aber der Zeitpunkt war falsch. Lumumba verkannte, dass er in seiner Rolle als Premier das Land in diesem Moment hätte einen müssen, statt es weiter zu spalten. Außerdem dauern die Kämpfe um die kongolesischen Rohstoffe bis heute an. Europa ist mit der einstigen belgischen Kolonie wirtschaftlich noch immer eng verbunden.
"Dass die Naturreichtümer und Bodenschätze des Kongo die Weltwirtschaft mit beeinflusst haben, ist sattsam bekannt. Von der Billardkugel und dem Gummireifen über die Patronenhülse und die Atombombe bis zum Handy."
Darüber hinaus hat die kongolesische Geschichte die Weltgeschichte mit bestimmt und gestaltet. Das macht das Buch deutlich und eröffnet damit eine überraschende und faszinierende Perspektive auf die Weltgeschichte: einmal nicht vom hohen Norden aus, sondern aus der Mitte der Erde heraus, der tropischen Zone am Äquator. Fazit: Eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre, die nicht nur für die Geschichte des Kongo aufschlussreich ist.
David van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte.
Suhrkamp Verlag, 783 Seiten, 29,95 Euro
ISBN: 978-3-518-42307-3