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Die Konsequenz der fehlenden politischen Jugend

Bei der heutigen Bundestagswahl werden die letzten Politiker der 68er-Generation ausscheiden. Damit geht eine hochpolitische Generation, womöglich die letzte? Der nachrückenden Jugend fehlt jedenfalls ein politisierendes Element.

Von Albrecht von Lucke |
    Ganz egal, wer heute Abend die Wahl gewonnen haben wird, eines steht jetzt bereits fest: Wir erleben einen gewaltigen Umbruch in der deutschen Politik, nämlich den Abgang der letzten Vertreter einer, ja, vielleicht der letzten politischen Generation in Deutschland.

    Die letzten 68er verlassen den Bundestag - von Gernot Erler über Franz Müntefering bis Wolfgang Thierse und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Als Fossile jener Generation, die um 1968 politisiert wurde und deren politische Laufbahn in den 70er-Jahren begann, bleiben nur noch die schier unverwüstlichen: Christian Ströbele und Wolfgang Schäuble. Denn auch der Bundesfinanzminister ist natürlich ein 68er - wenn auch einer von der anderen, der gegnerischen Seite.

    Die Frage, die sich damit stellt, lautet: Wer tritt an die Stelle dieser hochpolitischen Generation? Und was politisiert Generationen, wenn es denn politische Generationen heute und zukünftig überhaupt noch gibt? Und wenn nein: Was kommt danach? Auf den ersten Blick ist die Antwort einfach: Nach Franz Müntefering kommt vermutlich seine 40 Jahre jüngere Frau Michelle, die im Wahlkreis Bochum/Herne II kandidiert.

    Doch jenseits der Familie Müntefering kann von einem echten Generationswechsel nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Schon das Duell um die Kanzlerschaft ist eigentlich ein Anachronismus. Gegen die 59-jährige Titelverteidigerin Angela Merkel tritt nicht etwa ein jüngerer Herausforderer an, sondern der sieben Jahre ältere Peer Steinbrück. Nein, ein Generationswechsel im Kanzleramt sähe anders aus.

    Gleichzeitig aber rücken in allen Parteien Politiker nun in die erste Reihe, die bis heute kaum profiliert sind. So muss speziell in der SPD die sogenannte "Generation Berlin" zeigen, was in ihr steckt. Dabei sind die Angehörigen dieses bloßen Labels bisher allenfalls geschickte Netzwerker, aber weit entfernt von einer echten politischen Generation. Und in den konkurrierenden Parteien sieht die Lage nicht wesentlich anders aus.

    Vor inzwischen bereits 90 Jahren entwickelte der Soziologe Karl Mannheim seine bis heute wegweisende Lehre über das Zustandekommen politischer Generationen. Sein Konzept war deshalb so innovativ, weil es mit den tradierten Generationsmodellen brach. Diese gingen stets von der Einheitlichkeit eines in einer Generation zum Ausdruck kommenden Zeitgeistes aus.

    Mannheim entwickelt dagegen ein Stufenmodell unterschiedlicher Intensitäten innerhalb einer Generation. Das zentrale Kriterium für das Zustandekommen einer Generation ist dabei nicht der gemeinsame, quasi über allem wehende Geist, sondern der Konflikt zwischen den Generationen, aber auch und gerade innerhalb einer Generation.

    Der schärfste Konflikt aber ist der Krieg. Nichts polarisiert so sehr wie dieser. Er stiftete das prägendste Erleben und die schärfste Auseinandersetzung: von 1813 über 1848 bis 1871 und - im nächsten Jahrhundert - von 1914 über 1939 bis 1945 und 1968. Mit der Abwesenheit des Krieges in der heutigen, postheroischen deutschen Gesellschaft verändert sich damit auch die Entwicklung politischer Generationen fundamental. Wie aber entstehen politische Generationen? Karl Mannheim unterscheidet dabei drei Stufen unterschiedlicher Intensität, nämlich die Generationslagerung, den Generationszusammenhang und einzelne Generationseinheiten. In "Das Problem der Generationen", seinem kanonischen Text von 1923, heißt es:

    "Während eine verwandte Generationslagerung nur etwas Potenzielles ist, konstituiert sich ein Generationszusammenhang durch eine Partizipation der derselben Generationslagerung angehörenden Individuen am gemeinsamen Schicksal und an den dazugehörenden, irgendwie zusammenhängenden Gestalten. Innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft können dann die besonderen Generationseinheiten entstehen."

    Für Mannheim kennzeichnet eine Generation zunächst also lediglich die Nähe einander verwandter Geburtsjahrgänge. Diese lose Generationslagerung basiert darauf, dass man in denselben historisch-sozialen Raum hineingeboren wird. Um eine echte politische Gemeinschaft zu werden, muss eine Generation erst von einer "Generation an sich" zu einer "Generation für sich" werden. Das heißt, jede politische Generation muss ein Bewusstsein ihrer selbst entwickeln.

    Nach Beobachtung Mannheims ist jedoch in jeder Generationslagerung eine Tendenz zur Herausbildung dieser Gemeinschaft angelegt, nämlich aufgrund einander verwandter Fühl- und Denkweisen. Diese Tendenz muss jedoch erst aktiviert werden - in der Regel durch prägende Erlebnisse. Nur so kann ein wirklicher Generationszusammenhang gestiftet werden.

    In der Regel handelt es sich dabei um polarisierende Ereignisse. Denn diese haben eine entscheidende Konsequenz: Indem sie polarisieren, differenzieren sie den vermeintlichen Generationszusammenhang aus und stärken ihn so gerade wieder. Denn was sich aneinander reibt, bezieht sich aufeinander.

    Bis heute exemplarisch für dieses Phänomen ist die 68er-Generation als der Idealfall einer politischen Generation. Geboren in den 40er-Jahren, aufgewachsen in den 50ern, wurde diese Kohorte in den bewegten 60er-Jahren politisiert.

    Entscheidend für die 68er im engeren Sinne waren jedoch zwei Ereignisse: außenpolitisch der eskalierende Vietnamkrieg und innenpolitisch der Kampf gegen die Notstandsgesetze, bei deren Durchsetzung viele einen Rückfall in das alte, autoritär-faschistische Deutschland befürchteten.

    Diese kritische Grundhaltung kulminierte am 2. Juni 1967 in der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorgs auf der Anti-Schah-Demonstration in Berlin. Denn hier schienen außen- und innenpolitischer Autoritarismus in eins zu fallen: In der militanten Verteidigung des iranischen Diktators habe, so die Überzeugung der Beteiligten, der angeblich neue demokratische Staat sein wahres post-faschistisches Gesicht gezeigt.

    War ein Großteil der Studenten zuvor politisch indifferent gewesen, zwang der Schock über die Erschießung Ohnesorgs zu einer Positionierung. Gleichzeitig politisierten die so radikalisierten Studenten die anderen Angehörigen ihrer Generation. Jeder musste sich verhalten - durch Ablehnung oder Zustimmung. So entstand, wie von Mannheim beschrieben, aus der kleinen Generationseinheit der linken Studenten die politisierte 68er-Generation.

    Hier zeigt sich: Obwohl die 68er die erste deutsche Nachkriegsgeneration sind, lassen sind sie ohne den Zweiten Weltkrieg und sein Nachleben nicht zu verstehen. Teile der 68er imaginierten sich regelrecht selbst in eine Kriegssituation. Exemplarisch kommt dies in dem bekannten Ausspruch Gudrun Ensslin nach der Ermordung Ohnesorgs zum Ausdruck.

    "Das ist die Generation von Auschwitz. Mit denen redet man nicht. Wo kriegen wir Waffen her?"

    Wo kriegen wir Waffen her? Diese Position eines militanten Widerstands steht auch am Beginn der ersten deutschen Generation, die vor 200 Jahren entstand.

    "Am Anfang war Napoleon" - mit diesem Satz leitet Thomas Nipperdey seine epochale "Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert" ein. "Am Anfang war Napoleon": Für die Frage der politischen Generationen trifft dies nicht weniger zu. In der Begeisterung für, aber vor allem im Hass gegen Napoleon entstand die erste deutsche politische Generation.

    An Napoleon schieden sich die Geister in ganz Europa. Die einen sahen in ihm den Weltgeist zu Pferde, den Einiger des Kontinents im Geiste der Ideen von 1789. Die anderen bloß den Imperator, der die Ideale der Französischen Revolution und die europäische Friedensidee pervertierte und den ganzen Kontinent unter das französische Joch zwingen wollte.

    Von Intellektuellen wie Ernst Moritz Arndt und Johann Gottlieb Fichte vorangetrieben, wurde der Hass gegen Frankreich und Napoleon zu einer ersten nationalen Massenbewegung, die mit der viertägigen Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 ihren kriegerischen Höhepunkt erlebte.

    Mit dieser Entscheidungsschlacht der "Befreiungskriege" datiert zweierlei: der Beginn des deutschen Nationalgedankens im modernen Sinne wie auch des Wunsches nach Demokratie. Seither steht Schwarz-Rot-Gold, die Farben der studentischen Lützower Jäger, für die neu erwachte Einheitsbewegung.

    Gleichzeitig entsteht die erste politische Generation. Die erste generationelle Politisierung war somit eine doppelte - national und demokratisch. Ihre Träger waren die studentischen Freikorps. Und aus dem Ausgang des Krieges erwuchs alles Folgende, wie im Wege einer Kettenreaktion die Politisierung der jeweils folgenden Generationen.

    Die auf dem Wiener Kongress zusammenkommenden Großmächte zogen zwar neue Grenzen, konservierten aber die alten, feudalen Strukturen. Die ersehnte deutsche Einheit blieb ein Wunschtraum. Die aufbegehrenden jugendlichen Kräfte richteten ihren Protest nun auf zweierlei: die Vollendung des souveränen wie des demokratischen deutschen Nationalstaats. Und damit gegen die autoritäre Herrschaft der Ära Metternich.

    So führt ein direkter Weg von 1813 über das von der Jenenser Studentenschaft ausgerichtete Wartburgfest 1817 und das Hambacher Fest von 1832 in das Jahr 1848 zur ersten demokratischen Revolution in Deutschland, die aber kläglich scheiterte.

    Bereits 1832, als sich 30.000 Bürger und Studenten in Hambach in der Pfalz zusammenfanden, schwenkten die Studenten die schwarz-rot-goldenen Fahnen - für Einheit, Freiheit und Gleichheit. Das "Junge Deutschland" um den Dichter Ludwig Börne demonstrierte für Deutschlands Wiedergeburt. "Es lebe das freie, das einige Deutschland", lautete die Losung.

    Doch das Scheitern der Revolution von 1848 und mit ihr das Scheitern einer hoffnungsvollen Generation von Demokraten machte all diesen Bemühungen den Garaus. Wieder siegten die autoritären, alten Kräfte. Und Heinrich Heine kam zu dem resignativen Schluss:

    "Während der Tage des Hambacher Festes hätte mit einiger Aussicht guten Erfolges die allgemeine Umwälzung in Deutschland versucht werden können. Jene Hambacher Tage waren der letzte Termin, den die Göttin der Freyheit uns gewährte."

    Denn aus der gescheiterten demokratischen Einheit von unten resultierte 1871 die kriegerische Einheit von oben. Bismarck schuf Deutschland mit "Blut und Eisen" gegen die Franzosen, wie er es bereits 1862 in seiner legendären Rede im preußischen Abgeordnetenhaus prophezeit hatte:

    "Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen - sondern durch Eisen und Blut."

    Damit knüpfte Bismarck unmittelbar an ein Gedicht aus den Befreiungskriegen an, das der junge Kriegsfreiwillige Max von Schenkendorf 1813 geschrieben hatte. Dort heißt es:

    "War das alte Kreuz von Wollen,
    Eisern ist das neue Bild,
    Anzudeuten, was wir sollen,
    Was der Männer Herzen füllt.

    Denn nur Eisen kann uns retten,
    Und erlösen kann nur Blut,
    Von der Sünde schweren Ketten,
    Von des Bösen Uebermuth."


    So legte jede durch den Krieg politisierte Generation den Keim für die kommende. Schon die nächste, auf die Reichseinheit folgende, sollte dieses Prinzip bestätigen - wenn auch in völlig anderer Weise als bisher.

    Die um die Jahrhundertwende 1900 entstehende Generation der Jugendbewegung war als erste nicht mehr mit dem Krieg direkt in Berührung gekommen. 30 Jahre trennten sie von den Einheitskriegen. Und doch setzte sie sich dezidiert von ihrer Vorgängergeneration ab. Ihr besonderes Kennzeichen war ein schwärmerisches Naturverständnis. Dieses richtete sich gegen zweierlei: erstens gegen die rasante Industrialisierung. Und zweitens gegen die grassierende Militarisierung.

    Gegen den herrschenden Hurra-Patriotismus der Wilhelminischen Ära entwickelte die Jugendbewegung einen dezidiert zivilen, anti-autoritären Zug. Auch deshalb wurde sie vor allem als kulturelle Revolution empfunden - gerichtet gegen die autoritäre Vätergeneration. Hier trifft - ähnlich wie mit Blick auf 1968 - die Beschreibung des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich zu:

    "Alle großen Revolutionen enthalten ein Stück Abtöten der Vergangenheit, weil diese Vergangenheit so enttäuschend war."

    Allerdings war diese ursprünglich eher zivile Jugendbewegung, die 1913 auf dem Hohen Meißner ihre alternative Gedenkfeier nach 100 Jahren Völkerschlacht beging, vor ihrer eigenen Politisierung, ja Militarisierung nicht gefeit. Der Erste Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wurde zu dem großen polarisierenden Erlebnis dieser Generation. Der Dichter Oskar Maria Graf, Jahrgang 1894, bringt die Bedeutung des Krieges in seinem Gedicht "Eine Generation" auf den Punkt:

    "Alle haben wir in den Krieg gemusst
    für irgendwen und irgendwas.
    Mit einem furchtbaren Hass
    sind wir wieder heimgekommen
    und keiner mehr hat weitergewusst.

    Wir waren eine stolze Generation
    und haben in den Krieg gemusst
    und erst nach dieser Revolution gewusst:
    Das alles ging für irgendwen und irgendwas.
    Es blieb uns nichts als Hass und Hohn,
    sonst aber sind wir völlig glaubensleer."


    Was diese Generation noch einte, als sie 1918 aus dem Kriege heimkehrte, war allein der Hass. Völlig offen war hingegen, wie sich dieser Hass entladen und welche neuen, hoch polarisierten Generationseinheiten daraus entstehen würden. Die Antwort darauf gaben die folgenden Revolutions- und Bürgerkriegswirren: Die einen wurden zu radikalen Anti-Militaristen, Sozialisten und Kommunisten, die statt auf die nationale auf die internationale Revolution setzten.

    Die anderen, unter ihnen der Gefreite Adolf Hitler aus Braunau, kehrten ihren Hass gegen die angeblichen Verräter an der deutschen Sache. Sie vertieften ihren Nationalismus und rüsteten auf gegen die "Novemberverbrecher", die sie für die deutsche Niederlage verantwortlich machten - gegen Sozialisten, Juden und Bolschewisten.

    So ist im Kriegserlebnis der Jahre 1914 bis 1918 bereits der nächste Generationenkonflikt angelegt. Es sollte nur 20 Jahre dauern, bis dem Ersten der Zweite Weltkrieg folgte, ausgefochten nicht zuletzt von jenen, die beim letzten Krieg noch nicht dabei sein konnten und das Erlebnis nur aus den Heldengeschichten der Vorväter kannten.

    Adolf Hitler dagegen wusste aus eigenem Erleben ganz genau, wie sehr der Krieg eine Generation zu prägen in der Lage ist. Im November 1937 erklärte er gegenüber einem Vertrauten:

    "Jede Generation braucht ihren Krieg. Und ich werde dafür sorgen, dass auch diese Generation ihren Krieg bekommt."

    Zwei Jahre später war es soweit: Hitler entfesselte den Zweiten Weltkrieg, der für Millionen den Tod bedeutete. Diesmal allerdings war die Niederlage so total, dass eine neuerliche Radikalisierung zunächst ausblieb.

    Im Gegenteil: Aus der absoluten Ernüchterung des Krieges ging eine Generation hervor, die von jeder Politik genug hatte und sich ganz dem Wiederaufbau widmete. Der Soziologe Helmut Schelsky bezeichnete sie 1957 in seiner "Soziologie der deutschen Jugend" als die skeptische Generation.

    Gemeint war die auch als "45er" bezeichneten HJ-, Flakhelfer- und Kriegsgeneration der Geburtsjahrgänge der 1920er- und frühen 30er-Jahre. Also jene, die eben noch mit gläubiger Inbrunst gesungen hatten, dass sie immer weiter marschieren würden und deren Welt nun vollends in Trümmern lag.

    Schelsky beschreibt diese Jahrgänge wie folgt:

    "Diese Generation ist in ihrem sozialen Bewusstsein und Selbstbewusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubens- oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher. Sie ist ohne Pathos, Programme und Parolen. Die Generation ist im privaten und sozialen Verhalten angepasster, wirklichkeitsnäher, zugriffsbereiter und erfolgssicherer als je eine Jugend vorher. Sie meistert das Leben in der Banalität, in der es sich dem Menschen stellt, und ist darauf stolz. Was sich auch ereignen mag, diese Generation wird nie revolutionär, in flammender kollektiver Leidenschaft auf die Dinge reagieren."

    Im Gegensatz zu ihren Vorgängern war die skeptische Generation von jeder politischen Ideologisierung kuriert. Mit aller Kraft stürzte sie sich stattdessen in das beginnende Wirtschaftswunder. Für Schelsky war die "skeptische Generation” damit auf der einen Seite

    "nur die deutsche Ausgabe der Generation, die überall die industrielle Gesellschaft konsolidiert.”

    Doch auf der anderen Seite stellte Schelsky - so der Widerspruch seiner Analyse - bei der skeptischen Generation ein typisch deutsches Überbleibsel fest:

    "Sie erfüllt vielleicht auch dieses wenig dramatische und ruhmreiche epochale Schicksal mit der gleichen Gründlichkeit und Übertreibung der Konsequenzen, die dem deutschen Wesen und seiner neuesten Geschichte eigen sind."

    Offensichtlich wendeten die einstigen Hitler-Anhänger ihren Fanatismus nun ins Ökonomische als dem idealen Raum zur Verdrängung ihres einstigen politischen Glaubens. Daher war es kein Zufall, dass diese Generation eine Gegenbewegung auf den Plan rufen musste.

    Dass, was die skeptische Generation verdrängte - den Krieg und ihren eigenen Fanatismus -, kam bei zahlreichen 68ern erneut zum Ausbruch: politische Unbedingtheit bis zum fanatischen Radikalismus, der wie im Falle der RAF auch vor brutaler Gewalt bis hin zum Mord nicht haltmachte.

    In ihrer Breite allerdings waren die 68er - von SDS und Jusos bis zu ihren Kontrahenten in Junger Union und RCDS, sprich: von Ströbele bis Schäuble - weniger fanatisch als vielmehr hochgradig politisch. Damit wurden sie schon ob ihrer Größe die für die Bundesrepublik bis heute prägende politische Generation. Noch die Tatsache, dass Gerhard Schröder und Joschka Fischer 30 Jahre nach 1968 die Bundestagswahl gewannen, wurde als die Machterlangung einer ganzen "ungemein politischen" Generation wahrgenommen - gegen den vermeintlich unendlich regierenden Skeptiker Helmut Kohl.

    Spätestens heute aber, mit dem Abgang der letzten 68er, steht die Frage im Raum, warum seither keine neuen politischen Generationen mehr entstanden sind. Kann die Politik, kann Deutschland, kann Europa nicht mehr polarisieren, wie noch in den 60er-Jahren? Und was prägt heute die nachwachsenden Jahrgangskohorten?

    Fest steht: Die eigentlich wesentlich bedeutsamere Zäsur als 1968, die friedliche Revolution von 1989, hat die Deutschen offenbar nicht derartig politisiert, dass eine neue Generation entstanden wäre, obwohl besonders schnelle Deuter umgehend die "89er" erfanden.

    Gewiss: Tatsächlich wird man in Angela Merkel unschwer eine "89erin" sehen können. In dem Sinne jedenfalls, wie Thomas de Maizière es formuliert,

    "dass sie nach der Wende an existenziellen politischen Entscheidungen mitgewirkt hat. Und dass sie an ein neues Deutschland geglaubt hat."


    In der Tat gäbe es ohne 1989 und den Fall der Mauer keine Kanzlerin mit dem Namen Merkel. Doch zu einer eigenen Generation hat die Herstellung der nationalen Einheit offensichtlich nicht geführt. Die Antwort, warum dies so sein könnte, gibt ebenfalls die Analyse Karl Mannheims: Offenbar verfügte 1989 nicht über hinreichend kontroverses Potenzial. 1968 war ein Datum des Konflikts, 1989 vor allem ein Datum der Freude - zunächst jedenfalls. Und jene, die von der realen Vereinigung alsbald enttäuscht wurden, zogen sich eher resigniert ins Private zurück.

    Die Frage, die sich damit heute stellt, ist jedoch eine grundsätzlichere, über das Jahr 1989 und den Spezialfall Merkel hinausweisende: nämlich ob der Typus einer politischen Generation als solcher mit dieser Wahl abtritt.

    Zweifellos haben wir in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts immer wieder Ansätze neuer Jugendbewegungen erlebt - von Attac bis Occupy. Und auch hier war es nicht zufällig ein Krieg, der am stärksten polarisierte: Am 15. Februar 2003 demonstrierten in Deutschland wie in ganz Europa Hunderttausende junge Menschen gegen den kommenden Irakkrieg.

    Doch wo seit Beginn der Euro-Krise 2010 in den besonders betroffenen südeuropäischen Ländern wieder Tausende Jugendliche auf die Straße gehen, herrscht in Deutschland das Schweigen im Walde. Von einer neuen Protestbewegung als Aufbruch einer neuen Generation kann hierzulande nicht die Rede sein. Eher beobachtet man bei den Heranwachsenden einen Rückzug ins Private und in die berufliche Karriere. Offensichtlich herrscht ganz allgemein der Wunsch vor, angesichts neuer globaler Unübersichtlichkeiten verschont zu bleiben von politischer Auseinandersetzung und von politischer Entscheidung - gar über Krieg und Frieden, ob in Syrien oder im Iran.

    Der Publizist Florian Illies, Autor der nach seinem eigenen Erfolgsbuch benannten "Generation Golf", fand für diesem Eskapismus aus der Politik den treffenden Titel "Anleitung zum Unschuldigsein". Ist es nicht das, was viele Jüngere heute offenbar ersehnen.

    Fast resignativ stellt die Publizistin Meredith Haaf unter ihren Gleichaltrigen eine erstaunliche Flucht in die politische Unmündigkeit fest:

    "Meine Generation hat sich nicht bewusst abgewandt vom Erwachsensein, sondern sie fängt damit gar nicht erst an. Solange diese Generation nicht begreift, dass es gar nicht mehr ums Erwachsenwerden geht, sondern längst ums Erwachsensein, wird sie weder für sich noch für die Gesellschaft Verantwortung übernehmen können."

    Was daraus folgt, ist in den Augen von Haaf eine höchst fatale Orientierungslosigkeit:

    "Meine Generation ist in ihrer Grundhaltung gegenüber den großen Themen des Lebens hilflos, überfordert, in Anspruchsdenken gefangen. Und resigniert in einem Maße, das sich durch keine Erfahrung rechtfertigt, die ein durchschnittliches Bürgerkind in Deutschland in den letzten 30 Jahren machen konnte."

    Diejenigen, die dem von Haaf beschriebenen resignativen Rückzug noch am ehesten ein positives Gegenmodell entgegensetzen, sind die Piraten. Allerdings gehen sie einen völlig anderen Weg als die 68er: Statt gegen die Parlamente zu opponieren, drängen die Piraten in diese hinein. Und während die 68er die Sprachlosigkeit der Kriegsverlierer, der skeptischen Generation und ihrer Vorgänger, mit enormer Sprachgewalt konterten, erleben wir heute das Gegenteil.

    Zwar bedienen sich auch die Piraten einer Sprache, allerdings einer völlig neuen und anderen, nämlich der des Internets. Damit erringen sie die Deutungshoheit im virtuellen Raum, geben jedoch die klassische, politische Kommunikation weitgehend auf - nämlich die von Rede und Gegenrede in der politischen Arena.

    Dazu noch einmal Meredith Haaf zu ihrer Generation:

    "Wenn es eins gibt, das uns quer über alle Grenzen von Wohlstand, Bildung oder Ethnie hinweg eint, dann das hemmungslose Mitteilungsbedürfnis. Wir posten Weblinks bei Twitter, laden Fotos bei Flickr hoch, aktualisieren unsere Statusmeldungen bei Facebook und scheuen dabei keine Banalität. Interaktion findet vor allem in Form von Lob statt. Jeder für gelungen befundene Inhalt wird mit Kommentaren, Followern oder dem 'I like'-Daumen belohnt. Wut aber ist nicht unser Ding."

    Was diese neue Generation eint, ist somit nicht länger politisches Aufbegehren, sondern eine erstaunliche Tendenz zur Affirmation. Der klassische Generationenkonflikt durch Abgrenzung und Emanzipation von den Lebensentwürfen der Eltern findet hier offensichtlich nicht mehr statt.

    Die Ursache dafür liegt für Haaf auf der Hand:

    "Wir sind nicht fähig, Kritik zu üben. Das politische Argument ist in meiner Generation fast ausgestorben. Wenn wir das nicht ändern, werden wir irgendwann feststellen, dass eine andere, jüngere Generation über uns sagen wird: Sie ließen ihre Welt veröden, weil sie lieber labern wollten."

    Viel spricht in der Tat dafür, dass man die junge digitale Generation tatsächlich weniger als ein politisches, denn als ein ästhetisches Phänomen begreifen muss - nämlich als eines der bloßen Unterhaltung. Sprich: einer völlig veränderten, weitgehend entpolitisierten Kommunikation in den neuen digitalen Netzwerken und Welten.

    Bereits bei Karl Mannheim findet sich die Vermutung, dass auf jede politische stets eine eher ästhetisch-apolitische Generation kommt. Das Problem ist nur: Inzwischen sind bald 50 Jahre seit dem Aufbruch der 68er vergangen. Veranschlagt man für eine Generation die üblichen 30 Jahre, wäre also allemal Zeit für eine neue politische Generation. Dergleichen ist jedoch noch immer nicht in Sicht.

    Das ist einerseits - ironischerweise - ein ausgesprochen positiver Befund, wenn wir an die Ausgangsthese zurückdenken: Demnach kommen politische Generationen in Deutschland stets als eine Frage von Krieg und Frieden zustande. Konsequenterweise fällt in einem friedlichen, postheroischen Deutschland die klassische Bildung politischer Generationen aus.

    Andererseits bedarf es aber noch immer eines gehörigen Maßes an politischer Leidenschaft, um ein politisches Leben wirklich durchzuhalten. Derartige starke politische Überzeugungen entstanden in der deutschen Geschichte in aller Regel durch neue Generationen. Ohne ein erhebliches Maß an politischem Wollen, ja politischer Unbedingtheit, hält man ein langes politisches Leben offensichtlich kaum durch.

    Auch das war in den letzten Jahren an den Piraten zu beobachten: Binnen kürzester Zeit traten unzählige ihrer Funktionäre wegen Überarbeitung zurück. Offensichtlich reichte die neue Kultur der Smileys und der Affirmation nicht aus für das bereits von Max Weber geforderte geduldige Bohren dicker politischer Bretter.

    Ab heute Abend, nach dem Abgang der letzten 68er, werden die neuen postheroischen Jahrgänge nun den Beweis zu erbringen haben, ob sie politisch wirksam werden können, auch ohne eine klassische politische Generation zu sein. Auch deshalb dürfen wir auf den nächsten Bundestag und seine Zusammensetzung gespannt sein. In wenigen Stunden werden wir es wissen.
    Studentenführer Rudi Dutschke bei einer Demonstrationin Berlin im April 1968
    Studentenführer Rudi Dutschke bei einer Demonstrationin Berlin im April 1968 (AP Archiv)
    Die Piratenpartei will auf ihrem Parteitag ihr Programm erweitern
    Die Piratenpartei will in den Bundestag. (dpa / Markus Scholz)