So Karl-Eduard von Schnitzler, Chefkommentator im DDR-Fernsehen, noch im Oktober 1989, als die SED-Führung schon im Abdanken war. "Das Feindbild muss wach gehalten werden." Was heute so grotesk klingt, gehörte 40 Jahre lang zum Tagesgeschäft von Schnitzler, aber auch von Journalisten auf der Gegenseite.
Silke Satjukow: "Wir brauchen in den Gemeinschaften Werte, die wir für richtig erachten. Und wir brauchen das Gegenstück dazu: Wir brauchen die hinter dem Zaun, "die Anderen", denen man alles Böse zudichten kann. Das heißt, man braucht Feindbilder zur Reduktion von Komplexität, und man braucht Feindbilder, um das Böse in der eigenen Gemeinschaft nach draußen zu verlagern. "
So Silke Satjukow, gemeinsam mit Rainer Gries Herausgeberin des Bandes "Unsere Feinde". 29 Autoren schreiben über Feindbilder im Sozialismus, vor allem in der DDR und der Sowjetunion, aber auch in Polen, Ungarn und Albanien. Die Herausgeber machen in ihrem einleitenden Essay deutlich, dass Feindbilder keine Erfindung des 20. Jahrhunderts sind, sondern dass sie der Menschheit als "anthropologische Grundkonstante" eigen sind. Die Herabwürdigung des Anderen, des Fremden, erhöht und stabilisiert das Selbstbewusstsein, schmeichelt dem Selbst. Werden Feindbilder zur Staatsdoktrin erhoben, besitzen sie jedoch nicht nur ideologische Deutungsmacht, sondern auch Wirkungsmacht: Indem sie – vor allem im totalitären Staat – ein umfassendes Bild von Gut und Böse, von Richtig und Falsch, von Freund und Feind vermitteln, setzen sie zugleich Normen und Regeln, nach denen sich jeder, will er nicht zum Feind werden, richten muss. Feindbilder im Sozialismus sind also keine Orientierungshilfen, sondern Orientierungsdiktate. Nach dem Motto: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns."
Satjukow: " Insofern reiht sich das Feindbild des Sozialismus in eine breite, lange Linie menschlicher Feindbilder ein. Der Unterschied allerdings ist, dass man alle Feindfiguren, die es früher gab – der Franzose, der Pole, der Russe – in eine Dichotomie gestellt hat. Die Dichotomie war Hier-Gut, Dort-Böse, und sie hieß nun nicht mehr Russe-Deutscher, sondern sie hieß Kapitalismus-Kommunismus. Das heißt, man hat an die Stelle der Völker Ideologien gesetzt. Und alle Figuren, die man nun erfunden hat, und auch nicht nur erfundene, sondern man hat auch alte Figuren benutzt, hat man in diese Dichotomie gestellt: Entweder er ist hier ein Kommunist, der Gute, oder er ist dort ein Kapitalist, der Böse. Jenseits von diesen zwei Kategorien gab es nichts mehr. "
Und das begann schon sehr früh, nach der Revolution in Russland 1917: Die Bolschewiki sah sich umstellt von Feinden, im europäischen Ausland fühlten sich die Herrscher von der kommunistischen Idee bedroht. Die frühsowjetischen Propagandaplakate machen deutlich, dass die Kommunisten ihre von Marx und Lenin geprägte Vorstellung vom Klassenkampf auf die Außenpolitik übertrugen: Wo alle Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist, da spiegeln auch internationale Beziehungen nur Klasseninteressen wider. Nicht "der Pole" ist der Feind, sondern der polnische Marschall Pilsudski: feist, dickbäuchig, schweinsgesichtig. Mit ihm im Bunde sind russische Kulaken, deutsche Kapitalisten, der tyrannische Zar, der faule Pope. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte, hin zum Sieg des Kommunismus in der ganzen Welt, aufhalten wollen. Also können sie unbarmherzig bekämpft und "ausgemerzt" werden.
Problematisch ist dabei nur, dass ein Feindbild immer an Bekanntes anknüpfen muss, um wirksam zu sein, an alte Stereotype, Ängste, Prägungen, Vorurteile, aber auch Erfahrungen. Sehr anschaulich zeigt das Buch hier an vielen Beispielen, welche Mühe und Skrupellosigkeit es manchmal erfordert hat, alte Feind-Stereotype in ein neues, klassenkampfkompatibles Bild zu zwingen.
Satjukow: " Zum Beispiel das Jüdische, was in den Köpfen der Deutschen ja schon im Nationalsozialismus und davor vorhanden war, benutzt man nun, indem man es zusammenbringt mit den Kapitalisten und Imperialisten. In diesem Zusammenschnitt "jüdisch-kapitalistisch-militaristisch" funktioniert es dann. Die Menschen erinnern sich daran, dass sie diese Elemente ja schon kannten und hassten. Und sie brauchten sie nur auf neue Figuren zu übertragen. Und das hat bei vielen funktioniert. "
Der millionenfache Mord an den europäischen Juden konnte die spätstalinistische Propaganda nicht daran hindern, den latenten Antisemitismus in der Sowjetunion, in der DDR und anderen sozialistischen Ländern zu nutzen, um innere und äußere "Feinde" zu stigmatisieren, auszugrenzen, in Schauprozessen zu verurteilen oder sogar hinzurichten. Diesem alten Reflex konnte man vieles aufladen, währenddessen zum Beispiel der Feind Bundesrepublik für viele DDR-Bürger schwer vermittelbar war.
Erstaunlich ist die Vielfalt der sprachlichen Bilder, die die Feindbild-Propaganda nutzt, um ihre Version von Gut und Böse zu vermitteln: Da gibt es "Finanzhyänen", "Blutsauger" und "Parasiten", die im Herzen des Sozialismus ein "weitverzweigtes Netz von Agenten, Spionen, Diversanten und Saboteuren" aufbauen und zu den "satanischsten Mitteln greifen", um durch "Wühlarbeit" und "Zersetzungsarbeit" "Unzufriedenheit zu säen". Damit lässt sich jeder Waren-Engpass, jeder Misserfolg der Parteipolitik erklären und jeder innere Feind anklagen und verurteilen. Oder, wie Ingo Loose es in seinem Aufsatz über antisemitische Feindbilder in Polen treffend formuliert: "Feindbild heißt, der Krise ein Gesicht zu verleihen." Wer den "räuberischen Imperialisten" und "zionistischen Monopolkapitalisten" keine Chance geben will, so die Botschaft, muss wachsam sein. Der darf sich nicht den "widerwärtigen Hollywoodfilmen" aussetzen, der "Schlammflut amerikanischer Afterkultur", die "dem deutschen Volk moralisch das Rückgrat bricht und unseren Nationalcharakter vernichtet". Der "volksfremde und volksfeindliche Kosmopolitismus" bringt die "geistige Entmannung unseres Volkes durch kosmopolitisches Gift" mit sich. Dies ist keine NS-Propaganda, sondern entstammt Zeitungen der DDR.
Das Buch macht in einer Vielzahl sehr tiefgehender Analysen deutlich, wie Feindbilder in verschiedenen sozialistischen Ländern und zu verschiedenen Zeiten konstruiert, benutzt und zum politischen und juristischen Werkzeug gemacht werden. Schrecken und Komik sind hierbei mitunter recht nahe. Dem Aufsatzcharakter der einzelnen Kapitel ist geschuldet, dass dem Leser prinzipielle Fragen über Ursprünge, Geschichte und Bedeutung von Feindbildern nicht immer dort beantwortet werden, wo er sie stellen mag. Schade ist, dass die reziproke Seite, der Westen, nur in einem Aufsatz beleuchtet wird: Denn hier wird klar, dass die stereotypen Feindbilder auch oft ihre Entsprechung auf der anderen Seite hatten, wo Freund und Feind, Gut und Böse nur ihre Rollen tauschten.
Interessant sind vor allem die Detailstudien, die sich etwa mit der Wurzel des marxistischen Antisemitismus, dem Verhältnis von inneren zu äußeren Feinden oder der Schwierigkeit bei der Vermittlung konkreter Feindbilder auf dem russischen Land beschäftigen. Das Buch ist für seinen wissenschaftlichen Anspruch erfreulich reichhaltig illustriert und sowohl als Ganzes als auch in Teilen gut zu lesen.
Henry Bernhard über: Unsere Feinde. Konstruktion des Anderen im Sozialismus. Herausgegeben von Silke Satjukow und Rainer Gries im Universitätsverlag Leipzig, 555 Seiten für 44 Euro.