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Die Kraft des poetischen Denkens

Ein tiefromantischer und zugleich messianischer Impuls prägt dieses außergewöhnliche kleine Buch, das in einer erstarrten, geschichtsvergessenen und zukunftsmüden Situation zugleich zur Rettung des Vergangenen wie zum Auszug an neue Ufer aufruft.

Von Dorothea Dieckmann | 26.08.2010
    "Unser Erbe ist ein verlassenes Gebiet.
    Hier herrscht eine große Verwüstung, der wir nicht beizukommen wissen.
    Wir sind seit jeher ihre Kinder.
    Sie ist unsere Jugend.
    Wir sind wohl zu spät gekommen.
    Obwohl man uns sagt, dass früher auch nichts besser war, [...] hätten wir uns allerdings gefreut über die Überlieferung einiger Hinweise, eine Anleitung zum Handeln die Zukunft betreffend, ein Handbuch für die Arbeit, die Revolutionen und das Meer."


    Das schöne alte Wort "waghalsig", das im Titel von Dorothee Elmigers Buch wiederaufersteht, kann auch für ihre Sprache stehen. Frei wechselt sie die Register, doch egal ob wissenschaftlich distanziert, nüchtern berichtend, märchenhaft getragen oder mündlich-salopp – sie behält stets einen klaren, unbeirrbaren Ton, der deutlich macht, dass die katastrophische Szenerie einer verlorenen Jugend in einer zerstörten, menschenarmen Landschaft unser Hier und Jetzt darstellt. Wir befinden uns im nördlichen Kohlerevier, einem abgesperrten Gebiet mit stillgelegten Gruben, die ein andauernder Schwelbrand zum Einsturz gebracht hat, und mit ihnen Häuser, Straßenzüge und Wälder. Die Jugend, das sind die Erzählerin Margarete Stein und ihre Schwester Fritzi. In dieser Welt, die scheinbar an ihr Ende gekommen ist, widmen sie sich der Erforschung des verwüsteten Landes, seiner Vergangenheit und Zukunft, seiner Himmelsrichtungen, Koordinaten und verschütteten Potenziale. Fritzi geht nach draußen, Margarete forscht in Büchern und notiert ihre Funde. Aber die Orientierungsschwierigkeiten der Feldforschung gelten auch fürs Schreiben:

    "Die Versuche einer Chronik. Sie sollte uns helfen in diesem Schlamassel. Ich schrieb:
    Versuche gehorsam zu sein!, also die Ereignisse gehorsam dem unterzuordnen, was gemeinhin als Geschichte anerkannt wird. Also die Ereignisse sorgsam einer Chronologie unterzuordnen, obwohl doch die Chronologie eine dreiste Vereinfachung der Dinge bedeutet, zusätzlich eine Relativierung und den grundsätzlichen Verzicht auf Widerspruch, auf die Bildung von nichtverwandtschaftlichen Banden und Bündnissen. Auf den unvermittelten Auftritt der Möglichkeiten im Raum."


    Dorothee Elmiger lässt keinen Zweifel, dass die Recherche ihrer beiden Protagonistinnen und das Abenteuer des Erzählens dieselben Fragen aufwerfen. Das leere Gebiet ist nicht nur der Schauplatz, sondern der Raum des Erzählens selbst. Was ist Geschichte, was sind Geschichten? Sind wir gezwungen, uns auf lineare Ereignisfolgen und patriarchale Genealogien zu verlassen, wie es die traditionelle Geschichtsschreibung und Romanliteratur tun? Oder gibt es eine Geschichte des Widerstands und der Freiheit? Können wir aus der vorgegebenen Ordnung ausbrechen? Nicht zufällig ist der Vater der beiden jungen Frauen Polizeikommandant. Mit seinen Beamten patrouilliert er durch das Sperrgebiet, protokolliert die Zerstörungen, hält fremde Elemente fern und vermisst die Parzellen, ein Sachwalter des trostlosen Status quo. Die Mutter Rosa dagegen ist fortgegangen, und in den Vermutungen über ihre Person bündeln sich die klassischen Utopien eines Lebens im Aufbruch, wie sie in den Überlieferungen den Männern vorbehalten sind. Eine der Varianten lautet:

    "Nicht nur war Rosa Stein eine Abenteurerin, sie war zugleich auch Großwildjägerin und Hochseefischerin. In Russland hat sie das Ingenieurswesen und die Revolutionen studiert, in Reno hat sie ein Casino ausgeraubt und sich mit dem Geld einen Frachter gekauft."

    Die abwesende Rosa Stein verkörpert gegenüber der starren Wirklichkeit das Reich der unentdeckten Möglichkeiten, das ihre Töchter suchen. Bald konzentriert sich ihr Interesse auf einen Fluss, der das Gebiet einst durchquert haben soll; in ihm verbinden sich Vergangenheit und Zukunft, denn das Gewässer, das einmal existiert hat, kann – wie ein Revolutionär im Untergrund – unterirdisch überdauern und eines Tages wieder auftauchen. Sein sprechender Name lautet Buenaventura, soviel wie guter Wind oder schönes Abenteuer, und verweist auf Elmigers Material.
    Tatsächlich hat es auf den Landkarten der frühen Pioniere auf dem amerikanischen Kontinent einen Fluss dieses Namens gegeben, der nie entdeckt wurde, ebenso wie es dort eine Geisterstadt in einem verlassenen Kohlegebiet gibt, unter dem seit Jahrzehnten ein Minenfeuer schwelt. Elmiger verwischt diese realen Spuren und lässt dafür ihre Pionierinnen allen erdenklichen Spuren folgen, Hinweisen in Sachbüchern, Fotos, Interviews. Es geht um die Verifizierung von Hypothesen wie um plötzliche Fundstücke, um Korrespondenzen von Ereignissen, Wörtern und Namen. Ist es ein Zufall, dass der spanische Anarchist Durruti den Vornamen Buenaventura trug? Dass er – auch wenn dies eine Erfindung ist – eine Schwester hatte, die Rosa hieß, ebenso wie die Mutter, aber auch wie Rosa Luxemburg? Nein, denn so ergibt sich eine Ahnenreihe der anderen Art, eine Genealogie der Rebellion. Sie ist nur zu erreichen durch eine rebellische Erzählweise. Schon früh werden die Leser gewarnt:

    "An der ganzen Geschichte ist nichts Geheimnisvolles, wenngleich sie stellenweise für Verwirrung sorgen und dadurch schreckhafte Gemüter beunruhigen mag, wie es das Leben auch oft tut. Das kann leider nicht verhindert werden."

    Frecher und eleganter kann ein Seitenhieb gegen die Unterhaltungsliteratur nicht sein. Dorothee Elmiger dagegen treibt ein reiches, kluges, gewitztes Spiel mit Fragmenten und Versatzstücken, Zitaten, natur- und kulturgeschichtlichen Motiven, ein Puzzle, aus dem sich allmählich Ergebnisse herausschälen. Leitmotivisch stehen der Vater und die Polizei der Jugend einander ebenso gegenüber wie die leere Wüste, Stillstand und Austrocknung der Utopie von Wasser, Fließen, Ausfahrt und Veränderung. Der Konflikt mit den Polizisten eskaliert unterschwellig, doch auch die Recherche schreitet fort. Im Zug von Margaretes Nachdenken über die Grubenpferde findet Fritzi ein weißes Pferd namens Bataille. Auf einer getrennt unternommenen, simultan erzählten Exkursion bekommt Fritzi von einer Archäologin den Hinweis auf ein sogenanntes Schluckloch, durch das sich Flüsse durch Versickerung einen Weg ins Gestein bahnen. Fritzi sucht Margarete mit einer Vision aufzurütteln:

    "Von der Zeit kurz nach dem Aufwachen müssen wir sprechen, von der Veränderung des Lichts im Lauf eines Tages zum Besseren hin, von den Anzeichen des nächsten Tags, der so sein wird, wie wir das wollen. [...] Von den Füßen des Albatros und von Hemingways Töchtern. Von Büchern, die damit enden, dass Fischer aufstehen und Schiffe ablegen. [...] Von der wilden Katze, die sich heimlich in den Sträuchern ein Nest baut. [...] Wir müssen zu Recht behaupten, dass dieser Zustand nicht der letzte ist. Wir dürfen nicht glauben, dass die Dinge unumstößlich sind!
    Wir müssen jetzt auch von den unbekannten Wegen im Gebiet sprechen, sowie von den altbekannten, in Vergessenheit geratenen. Vor allem müssen wir von dem Fluss sprechen, dem Fluss Buenaventura, bis wir ihn finden. So weit wird's noch kommen!


    Und es kommt so weit: Fritzi findet das Schluckloch, in dem ein Rinnsal verschwindet. Die Schwestern ziehen in ein leeres Haus daneben, hüten das Pferd und das Wasser und planen eine Konferenz über die Zukunft und ein Fest, bei dem sie den gefundenen Fluss bis nach China befahren wollen:

    "Wir werden zahlreiche Gäste einladen, unter anderem viele Montanwissenschaftler, Archäologinnen, eine Einheit Feuerwehrmänner, Vertreter und Vertreterinnen der Künste, die Bergleute aller Kontinente, einen Typografen, mehrere junge Waghalsige."

    Ein tiefromantischer und zugleich messianischer Impuls prägt dieses außergewöhnliche kleine Buch, das in einer erstarrten, geschichtsvergessenen und zukunftsmüden Situation zugleich zur Rettung des Vergangenen wie zum Auszug an neue Ufer aufruft. Diesen Impuls gestaltet seine oft archaische und zugleich anarchisch komponierte Sprache, in der alte Sehnsuchtsmotive mit unprätentiöser, anfangsfrischer Lakonik aufscheinen. Gegen die "Erschöpfung" – ein von Elmiger oft verwendetes Wort –, unter der unsere in Eigentums- und Sicherheitskategorien erstarrte Welt leidet, mobilisiert sie die Kraft des poetischen Denkens. Dass ihr mutiges Schreiben Anerkennung gefunden hat, ist ein gutes Zeichen.

    Dorothee Elmiger: "Einladung an die Waghalsigen". DuMont Verlag 2010, 143 Seiten