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Die kranke Version des Hipster

Thomas Melles erster Roman "Sickster" hat es auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geschafft. Es ist eine Analyse gegenwärtiger Verhältnisse, deren Leitbilder und Erfolgskonzepte bei den drei jungen Protagonisten zu Entfremdung und psychischem Leid führen.

Von Ralph Gerstenberg |
    Sie sind jung, sie sind erfolgreich und sie sind in Berlin. Und doch gehören Magnus, Thorsten und Laura einer Spezies an, die etwas Destruktives und Ungesundes in sich trägt, einer Spezies, die der Autor Thomas Melle für seinen gleichnamigen Roman erfunden hat. Sie sind "Sickster".

    "Der Titel 'Sickster' schwebt mir schon länger im Kopf herum. Ich dachte an Hipster oder Gangster, nur halt dann die kranke Version dessen. Ich dachte auch, dass das Hip-sein oder das Hip-sein-wollen manche Neurose befördert in den Szenekreisen Berlins, und hatte auch vor, ein Wort zu nehmen, mit dem jeder machen kann, was er will. Natürlich, es kommt von sick - krank, und ist die Substantivierung dessen. Ich dachte: Ja, was ist denn jetzt dieser Sickster? Das Wort kommt im Buch nicht mal vor. Ist es der sickste Roman? Wer ist denn jetzt wirklich sicker als der andere? Thorsten oder Laura oder Magnus oder die Kontexte, in denen sie sich bewegen? Es sollte etwas Abstraktes, aber Deutliches sein."

    Thorsten Kühnemund arbeitet als Manager für einen Ölkonzern. Er trinkt und kokst und versumpft regelmäßig im Berliner Nachtleben. In seiner zwanghaften Fantasie erscheinen Praktikantinnen stets in Pornoposen. Seine sexualisierte Wahrnehmung korrespondiert mit seinem Job, in dem er Bilder und Schablonen produziert, die er inzwischen mit der Wirklichkeit zu verwechseln scheint. Diskrepanzen werden im Alkohol ertränkt. Der nüchterne Blick auf das eigene Elend ist schwer zu ertragen.

    "Natürlich", sagte Thorsten und spürte, wie sich eine große Leere in seinem Kopf breitmachte. (...) Er sah und dachte einen Augenblick lang gar nichts mehr. Ein grässliches Nichts ballte sich in ihm zusammen. "Herr Kühnemund?" Eine Panik, so zu bleiben für immer, so voller Nichts. Weiße Panik. "Entschuldigung", sagte Thorsten, "kleine Tagträumerei."

    Auch Thorstens depressive Freundin Laura leidet - an ihrer Partnerschaft, ihrer Orientierungslosigkeit, an den Zumutungen und Unterforderungen ihres Halbtagsjobs in einem Callcenter. Auf der Toilette kratzt sie sich die Wunden, die sie sich selbst zugefügt hat, immer wieder auf.

    "Laura ist ja so als Hochbegabte konzipiert, die einfach nicht weiß, wohin mit sich, die in der Beziehung völlig entfremdet ist, die vom Leben völlig entfremdet ist und denkt: Mir wurde gesagt, ich sei so intelligent, ich könne dies, ich könne das, alles toll, nur wohin damit? Es ist dann so eine Orientierungslosigkeit, die sich bei manchen, auch im Bekanntenkreis von mir, so eingestellt hat, wenn die dann auf sich selbst zurückgeworfen waren und vielleicht die ersten Ansätze nicht so geklappt haben. Im Studium beispielsweise. Sie ist ja noch jünger als die beiden anderen."

    Magnus, der dritte "Sickster" in Thomas Melles Roman, bezichtigt sich selbst der "Worthurerei". Er schreibt Artikel für das Kundenmagazin der Ölfirma, in der auch Thorsten arbeitet. Nach dem Abitur, das er in einem Bonner Eliteinternat ablegte, ist der einstige Überflieger auf dem Boden der Realitäten gelandet. An seinen Traum vom Filmemachen klammert er sich genauso wie an seine Jugendliebe, die inzwischen von einem anderen Mann ein Kind erwartet. Bis das eigentliche Leben beginnt, will er noch ein wenig seine Freiheiten genießen. Dabei ist dem Mittdreißiger längst klar, dass seine Jugend schon eine Weile vorbei ist.

    Sein schlechtes Gewissen paarte sich immer mit einer Art trotziger Slacker-Arroganz, wenn Magnus über berufliche Dinge reden sollte. Natürlich dachte er auch irgendwie an die Zukunft, natürlich hatte auch er irgendwas Richtiges vor, zum Beispiel endlich seinen Film in Angriff zu nehmen, den er so lange schon plante. Aber er mochte es auch, durch die Tage zu driften, ohne Ziel, ohne die sogenannten Perspektiven, und die Jobs anzunehmen, wie sie halbwegs kamen. Auf die Zielstrebigkeit der gestriegelten Juristen und BWLer und ihre jetzt schon geregelten Lebensläufe blickte er verächtlich hinab - ohne die Anflüge von Neid, die sich zu diesem Übermut gesellten, vor sich selbst zu verleugnen.

    Mit diesem Personal hat Thomas Melle einen Roman konstruiert, der sich in den ersten zwei Dritteln ganz den individuellen Krankheitssymptomen widmet, die mit fortschreitender Handlung immer deutlicher zutage treten. Dabei interessiert Melle nicht die medizinische Seite der Erkrankungen, sondern die Verhältnisse, die diese Menschen krank machen.

    Situationen der Entfremdung beschreibt er mit bedrückender Eindringlichkeit. Mit Ausbruch der Krankheit bei seinen Protagonisten gewinnt die Handlung des Romans bis zum überraschenden Schluss erheblich an Fahrt. Als unwert ausgesondert aus einer Gesellschaft, die unablässig Leitbilder des Erfolges generiert, schlagen die beschädigten Randgestalten irgendwann zurück.

    "Dieses Schrägdanebenstehen im Leben, diese Entfremdung, die dann wirklich in das Kranksein umkippt und diese Selbsterkenntnis, dass man in der Gesellschaft einen ganz anderen Platz plötzlich hat als vorher gedacht, hat dann so einen Handlungsimpetus oder so eine Möglichkeit, die Dinge ändern zu wollen, in sich, dass man merkt: Hier ist ein Stigma, hier werde ich irgendwie weggeschoben. Das hat eine Gegenreaktion zur Folge, dass man zurückprallt und sagt: Nee, nee, Moment, wir sind auch noch da und wir wollen jetzt die Sachen, die uns vielleicht unbewusst über Jahre mürbe gemacht haben, mal benennen oder irgendwas machen und sei es nur eine Art von kurzer Revolte."

    Auch wenn das etwas plakative kapitalismuskritische Ende vielleicht nicht ganz zu den subtilen Beobachtungen der übrigen Erzählung passen mag, fällt Thomas Melles erster Roman nicht auseinander. Das liegt vor allem an seiner rhythmisch und melodisch auskomponierten Prosa. Thomas Melle greift dabei in die Vollen, arbeitet mit Alliterationen und Metaphern und verwendet lieber ein Attribut mehr, wenn die Beschreibung dadurch noch ein wenig präziser wird.

    "Ich versuche, möglichst genau zu beschreiben. Und ich glaube auch an die Genauigkeit der Beschreibung, dass, wenn man sie wirklich zur Spitze treibt, da auch Kritik erwächst an den Zuständen. Ich fühl mich gar nicht so als politischen Autor, der jetzt den Kapitalismus an sich angreifen möchte, aber je genauer der Blick ist und je genauer die Wortwahl, desto mehr rücken auch mögliche Objekte der Kritik in den Mittelpunkt."

    Thomas Melle: "Sickster".
    Rowohlt Verlag, 336 Seiten, 19,95 Euro