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Die Krise der alten Tante

Über Jahrzehnte galt die BBC als journalistisches Vorbild schlechthin. Ihre Markenzeichen: zuverlässige Berichterstattung, transparente Quellen, hohe Qualität. Doch ausgerechnet im Jubiläumsjahr haben ein Pädophilie-Skandal und Recherche-Pannen den Sender in die größte Krise seiner Geschichte gestürzt.

Von Ruth Rach und Jochen Spengler |
    "Now for the first time we explore the other side of Jimmy Savile."

    Es war die Konkurrenz, die das medienpolitische Erdbeben auslöste, das die öffentlich-rechtliche BBC nun in ihren Grundfesten erschüttert. Anfang Oktober enthüllte der private Fernsehsender ITV in einer 50-minütigen Dokumentation die andere, die dunkle Seite von Jimmy Savile. Der war nicht irgendwer, sondern der Fernsehliebling der Nation, eine Institution und Ikone der BBC.

    "Welcome to January 1st 1964, it's 6:34pm and it's a program you never heard before it's called Top of the pops."

    Jimmy Savile - Moderator und Discjockey, eine britische Mischung aus Thomas Gottschalk, Günther Jauch und Michael Schanze, der seit den 60er-Jahren die Hitparade "Top of the Pops" und später zahlreiche Kindersendungen moderierte

    "Your letter was only the start of it…one letter …."

    In "Jim'll fix it" - Jim wird's richten - erfüllte der exzentrische Clown mit dem weißblonden Prinz-Eisenherz-Haarschnitt Kinderwünsche vor einem Millionenpublikum.

    "… one thing you wanted Jimmy to do to you now you've done it young lady, Jim has fixed it for you."

    Ein Clown mit dicker Zigarre, ein schriller Typ mit dickem Goldkettchen und meist brustoffenem, buntem Polyester-Trainingsanzug. Jimmy Savile, ein ewiger Junggeselle, Freund von Maggie Thatcher und Prince Charles, der vom Papst empfangen und für seine Spenden an Kinderheime zum Ritter geschlagen wurde. Vor einem Jahr verstarb Sir Jimmy und Tausende weinten und säumten die Straßen von Leeds, als sein goldener Sarg vorbeigefahren wurde. Heute ist Savile vom Sockel gestürzt. Das pompöse Grabmal wird von der Familie entfernt aus Angst vor der Wut der Fans. Saviles Figur verschwindet aus Madame Tussauds Wachsfiguren-Kabinett und auch sein Rittertitel dürfte ihm posthum aberkannt werden. Denn Sir Jimmy Savile war ein Kinderschänder.

    "Ich erinnere mich, dass es einen Kampf gab, wie ich versucht habe, ihn wegzustoßen und wie er mich mit seinem Körpergewicht niedergedrückt hat. Zurückschauend denke ich, mein Gott, er hat mich tatsächlich vergewaltigt."

    Betroffene enthüllen in der ITV-Sendung, dass der BBC-Mann Jahrzehnte lang Kinder und Jugendliche missbraucht hat - in Hotels, in seinem Wohnwagen und oft nach den Fernseh-Shows in seiner BBC-Garderobe.

    "Jim hat nicht geküsst oder Gefühle gezeigt, es gab kein Vorspiel – nur einfach das, was er wollte: rein, raus und das war's. Und nachher – als wäre nichts geschehen."

    Doch er bedrohte seine Opfer, den Mund zu halten; niemand werde ihnen glauben, denn er sei König Jimmy. Ihre Angst war so groß, dass sie sich erst nach seinem Tod an die Öffentlichkeit trauten.

    "Es war immer dieses Gefühl, dass er Macht hatte und Verbindungen, und dass man sich nicht mit ihm anlegen sollte. Deswegen habe ich bis jetzt niemandem davon erzählt."

    Saviles großzügige Spenden verschafften ihm auch leichten Zugang zu Krankenhäusern und Behindertenheimen, wo er sich weitere Opfer aussuchen konnte. Dass aus dem Savile-Skandal inzwischen ein "Fall BBC" geworden ist, liegt nicht nur daran, dass man Savile nicht mehr zur Rechenschaft ziehen kann, sondern dass Saviles kriminelle Neigung anscheinend ein offenes Geheimnis war. Rodney Collins arbeitete Anfang der 70er-Jahre als Pressesprecher bei der BBC. Sein Vorgesetzter schickte ihn angesichts all der Gerüchte los, um herauszufinden, was die Boulevardzeitungen über Savile wussten. Die Zeitungsleute erzählten ihm:

    "Wir haben diese Beschuldigungen gehört, Rodney. Wir wissen, dass es sie gibt, aber keine Zeitung wird sie bringen, egal ob wahr oder nicht, weil Jimmy eine Menge Geld an Wohltätigkeitsorganisationen spendet. Er ist so populär, den können wir nicht angreifen."

    Collins Vorgesetzter, verantwortlich für BBC Radio One und Two, war nach dieser Auskunft beruhigt. Er sorgte sich nur um den Ruf des Senders, nicht aber um die Seele der missbrauchten Kinder. Im Laufe der Jahre ermittelte die Polizei mehrere Male gegen Savile, immer ohne Ergebnis, und noch vor fünf Jahren stellte sie ein Verfahren aus Mangel an Beweisen ein. Heute untersucht sie landesweit und befürchtet mehr als 450 mögliche Missbrauchs-Opfer; mehrere andere mit verdächtigte Altstars wurden festgenommen.

    "Was die Abscheu noch vertieft, ist, dass der Missbrauch bei der BBC geschah, einer Institution, die so geschätzt und der so vertraut wird, dass sie als Tantchen bekannt ist. Das hat die BBC beschmutzt."

    Sagt Harriet Harman, Vize-Vorsitzende der Labour-Partei und anders als manche Konservative dem Sender durchaus wohl gesonnen. Doch nach der ITV-Enthüllung versagt George Entwistle, gerade erst seit 14 Tagen neuer BBC-Generaldirektor, bei der Aufgabe, die Verstrickung seines Senders rasch aufzuarbeiten. Der Savile-Skandal sei Angelegenheit der Polizei, erklärt er.

    "Die BBC hat nicht die Möglichkeit Leute zur Befragung zu zwingen, die nicht länger für sie arbeiten, oder Beweise sicherzustellen. Es ist wichtig, und die Polizei hat mich explizit darum gebeten, nichts zu tun, was eine kriminaltechnische Untersuchung beeinträchtigen könnte."

    Die Boulevardzeitungen geißeln den angeblich mangelnden Aufklärungswillen der BBC, unterstellen sogar Vertuschungsabsicht, da das renommierte Newsnight-Programm vor einem Jahr zwar an einer Story über Saviles Missbrauch arbeitete und teilweise dieselben Zeugen wie ITV befragt hatte, den Film dann aber aus dem Programm kippte – angeblich, weil die Beweise gegen Savile nicht stichhaltig waren. Nach anfänglichem Zögern kündigt Generaldirektor George Entwistle schließlich zwei interne Untersuchungen an: zur Kultur und Praxis im Unternehmen, das einen Kinderschänder über Jahrzehnte unbehelligt wirken ließ, und zur Absetzung des Newsnight Films. - Endgültig schlittert die BBC in die Krise, als das Senderflaggschiff Newsnight erneut einen gravierenden Fehler macht. Hat es vor einem Jahr in Saviles Fall über Missbrauch hinweggesehen, beschuldigt es Anfang November übereifrig und als sei es um die eigene Rehabilitation gegangen, einen Politiker des Missbrauchs.

    "Tonight historical allegation of childs sex abuse…"

    Es ist eine wahre Gruselgeschichte. Einem Pädophilenring, der in den 80er-Jahren Jungen in einem Waliser Kinderheim missbrauchte, gehöre auch ein hochrangiger konservativer Politiker der Thatcher-Ära an, behauptet Newsnight. Ein Name wird zwar nicht genannt, aber die Hinweise sind ausreichend, um die Gerüchteküche des Internets anzuheizen, wo dann rasch viele Namen kursierten. Schließlich wird der frühere Schatzmeister der Konservativen Partei, Alistair McAlpine, als vermeintlicher Pädophiler geoutet. Der heute 70-jährige Lord ist zutiefst erschüttert, schaltet seine Anwälte ein und weist die Vorwürfe Punkt für Punkt zurück. Das BBC-Programm Newsnight muss eine Woche später den Rückzug antreten und sich entschuldigen:

    "A new crisis for Newsnight. Tonight this program apologizes. A key allegation in a report about child abuse was wrong."

    Die BBC-Journalisten haben nicht sorgfältig genug recherchiert. Ihr Hauptbelastungszeuge widerruft seine Aussage; weder haben ihm die Reporter ein Foto des beschuldigten Lords gezeigt, noch Lord McAlpine selbst mit den Vorwürfen konfrontiert und um Stellungnahme gebeten.

    "Was hier geschehen ist, ist völlig inakzeptabel. Der Film hätte aus meiner Sicht nicht ausgestrahlt werden dürfen. Ich habe klare und entschlossene Anweisungen gegeben, um herauszufinden, was schief gelaufen ist und verändert werden muss."

    Generaldirektor George Entwistle distanziert sich von dem journalistischen Desaster, das man der seriösen, altehrwürdigen BBC nicht zugetraut hätte. Schließlich galt die BBC über nahezu 90 Jahre als das journalistische Vorbild schlechthin. Als John Reith, ein schottischer Ingenieur und presbyterianischer Pastorensohn, im Dezember 1922 zum ersten Manager der British Broadcasting Company ernannt wurde, hatte er zwar keine Vorbilder, keine Regeln, und keine Hörfunkerfahrung, aber er wusste: der Rundfunk hat enormes Potenzial.

    "Der Rundfunk ist eine Entwicklung, die von der Zukunft ernst genommen werden muss. Ein Instrument von fast unschätzbarem Wert für das gesellschaftliche und politische Leben der Gemeinde, in nationalen und internationalen Angelegenheiten."

    John Reith gilt als "Vater der BBC". Sein Mantra wird bis heute beschworen: Die Programme der BBC sollen die Menschen informieren, bilden und unterhalten. Frei von Werbung, möglichst unabhängig von der Regierung. Durch Rundfunkgebühren finanziert.

    "Here are the news read by…"

    Die Nachrichten werden erst ab sieben Uhr abends gesendet, um die Zeitungen nicht noch mehr zu verärgern. Die britische Presse empfindet die BBC als Konkurrenz und weigert sich sogar, die Sendezeiten zu veröffentlichen. Daraufhin gründet John Reith eine BBC-eigene Programmzeitung, die wöchentliche "Radio Times", die bis heute glänzend überlebt.

    Seit 1924 wird das Greenwich Zeitsignal gesendet, fünf Sekunden vor der vollen Stunde, sowie der Big Ben. König Georg V. hält seine erste Radioansprache. Sie dröhnt aus riesigen Lautsprechern von großen Kaufhäusern und erregt so viel Aufsehen, dass der Verkehr zusammenbricht.

    Zwei Jahre später: die erste Krise. Eine Konfrontation mit der Regierung. Anlass ist der Generalstreik. Die Zeitungen sind im Ausstand, nun ist die BBC die einzige Nachrichtenquelle. Die konservative Regierung, allen voran Winston Churchill, damaliger Schatzkanzler, will den Sender zum offiziellen Sprachrohr machen. Aber John Reith widersetzt sich. Den Politikern wird die Macht des Rundfunks vorgeführt. 1927 erhält die BBC ihren ersten Rundfunkvertrag, die Royal Charter. Sie wird in British Broadcasting Corporation umbenannt: eine von der Regierung unabhängige staatliche Institution, die sich ausschließlich über Rundfunkgebühren finanziert und deren Sendungen dem öffentlichen Interesse dienen sollen. Der öffentlich rechtliche Rundfunk ist geboren. Die BBC zieht wieder um, diesmal ins "Broadcasting House", bis heute ihr Hauptquartier in London. Ein Art Deco Gebäude, dessen Form mit einem Luxusdampfer verglichen wird, und das – so steht es im Jahrbuch 1933 – 800 Türen hat, eine für jeden Mitarbeiter. Der legendäre Ruf der BBC, insbesondere des BBC World Service, geht maßgeblich auf die Kriegsjahre zurück.
    1939 informiert Premierminister Neville Chamberlain die britische Bevölkerung über die Kriegserklärung an Deutschland. Auch sein Nachfolger Winston Churchill - ein Meister der Rhetorik – benutzt die BBC, um sich ans britische Volk zu wenden. Obwohl er die Anstalt – erneut - am liebsten requiriert hätte.

    Zu Kriegsbeginn wird das Fernsehen geschlossen, der Output des Hörfunk mehr als verdoppelt: Die BBC wird wichtiger als die Presse, denn die Bevölkerung will Nachrichten, zu jeder Stunde. Seit 1938 sendet der Auslandsdienst auf Arabisch, Spanisch und Portugiesisch. Später auch in anderen Sprachen. Wieder muss die BBC vorsichtig lavieren. Alle Manuskripte werden der Regierung vorgelegt, besonders schlechte Nachrichten mit Verzögerung gesendet. Dennoch ist Winston Churchill über ihre relativ korrekte Berichterstattung so verärgert, dass er die Anstalt wiederholt als "Feindsender" beschimpft.

    Besondere Bedeutung erlangt das deutsche Programm der BBC. Der German Service, in dem auch bekannte Exilanten zu Wort kommen, unter ihnen Thomas Mann, soll die Propaganda des NS-Regimes entlarven. Wer den Sender in Deutschland einschaltet, wird mit dem Tod bestraft. Dennoch scheinen selbst prominente NS-Funktionäre – wie später bekannt wird - dem Nachrichtenwert der BBC stärker zu vertrauen als den eigenen Medien. Die Paukenschläge, die an die Anfangstakte von Beethovens fünfter Symphonie erinnern, sind das Morsezeichen für den Buchstaben "V" für Victory.

    Im Nachkriegsdeutschland wird die BBC Vorbild für den Aufbau eines vom Staat unabhängigen öffentlichen Rundfunksystems. Auch andere Länder nehmen sich die BBC zum Modell. Sie gilt als Markenzeichen für zuverlässige Berichterstattung, transparente Quellen, hohe Qualität. Mit der Regierung liegt die BBC immer wieder im Konflikt. Der wohl größte Eklat passierte 2003 unter Labour, im Zusammenhang mit dem berüchtigten Dossier, in dem es hieß, irakische Massenvernichtungswaffen seien innerhalb von 45 Minuten einsetzbar. BBC-Reporter Andrew Gilligan erklärte, Regierungssprecher Alistair Campbell habe das Dossier absichtlich aufgebauscht. Campbell, bekannt dafür, dass er die Medien, insbesondere die BBC, pausenlos unter Druck setzte, forderte daraufhin, die BBC müsse ihre Quellen nennen. Daraufhin outete die BBC den Waffenexperten David Kelly, der wenig später tot aufgefunden wurde, offenbar hatte er sich das Leben genommen. BBC Reporter Andrew Gilligan wurde entlassen. BBC-Intendant Greg Dyke trat zurück, der Vorsitzende des BBC Aufsichtsgremiums ebenfalls. Aber auch Regierungssprecher Campbell nahm Monate später den Hut. Die BBC setzt auf Aufklärung ihrer Fehler und auf einen personellen Neuanfang. Für den Rücktritt des bisherigen Generaldirektors George Entwistle am 10. November sorgte in bester, unbestechlicher BBC-Tradition das eigene Radio-Programm. Am Morgen nach dem Eingeständnis der Newsnight-Redaktion, Lord McAlpine zu Unrecht beschuldigt zu haben, wurde Entwistle vom Radiomoderator John Humphries regelrecht verhört. Warum er nicht selbst den früh aufkommenden Zweifeln an der Newsnight-Darstellung nachgegangen sei, wollte Humphries wissen.

    "Bei der Vielzahl der Vorgänge in der BBC kümmere ich mich dann, wenn an mich etwas herangetragen wird."

    "Haben Sie keine natürliche Neugier? Sie warten darauf, bis jemand vorbei kommt und sagt, Tschuldigung Generaldirektor, hier geschieht etwas, das Sie interessieren könnte. Sie gucken nicht selbst, machen nicht das, was jeder andere im Land tut, lesen Zeitungen, hören, was vor sich geht und fragen: Was geschieht hier?"

    "In der Sekunde, als ich darauf aufmerksam gemacht wurde letzte Nacht, habe ich sofort begonnen."

    Als Sie darauf aufmerksam gemacht wurden! Lesen Sie keine Zeitung? Haben Sie nicht die Titelseite des Guardian gestern morgen gelesen?

    "Nein John, ich habe gestern morgen eine Rede gehalten."

    Zwölf Stunden nach der medialen Hinrichtung im eigenen Sender gibt George Entwistle seinen Rücktritt bekannt. Kritik entzündet sich an seiner Abfindung. Er soll nach nicht einmal zwei Monaten Amtszeit ein volles Jahresgehalt in Höhe von 560.000 Euro bekommen. Doch ohne diese Summe wäre Entwistle nicht gegangen. Die Suche nach einem Nachfolger dauert gerade einmal zwölf Tage. Lord Tony Hall, derzeit noch Chef des Königlichen Opernhauses, soll im März sein Amt als neuer Generaldirektor der BBC antreten.

    ""Es waren wirklich schwierige Wochen für die Anstalt. Ich weiß dass wir dadurch finden, indem wir geduldig zuhören und sorgfältig nachdenken über das, was als Nächstes getan werden muss. Ich fühle mich uneingeschränkt unseren Nachrichtenprogrammen als Weltmarktführer gegenüber verpflichtet."