Eine junge Frau hält mit ausgestreckten Armen das Ende einer ausgerollten Plastikfolie über ihren Kopf. Ihr Gesicht mit den dunklen, in der Mitte gescheitelten Haaren ist gut zu erkennen, ihr Körper verschwindet in den Lichtreflexen des sich bauschenden, zerknitterten Kunststoffs. Hermann Landshoff nahm dieses ikonische Foto von Eva Hesse 1968 in ihrem New Yorker Atelier auf.
Allem Erlernten entgegenwirken
In ihren Zeichnungen, Gemälden und Plastiken zog Hesse die Summe der Kunst der 50er- und 60er-Jahre in New York, dem damaligen Zentrum der Kunst. Sie verarbeitete mit ihrem Werk Tendenzen des Abstrakten Expressionismus, der Pop Art, der Minimal Art und beantwortete diese Kunstrichtungen mit Plastiken aus Latex oder Fiberglas, wie sie es bis dahin noch nicht gegeben hatte.
"Wenn ich mit einer Sache beginne, arbeite ich zunächst mit abstrakten Qualitäten, also dem Material, der Form, die sie haben soll, der Größe, der Position, die sie auf dem Boden oder von der Decke hängend einnehmen soll. Ich bewerte das Ganze des Bildes jedoch nicht nach abstrakten oder ästhetischen Gesichtspunkten. (...) Ich glaube nicht an eine Kunst, die auf einer Kompositionsidee basiert oder einer Form. Im Grunde ist es meine Idee, allem entgegenzuwirken, was ich je gelernt habe oder was man mir beibrachte, um etwas anderes zu finden."
"Ich möchte eine freie, spontane Malerei"
So formulierte es Eva Hesse in einem Interview. Die 1936 in Hamburg geborene Tochter eines deutschen Anwalts wusste früh, dass sie Künstlerin werden wollte. Die hervorragende Schülerin besuchte in New York das Pratt Institute und die Cooper Union School sowie die Yale School of Art in New Haven, wo sie bei Josef Albers einen Farbkurs belegte. Ende der 50er-Jahre drehten sich ihre Gedanken um die Idee einer neuen Malerei.
"Ich möchte eine freie, spontane Malerei, eingeschrieben in ein kraftvoll strukturiertes Bild. Das eine muss mit dem anderen Hand in Hand gehen."
Ihre ersten Plastiken entstanden 1964/65 in Deutschland. Ein Industrieller aus dem Ruhrgebiet hatte die Malerin und den Bildhauer Tom Doyle nach Essen-Kettwig eingeladen und dem Paar eine Fabriketage als Atelier zur Verfügung gestellt. Für Eva Hesse bedeutete diese Reise zugleich eine Rückkehr in ihr Geburtsland, das sie im Alter von zwei Jahren verlassen hatte, mit einem Kindertransport, der sie 1938 von Hamburg nach Amsterdam brachte. Doch für Vergangenheitsbewältigung blieb wenig Raum. Hesse und Doyle besuchten die documenta, Museen in ganz Europa und trafen andere Künstler. Sie entwickelte damals einen neuen Bildtyp, absurde maschinelle Formen, die in ein Raster eingeschrieben waren, und begann mit Gips und Schnüren zu experimentieren, woraus erste Reliefs und Skulpturen entstanden.
"Ich interessiere mich für den unbekannten Faktor der Kunst und für den unbekannten Faktor des Lebens. Mein Leben und meine Kunst sind nicht zu trennen."
In der Männerwelt durchgesetzt
Hesse und Doyle trennten sich nach ihrer Rückkehr nach New York. Die Künstlerin experimentierte noch intensiver als zuvor mit neuen Materialien, widmete sich hauptsächlich der Skulptur, erforschte die verstärkende Wirkung serieller Formen. Sie strich flüssige, transparente Latexmasse auf Gazestoff, den sie nach der Aushärtung von der Decke hängen ließ. Mit mehreren solcher Elemente strukturierte sie den Raum. Sie war nun Teil der Kunstszene von New York. Petra Roettig, Kuratorin der Hamburger Kunsthalle:
"Es war ein riesen Freundeskreis. Man hat sich getroffen, über Kunst unterhalten, fast täglich gesehen, war in den Studios, hat über die Arbeiten diskutiert, die eigenen, die der anderen. Und sie war sehr, sehr angesehen. Sie hat sehr viel gelesen, mit Mel Bochner diskutiert, hat Jasper Johns verehrt. Sie hat wirklich es geschafft, sich durchzusetzen in dieser Männerwelt der Minimal Kunst. Und das war nicht einfach."
In der Kunst das Leben abbilden
1968 erkrankte Eva Hesse an einem Gehirntumor; dennoch blieb sie bis zu ihrem Tod am 29. Mai 1970 überaus produktiv. Eva Hesse wollte in ihrer Kunst das Leben abbilden, nicht illusionistisch, sondern als Erfahrung. Woran ihr gelegen habe, so der Künstler Mel Bochner, sei nicht das Kunstobjekt gewesen, sondern die Empfindung, die es bei den Betrachtern hervorruft.