Mario Dobovisek: Das Ruhrgebiet ist also europäische Kulturhauptstadt 2010. Am Telefon begrüße ich Claus Leggewie, er ist Direktor des kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Guten Morgen, Herr Leggewie!
Claus Leggewie: Guten Morgen!
Dobovisek: Das Leitmotiv der Macher der RUHR.2010 lautet "Wandel durch Kultur", sind die Menschen im Ruhrgebiet bereit, sich durch Kultur wandeln zu lassen?
Leggewie: Na ja, das haben sie ja schon die letzten 20, 30 Jahre bewiesen, dass sie das sind. Der angesprochene Strukturwandel hat ja dazu geführt, dass sich jetzt sehr viele Menschen mit Kultur befassen, dass die Kulturindustrie auch im Ruhrgebiet einen wesentlichen Teil der Arbeitsplätze umfasst, und das seit 20, 30 Jahren wissenschaftliche und kulturelle Stätten in großer Zahl im Ruhrgebiet entstanden sind, die in der Industrialisierung und auch aus politischen Gründen dort nie angesiedelt worden waren. Also dieser Prozess ist schon seit Langem im Gange. Die Kulturhauptstadt versucht eigentlich mehr, das, was in den einzelnen 53 Städten und Gemeinden des Ruhrgebiets läuft, zusammenzufassen und dem Ganzen ein Metropolenetikett anzuheften, also eine kollektive Identität als Ruhrstadt zu geben.
Dobovisek: Ist das das Richtige für das Ruhrgebiet?
Leggewie: ich bin ganz sicher, dass das das Richtige ist. Menschen unter 40, vor allen Dingen die, die sich in den genannten Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen befinden und die ins Ruhrgebiet gekommen sind von außerhalb, sehen das Ruhrgebiet längst als eine große metropolitane Agglomeration. Für sie ist es kein Problem, von Essen nach Dortmund zu fahren, um dort ins Kino zu gehen oder ins Theater oder zu einer Tanzveranstaltung zu gehen. Ich glaube, es ist tatsächlich ein Prozess im Gange, dass das alte Kirchturmsdenken überwunden wird, was eben das Ruhrgebiet bisher immer auch daran gehindert hat, sich überhaupt zu entwickeln.
Dobovisek: Nachhaltigkeit spielte eine entscheidende Rolle beim Zuschlag für das Ruhrgebiet. Fritz Pleitgen, Geschäftsführer der RUHR.2010 sagte:
Fritz Pleitgen: Wenn man 2020 auf das Jahr 2010 zurückblickt, dann soll man sagen können: Damals sind die Impulse gesetzt worden, die das alte Ruhrgebiet zu einer modernen Metropole gemacht haben, damals sind alle die Ansätze geschaffen worden, die dazu geführt haben, dass diese Metropole etwas Einzigartiges ist und fähig zum globalen Wettbewerb.
Dobovisek: Werden die Impulse von heute ausreichen für ein modernes Ruhrgebiet von morgen, Herr Leggewie?
Leggewie: Das hängt davon ab, was man unter Nachhaltigkeit versteht. Die Kultureinrichtungen, die jetzt geschaffen werden - nehmen wir das neue Museum Folkwang, nehmen wir das neue Ruhrmuseum -, deren Chancen hängen natürlich sehr davon ab, was 2011 folgende dort passiert, das heißt, welche Mittel kulturwirtschaftlich und kulturpolitisch ihnen gegeben werden, um sich überhaupt zu entfalten, damit wir nicht erleben müssen, dass dann zwar strahlende Kulturstätten geschaffen werden, die aber nicht bespielt werden können mangels Geld. Das droht ja ein bisschen. Nachhaltigkeit kann man aber auch anders verstehen - das wäre so ein bisschen mehr mein Verständnis von Nachhaltigkeit: Die Ruhrmetropole muss ja nicht nur den Schritt von einer alten industriellen Metropole hin zu einer Kulturindustrie machen, sie muss ja eigentlich auch ihre industrielle Substanz bewahren. Und die kann sie nicht bewahren auf den alten Grundlagen. Die sind weder durch die Voraussetzungen der industriellen Produktion in Deutschland weltweit noch gegeben, noch sind sie vor allen Dingen auch unter dem Gesichtspunkt von Klimawandel, Energiewende, Finanzkrise noch zu halten. Deswegen muss sich das Ruhrgebiet auch industriell neu erfinden. Es muss im Grunde genommen an einer Stelle, an der ein bestimmtes Industrialisierungsmuster angefangen hat, das heute in die Sackgasse geführt hat, auch ein neues entwickeln. Und das wäre für mich ein umfassenderer Begriff von Nachhaltigkeit, der sozusagen nicht nur die kulturellen Einrichtungen auf Dauer dort stärkt und erhält, sondern der den Menschen im Ruhrgebiet eben auch jenseits der Kultur neue Chancen, neue Arbeitsplätze, neue Perspektiven, ja, ich traue mich auch zu sagen neue Visionen bietet.
Dobovisek: Aber wie können wir diese neuen Visionen schaffen im Zeichen oder in Zeiten der Wirtschaftskrise?
Leggewie: Ja, die Wirtschaftskrise hat etwas Lähmendes, aber sie hat natürlich auch etwas Befreiendes. Wenn man sich anschaut, wie konservativ Politik und Wirtschaft gerade auch im Ruhrgebiet mit der Krise umgehen, dann kann man nur sagen, so wie jetzt gedacht wird, wird das Ruhrgebiet sich sicherlich nicht aus der Krise herausbewegen. Wer aber in einen neuen Ansatz findet, wer einen neuen Anschnitt auch für die Arten und Weisen, wie wir dort produzieren, was wir dort produzieren, wie wir uns zum Beispiel nachhaltig und klimaverträglich dort verhalten - die Ansätze gibt es ja auch im Ruhrgebiet -, und wer das stärker in den Vordergrund rückt, der kann gerade über die Einrichtung einer Kulturhauptstadt so viel kollektives Bewusstsein, so viel kollektiven Willen schaffen, dass hier eine echte Konversion möglich wird.
Dobovisek: Gibt es da genug Motivation, genug sozusagen Unterstützung seitens der Politik?
Leggewie: Ich bin jetzt seit zwei Jahren als Direktor des KWI im Ruhrgebiet unterwegs, und als wir begonnen haben, unser Thema Klimakultur dort vorzustellen, zu diskutieren, sind wir auf großes Unverständnis gestoßen. Wenn man jetzt sieht, was sich binnen der letzten Jahre und Monate dort getan hat, dann bin ich außerordentlich optimistisch, dass das angekommen ist in Kreisen der Politik, in Kreisen der Verwaltung, der Kreisen der großen Wirtschaftsunternehmen und vor allen Dingen auch bei den jüngeren Menschen im Ruhrgebiet selbst.
Dobovisek: Aber für diejenigen, die in den letzten Jahren ihren Arbeitsplatz in der Schwerindustrie, in der Kohle- und Montanindustrie verloren haben, für die ist das zu spät.
Leggewie: Aber nicht für die, die im Ruhrgebiet studieren, nicht für die, die dort ein Ingenieur- oder Kulturwissenschaftsstudium unternehmen, nicht für die, die jetzt ins Ruhrgebiet über Einwanderung kommen, nicht für diejenigen, die vielleicht ein Interesse haben, aus den bisherigen großen Industriezentren - nehmen wir mal Stuttgart oder München oder Hamburg - irgendwann sich auch umzusehen, wo sie dann vielleicht den Job, den sie dort verlieren, anderswo wieder aufbauen können. Man muss einfach in Zeiträumen von 10, 15 Jahren denken. Und eine Kulturhauptstadt ist auch die Möglichkeit, sich mal was zu trauen. Das Ruhrgebiet hat so viel Potenzial, das Ruhrgebiet hat - Ihre Eingangsmoderation hat es gezeigt - ein relativ schlechtes und anachronistisches Image, jetzt ist die Chance gegeben, dem Ruhrgebiet selbst, aber auch den Menschen in Deutschland und Europa und weltweit zu zeigen, was in dieser Region noch drinsteckt.
Dobovisek: Blicken wir auf das Jahr 2011, auf das Jahr nach der Kulturhauptstadt - wird man diese Chance ergreifen?
Leggewie: Da bin ich mir nicht ganz so sicher. ich sehe sehr viel Kleinmut, ich siehe auch sehr viel Mäkelei, ich sehe auch sehr viel Kirchturmsdenken noch, ich sehe auch sehr viele Menschen im Ruhrgebiet, die sagen, na ja, das schöne Geld sollte man lieber für soziale Einrichtungen oder für die Sicherung meiner Rente und dergleichen investieren. Hier wird sehr kurzfristig gedacht und hier wird vor allen Dingen der Wert von Kultur und Wissenschaft sehr unterschätzt. Das sind im Grunde genommen die produktiven Kräfte, die das Ruhrgebiet wieder beleben können und ihm eine neue Perspektive bieten können.
Dobovisek: Das Ruhrgebiet wird mit der Eröffnungsfeier heute europäische Kulturhauptstadt 2010. Wir sprachen mit Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Leggewie!
Leggewie: Ich danke auch!
Claus Leggewie: Guten Morgen!
Dobovisek: Das Leitmotiv der Macher der RUHR.2010 lautet "Wandel durch Kultur", sind die Menschen im Ruhrgebiet bereit, sich durch Kultur wandeln zu lassen?
Leggewie: Na ja, das haben sie ja schon die letzten 20, 30 Jahre bewiesen, dass sie das sind. Der angesprochene Strukturwandel hat ja dazu geführt, dass sich jetzt sehr viele Menschen mit Kultur befassen, dass die Kulturindustrie auch im Ruhrgebiet einen wesentlichen Teil der Arbeitsplätze umfasst, und das seit 20, 30 Jahren wissenschaftliche und kulturelle Stätten in großer Zahl im Ruhrgebiet entstanden sind, die in der Industrialisierung und auch aus politischen Gründen dort nie angesiedelt worden waren. Also dieser Prozess ist schon seit Langem im Gange. Die Kulturhauptstadt versucht eigentlich mehr, das, was in den einzelnen 53 Städten und Gemeinden des Ruhrgebiets läuft, zusammenzufassen und dem Ganzen ein Metropolenetikett anzuheften, also eine kollektive Identität als Ruhrstadt zu geben.
Dobovisek: Ist das das Richtige für das Ruhrgebiet?
Leggewie: ich bin ganz sicher, dass das das Richtige ist. Menschen unter 40, vor allen Dingen die, die sich in den genannten Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen befinden und die ins Ruhrgebiet gekommen sind von außerhalb, sehen das Ruhrgebiet längst als eine große metropolitane Agglomeration. Für sie ist es kein Problem, von Essen nach Dortmund zu fahren, um dort ins Kino zu gehen oder ins Theater oder zu einer Tanzveranstaltung zu gehen. Ich glaube, es ist tatsächlich ein Prozess im Gange, dass das alte Kirchturmsdenken überwunden wird, was eben das Ruhrgebiet bisher immer auch daran gehindert hat, sich überhaupt zu entwickeln.
Dobovisek: Nachhaltigkeit spielte eine entscheidende Rolle beim Zuschlag für das Ruhrgebiet. Fritz Pleitgen, Geschäftsführer der RUHR.2010 sagte:
Fritz Pleitgen: Wenn man 2020 auf das Jahr 2010 zurückblickt, dann soll man sagen können: Damals sind die Impulse gesetzt worden, die das alte Ruhrgebiet zu einer modernen Metropole gemacht haben, damals sind alle die Ansätze geschaffen worden, die dazu geführt haben, dass diese Metropole etwas Einzigartiges ist und fähig zum globalen Wettbewerb.
Dobovisek: Werden die Impulse von heute ausreichen für ein modernes Ruhrgebiet von morgen, Herr Leggewie?
Leggewie: Das hängt davon ab, was man unter Nachhaltigkeit versteht. Die Kultureinrichtungen, die jetzt geschaffen werden - nehmen wir das neue Museum Folkwang, nehmen wir das neue Ruhrmuseum -, deren Chancen hängen natürlich sehr davon ab, was 2011 folgende dort passiert, das heißt, welche Mittel kulturwirtschaftlich und kulturpolitisch ihnen gegeben werden, um sich überhaupt zu entfalten, damit wir nicht erleben müssen, dass dann zwar strahlende Kulturstätten geschaffen werden, die aber nicht bespielt werden können mangels Geld. Das droht ja ein bisschen. Nachhaltigkeit kann man aber auch anders verstehen - das wäre so ein bisschen mehr mein Verständnis von Nachhaltigkeit: Die Ruhrmetropole muss ja nicht nur den Schritt von einer alten industriellen Metropole hin zu einer Kulturindustrie machen, sie muss ja eigentlich auch ihre industrielle Substanz bewahren. Und die kann sie nicht bewahren auf den alten Grundlagen. Die sind weder durch die Voraussetzungen der industriellen Produktion in Deutschland weltweit noch gegeben, noch sind sie vor allen Dingen auch unter dem Gesichtspunkt von Klimawandel, Energiewende, Finanzkrise noch zu halten. Deswegen muss sich das Ruhrgebiet auch industriell neu erfinden. Es muss im Grunde genommen an einer Stelle, an der ein bestimmtes Industrialisierungsmuster angefangen hat, das heute in die Sackgasse geführt hat, auch ein neues entwickeln. Und das wäre für mich ein umfassenderer Begriff von Nachhaltigkeit, der sozusagen nicht nur die kulturellen Einrichtungen auf Dauer dort stärkt und erhält, sondern der den Menschen im Ruhrgebiet eben auch jenseits der Kultur neue Chancen, neue Arbeitsplätze, neue Perspektiven, ja, ich traue mich auch zu sagen neue Visionen bietet.
Dobovisek: Aber wie können wir diese neuen Visionen schaffen im Zeichen oder in Zeiten der Wirtschaftskrise?
Leggewie: Ja, die Wirtschaftskrise hat etwas Lähmendes, aber sie hat natürlich auch etwas Befreiendes. Wenn man sich anschaut, wie konservativ Politik und Wirtschaft gerade auch im Ruhrgebiet mit der Krise umgehen, dann kann man nur sagen, so wie jetzt gedacht wird, wird das Ruhrgebiet sich sicherlich nicht aus der Krise herausbewegen. Wer aber in einen neuen Ansatz findet, wer einen neuen Anschnitt auch für die Arten und Weisen, wie wir dort produzieren, was wir dort produzieren, wie wir uns zum Beispiel nachhaltig und klimaverträglich dort verhalten - die Ansätze gibt es ja auch im Ruhrgebiet -, und wer das stärker in den Vordergrund rückt, der kann gerade über die Einrichtung einer Kulturhauptstadt so viel kollektives Bewusstsein, so viel kollektiven Willen schaffen, dass hier eine echte Konversion möglich wird.
Dobovisek: Gibt es da genug Motivation, genug sozusagen Unterstützung seitens der Politik?
Leggewie: Ich bin jetzt seit zwei Jahren als Direktor des KWI im Ruhrgebiet unterwegs, und als wir begonnen haben, unser Thema Klimakultur dort vorzustellen, zu diskutieren, sind wir auf großes Unverständnis gestoßen. Wenn man jetzt sieht, was sich binnen der letzten Jahre und Monate dort getan hat, dann bin ich außerordentlich optimistisch, dass das angekommen ist in Kreisen der Politik, in Kreisen der Verwaltung, der Kreisen der großen Wirtschaftsunternehmen und vor allen Dingen auch bei den jüngeren Menschen im Ruhrgebiet selbst.
Dobovisek: Aber für diejenigen, die in den letzten Jahren ihren Arbeitsplatz in der Schwerindustrie, in der Kohle- und Montanindustrie verloren haben, für die ist das zu spät.
Leggewie: Aber nicht für die, die im Ruhrgebiet studieren, nicht für die, die dort ein Ingenieur- oder Kulturwissenschaftsstudium unternehmen, nicht für die, die jetzt ins Ruhrgebiet über Einwanderung kommen, nicht für diejenigen, die vielleicht ein Interesse haben, aus den bisherigen großen Industriezentren - nehmen wir mal Stuttgart oder München oder Hamburg - irgendwann sich auch umzusehen, wo sie dann vielleicht den Job, den sie dort verlieren, anderswo wieder aufbauen können. Man muss einfach in Zeiträumen von 10, 15 Jahren denken. Und eine Kulturhauptstadt ist auch die Möglichkeit, sich mal was zu trauen. Das Ruhrgebiet hat so viel Potenzial, das Ruhrgebiet hat - Ihre Eingangsmoderation hat es gezeigt - ein relativ schlechtes und anachronistisches Image, jetzt ist die Chance gegeben, dem Ruhrgebiet selbst, aber auch den Menschen in Deutschland und Europa und weltweit zu zeigen, was in dieser Region noch drinsteckt.
Dobovisek: Blicken wir auf das Jahr 2011, auf das Jahr nach der Kulturhauptstadt - wird man diese Chance ergreifen?
Leggewie: Da bin ich mir nicht ganz so sicher. ich sehe sehr viel Kleinmut, ich siehe auch sehr viel Mäkelei, ich sehe auch sehr viel Kirchturmsdenken noch, ich sehe auch sehr viele Menschen im Ruhrgebiet, die sagen, na ja, das schöne Geld sollte man lieber für soziale Einrichtungen oder für die Sicherung meiner Rente und dergleichen investieren. Hier wird sehr kurzfristig gedacht und hier wird vor allen Dingen der Wert von Kultur und Wissenschaft sehr unterschätzt. Das sind im Grunde genommen die produktiven Kräfte, die das Ruhrgebiet wieder beleben können und ihm eine neue Perspektive bieten können.
Dobovisek: Das Ruhrgebiet wird mit der Eröffnungsfeier heute europäische Kulturhauptstadt 2010. Wir sprachen mit Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Leggewie!
Leggewie: Ich danke auch!