Berlin ist keine Stadt, Berlin ist Wallfahrtsort. Das war vor 1989 so, wo man mit Ufa-Legenden im Kopf oder David Bowies Heroes auf den Lippen in die Mauerstadt zog, um näher an New York oder London dran zu sein – und das ist heute, 20 Jahre später, so, wo Heerscharen junger Menschen aus der gesamten Republik in Souterrains am Prenzlauer Berg vor Apple-Rechnern sitzen und "Kreativität" posen. Jeden Sonntag applaudiert die FAS verlässlich dazu. Das nervt natürlich. Viele sind darum bereits wieder weggezogen. Nach Schöneberg zum Beispiel. In diesem Kiez lebt man von mehr Substanz.
Fakt ist – und das gilt für damals wie heute: In Berlin leben keine Berliner. In Berlin leben Frankfurter, Wiener, Nürnberger. Oder Leute, die im immergrünen Niedersachsen aufgewachsen sind.
Wie Bernd Cailloux. Der gelernte Journalist, der schnell die Schriftstellerlaufbahn einschlug, kam 1977 als 32-jähriger nach Berlin – und dort lebt er heute als 64-jähriger immer noch. Im schönen "Schöneberch". Allerdings haben sich in der Zeit dazwischen für den gelernten Berliner...
"... die Motive fürs Hiersein verflüchtigt..."
... wie es im aktuellen Buch des Schriftstellers heißt.
Worum geht es in diesem Buch mit dem fachmannschaftlichen Titel "Der gelernte Berliner"?
"Der gelernte Berliner" versammelt sieben Texte, deren gemeinsamer Fokus die Selbstbefragung ist, der Versuch, die eigene Biographie zu begreifen. Und diese private Lebensgeschichte ist unlösbar mit der Stadt Berlin und mit ihrem Mythos verknüpft. Deshalb ist es auch gleichgültig, dass, wie der Klappentext bemerkt, über Berlin eigentlich alles bereits gesagt ist...
"... die Wahrheit inklusive."
Die Textsammlung "Der gelernte Berliner" kann als eine Art Bericht für die Akademie gelesen werden, als Rechenschaftsbericht gegenüber jenem unsterblichen Tribunal, wie es sich so nur die Literatur erfunden hat. "Der gelernte Berliner" etabliert eine bohemistische Variante der Bekenntnisliteratur.
Das Buch ist Folgeband eines gleichnamigen Erzählbandes aus dem Jahr 1991 – und hat dessen Text "Zeuge der Einheit" aus dem Jahr 1990 aus ersichtlich programmatischen Gründen nachgedruckt. Der Mauerfall ist die Achse, an der sich die Biographie des Autors spiegelt.
Um Irritationen bei ZVAB vorzubeugen, trägt das neue Werk den Untertitel "Sieben neue Lektionen" – und die behandeln den Alltag einer prekären Schriftstellerexistenz.
Wie absolviert man Lesungen? Wie geht man mit Ämtern um? Kann man an Samstagnachmittagen sinnigerweise etwas anderes tun als Fußballspielen? Wie sieht man fern? Und was macht man in Zeiten des Zeitungssterbens als Zeitungsnarr?
Mindestens einmal am Tag stehe ich vor den an Ladenfronten ausgehängten Titelseiten oder Werbereitern und lese sie wie ein Chinese die Wandzeitung. Dass Deutschland noch Rang zehn in der Nationenwertung der fleißigsten Zeitungskäufer hält, verdankt sich auch meiner im Radius einer Laufmeile verteilten, wöchentlich 20 Euro werten Gunst.
Cailloux ist ein im wörtlichen Sinn genommener Spekulant des Alltags, ein Späher und genauer Beobachter, dem gesellschaftliche Brüche und Umbrüche so wenig entgehen wie das dünne Blech, das zwischen Namen wie Daimler-Chrysler oder Däubler-Gmelin verschraubt ist.
Ein Beispiel: In dem Text "Berliner Seiten" geht es um eine verwaltungstechnische Bezirksreform, die aus Schöneberg einen örtlichen Bereich des Bezirksamts Tempelhof macht – und nebenher einem hartnäckigen Schöneberger wie Cailloux das Gefühl aufzwingt, über Nacht umgebettet worden zu sein – wie...
...am seinerseits verschlafenen 9. November '89 von Westberlin nach Berlin.
Auf charmante und kluge Weise bestätigt der Text die alte These, dass das Private politisch sei – am Beispiel ausbleibenden Wohngeldzuschusses und einer Frau Kwiatkowski, die dafür verantwortlich ist, aber natürlich trotzdem unschuldig:
Aber welcher Beamte kann schon etwas dagegen tun, dass das Abwohnen der Miete schneller geht – wesentlich schneller jedenfalls als die Berechnung eines laufenden Zuschusses für dieselbe Miete, den das Gesetz garantiert... Es brauchte Jahre, bis Frau Kwiatkowski, meine Sachbearbeiterin, einen annähernden Begriff davon hatte, was ein Schriftsteller ist und wie das komplizierte Erwerbsleben so einer Person mit der nicht geringen Komplikation des Wohngeldgesetzes kompatibel abgestimmt werden könnte.
Bernd Cailloux' essayistische Neigung ist sicher seiner journalistischen Vergangenheit geschuldet – zur Literatur werden die Essays aber durch den radikal subjektiven Blick, den er auf seine Lebenswelt wirft - und auf sich als angenommenes Zentrum.
Manchmal freilich schindet die Sprache Zeilen – und wirkt eben deshalb seltsam überladen. Dann kommt sie in einem Ton daher, dessen vermeintliche Lässigkeit uns abgeschmackt vorkommen will, so biedermeiernd wie etwa beim "Spiegel".
Nicht von ungefähr entstammt das folgende Zitat einer Medienkolumne, die der Autor für die inzwischen verblichene "Berliner Wochenpost"verfasste; Titel: Die Schöneberger Fernsehwoche.
Gar nicht einfach, für so flirrende, leicht verderbliche und sich chamäleonartig dauernd verändernde Produkte wie Fernsehprogramme andernorts zu werben – erschwert noch durch die kaum korrigierbare Last des längst festgesendeten Images einer Anstalt. Auf dem eigenen Kanal blasen die Sender ihr Quoten-Halali mit ständig hereinplatzenden Vorschau-Spots und viel gutem Zureden... Oder, wie die entsensibilisierten Privaten es tun, mit einem störenden, in den Abspann eines vielleicht emotional noch wirksamen Films laut hinein gequatschten Hinweis auf die folgende Action-Klamotte. Diese Trailer sind zu schnell, um schön zu sein – Eselsohren bloß in der unendlichen Fernsehgeschichte.
Der gelernte Berliner Bernd Cailloux ist Fachmann für die Befindlichkeit einer bestimmten Boheme, für deren gefühlte Mentalität – und für deren von der Zeit zerschlissene Träume. In gewisser Hinsicht gleicht er einem schreibenden Zille der Berliner Kiez-Gegenwart.
Auf dem vom Autor gewählten Umschlag des edition-suhrkamp-Bändchens ist Berlin als Computerzeichnung zu sehen - als eine von einem Programm modellierte Stadt.
Das beschreibt gut die Verhältnisse, in denen der gelernte Berliner lebt: Er ist vor allem ein Melancholiker; ist jemand, der fortwährend lernt, von "seinem" Berlin Abschied zu nehmen, von dem selbstfabrizierten Traum, dem Mythos, dem "Modell". Es geht, anders gesagt, um Verlust – um den der Jugend; der Freunde; der Möglichkeiten, mit seinen Gewohnheiten und seinem Leben einfach so fortzufahren; es geht um das manchmal anrührende Beharren auf Dingen, die nirgends mehr existieren.
Doch wäre das allein aus literarischer Perspektive noch nicht unbedingt bemerkenswert. Was die Texte von Cailloux' an ihren besten Stellen auszeichnet, ist ihre sprachliche Form – dass in ihr genau dieser Verlust zum Ausdruck kommt.
Schön und beispielhaft etwa der Text "Die Wirte des Lebens".
Wie fühlt es sich an, wenn man mit 50 immer noch so durch Kneipen ziehen will wie mit 20, also mit Emphase - um aber festzustellen, dass man gar nicht mehr weiß, worauf man eigentlich wartet. Dann kann nämlich die Bar ihrer eigentlichen Aufgabe - für die wir alle sie lieben - nicht mehr gerecht werden: die Niederlage in einen Triumph zu verwandeln.
Es ist gar nicht so einfach, seine angejahrte Figur wie selbstverständlich in eine Bar zu stellen, ihr ohne gleich in leichten Stress oder gar Tristesse zu verfallen. Wenig Betrieb, wenige Gäste da, mal sehen, ob noch wer kommt. Die frühere Westberliner Gewissheit, an bestimmter Quelle jeden Abend zumindest einen der Kumpane anzutreffen, ist schon lang erschüttert – aber die Keeper erzählen auch etwas. Der eine vom Kinderkriegen, der andere von Sportwetten – Vorsicht, das kann länger werden.
Man wird stellenweise den Verdacht nicht los, hier schreibt einer, der sich selbst Mut machen will – Mut, das Modell Berlin nicht über die Realität der Stadt zuschanden kommen zu lassen. Das adelt den Autor über seine künstlerischen Qualitäten hinaus.
"Der gelernte Berliner – Sieben neue Lektionen" ist, wenn man so will, literarische Einübung in die Kunst, den Verlust hinzunehmen – und diesen nicht einfach bloß physiologisch zu überdauern.
Bernd Cailloux "Der gelernte Berliner. Sieben neue Lektionen."
Frankfurt / Main 2008: edition suhrkamp. 252 S., Euro 10,00
Fakt ist – und das gilt für damals wie heute: In Berlin leben keine Berliner. In Berlin leben Frankfurter, Wiener, Nürnberger. Oder Leute, die im immergrünen Niedersachsen aufgewachsen sind.
Wie Bernd Cailloux. Der gelernte Journalist, der schnell die Schriftstellerlaufbahn einschlug, kam 1977 als 32-jähriger nach Berlin – und dort lebt er heute als 64-jähriger immer noch. Im schönen "Schöneberch". Allerdings haben sich in der Zeit dazwischen für den gelernten Berliner...
"... die Motive fürs Hiersein verflüchtigt..."
... wie es im aktuellen Buch des Schriftstellers heißt.
Worum geht es in diesem Buch mit dem fachmannschaftlichen Titel "Der gelernte Berliner"?
"Der gelernte Berliner" versammelt sieben Texte, deren gemeinsamer Fokus die Selbstbefragung ist, der Versuch, die eigene Biographie zu begreifen. Und diese private Lebensgeschichte ist unlösbar mit der Stadt Berlin und mit ihrem Mythos verknüpft. Deshalb ist es auch gleichgültig, dass, wie der Klappentext bemerkt, über Berlin eigentlich alles bereits gesagt ist...
"... die Wahrheit inklusive."
Die Textsammlung "Der gelernte Berliner" kann als eine Art Bericht für die Akademie gelesen werden, als Rechenschaftsbericht gegenüber jenem unsterblichen Tribunal, wie es sich so nur die Literatur erfunden hat. "Der gelernte Berliner" etabliert eine bohemistische Variante der Bekenntnisliteratur.
Das Buch ist Folgeband eines gleichnamigen Erzählbandes aus dem Jahr 1991 – und hat dessen Text "Zeuge der Einheit" aus dem Jahr 1990 aus ersichtlich programmatischen Gründen nachgedruckt. Der Mauerfall ist die Achse, an der sich die Biographie des Autors spiegelt.
Um Irritationen bei ZVAB vorzubeugen, trägt das neue Werk den Untertitel "Sieben neue Lektionen" – und die behandeln den Alltag einer prekären Schriftstellerexistenz.
Wie absolviert man Lesungen? Wie geht man mit Ämtern um? Kann man an Samstagnachmittagen sinnigerweise etwas anderes tun als Fußballspielen? Wie sieht man fern? Und was macht man in Zeiten des Zeitungssterbens als Zeitungsnarr?
Mindestens einmal am Tag stehe ich vor den an Ladenfronten ausgehängten Titelseiten oder Werbereitern und lese sie wie ein Chinese die Wandzeitung. Dass Deutschland noch Rang zehn in der Nationenwertung der fleißigsten Zeitungskäufer hält, verdankt sich auch meiner im Radius einer Laufmeile verteilten, wöchentlich 20 Euro werten Gunst.
Cailloux ist ein im wörtlichen Sinn genommener Spekulant des Alltags, ein Späher und genauer Beobachter, dem gesellschaftliche Brüche und Umbrüche so wenig entgehen wie das dünne Blech, das zwischen Namen wie Daimler-Chrysler oder Däubler-Gmelin verschraubt ist.
Ein Beispiel: In dem Text "Berliner Seiten" geht es um eine verwaltungstechnische Bezirksreform, die aus Schöneberg einen örtlichen Bereich des Bezirksamts Tempelhof macht – und nebenher einem hartnäckigen Schöneberger wie Cailloux das Gefühl aufzwingt, über Nacht umgebettet worden zu sein – wie...
...am seinerseits verschlafenen 9. November '89 von Westberlin nach Berlin.
Auf charmante und kluge Weise bestätigt der Text die alte These, dass das Private politisch sei – am Beispiel ausbleibenden Wohngeldzuschusses und einer Frau Kwiatkowski, die dafür verantwortlich ist, aber natürlich trotzdem unschuldig:
Aber welcher Beamte kann schon etwas dagegen tun, dass das Abwohnen der Miete schneller geht – wesentlich schneller jedenfalls als die Berechnung eines laufenden Zuschusses für dieselbe Miete, den das Gesetz garantiert... Es brauchte Jahre, bis Frau Kwiatkowski, meine Sachbearbeiterin, einen annähernden Begriff davon hatte, was ein Schriftsteller ist und wie das komplizierte Erwerbsleben so einer Person mit der nicht geringen Komplikation des Wohngeldgesetzes kompatibel abgestimmt werden könnte.
Bernd Cailloux' essayistische Neigung ist sicher seiner journalistischen Vergangenheit geschuldet – zur Literatur werden die Essays aber durch den radikal subjektiven Blick, den er auf seine Lebenswelt wirft - und auf sich als angenommenes Zentrum.
Manchmal freilich schindet die Sprache Zeilen – und wirkt eben deshalb seltsam überladen. Dann kommt sie in einem Ton daher, dessen vermeintliche Lässigkeit uns abgeschmackt vorkommen will, so biedermeiernd wie etwa beim "Spiegel".
Nicht von ungefähr entstammt das folgende Zitat einer Medienkolumne, die der Autor für die inzwischen verblichene "Berliner Wochenpost"verfasste; Titel: Die Schöneberger Fernsehwoche.
Gar nicht einfach, für so flirrende, leicht verderbliche und sich chamäleonartig dauernd verändernde Produkte wie Fernsehprogramme andernorts zu werben – erschwert noch durch die kaum korrigierbare Last des längst festgesendeten Images einer Anstalt. Auf dem eigenen Kanal blasen die Sender ihr Quoten-Halali mit ständig hereinplatzenden Vorschau-Spots und viel gutem Zureden... Oder, wie die entsensibilisierten Privaten es tun, mit einem störenden, in den Abspann eines vielleicht emotional noch wirksamen Films laut hinein gequatschten Hinweis auf die folgende Action-Klamotte. Diese Trailer sind zu schnell, um schön zu sein – Eselsohren bloß in der unendlichen Fernsehgeschichte.
Der gelernte Berliner Bernd Cailloux ist Fachmann für die Befindlichkeit einer bestimmten Boheme, für deren gefühlte Mentalität – und für deren von der Zeit zerschlissene Träume. In gewisser Hinsicht gleicht er einem schreibenden Zille der Berliner Kiez-Gegenwart.
Auf dem vom Autor gewählten Umschlag des edition-suhrkamp-Bändchens ist Berlin als Computerzeichnung zu sehen - als eine von einem Programm modellierte Stadt.
Das beschreibt gut die Verhältnisse, in denen der gelernte Berliner lebt: Er ist vor allem ein Melancholiker; ist jemand, der fortwährend lernt, von "seinem" Berlin Abschied zu nehmen, von dem selbstfabrizierten Traum, dem Mythos, dem "Modell". Es geht, anders gesagt, um Verlust – um den der Jugend; der Freunde; der Möglichkeiten, mit seinen Gewohnheiten und seinem Leben einfach so fortzufahren; es geht um das manchmal anrührende Beharren auf Dingen, die nirgends mehr existieren.
Doch wäre das allein aus literarischer Perspektive noch nicht unbedingt bemerkenswert. Was die Texte von Cailloux' an ihren besten Stellen auszeichnet, ist ihre sprachliche Form – dass in ihr genau dieser Verlust zum Ausdruck kommt.
Schön und beispielhaft etwa der Text "Die Wirte des Lebens".
Wie fühlt es sich an, wenn man mit 50 immer noch so durch Kneipen ziehen will wie mit 20, also mit Emphase - um aber festzustellen, dass man gar nicht mehr weiß, worauf man eigentlich wartet. Dann kann nämlich die Bar ihrer eigentlichen Aufgabe - für die wir alle sie lieben - nicht mehr gerecht werden: die Niederlage in einen Triumph zu verwandeln.
Es ist gar nicht so einfach, seine angejahrte Figur wie selbstverständlich in eine Bar zu stellen, ihr ohne gleich in leichten Stress oder gar Tristesse zu verfallen. Wenig Betrieb, wenige Gäste da, mal sehen, ob noch wer kommt. Die frühere Westberliner Gewissheit, an bestimmter Quelle jeden Abend zumindest einen der Kumpane anzutreffen, ist schon lang erschüttert – aber die Keeper erzählen auch etwas. Der eine vom Kinderkriegen, der andere von Sportwetten – Vorsicht, das kann länger werden.
Man wird stellenweise den Verdacht nicht los, hier schreibt einer, der sich selbst Mut machen will – Mut, das Modell Berlin nicht über die Realität der Stadt zuschanden kommen zu lassen. Das adelt den Autor über seine künstlerischen Qualitäten hinaus.
"Der gelernte Berliner – Sieben neue Lektionen" ist, wenn man so will, literarische Einübung in die Kunst, den Verlust hinzunehmen – und diesen nicht einfach bloß physiologisch zu überdauern.
Bernd Cailloux "Der gelernte Berliner. Sieben neue Lektionen."
Frankfurt / Main 2008: edition suhrkamp. 252 S., Euro 10,00