Archiv


Die Kunst des Brückenbaus

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks haben sich die kleineren Staaten Mittel- und Osteuropas auf einen beschwerlichen Weg gemacht. Sie ringen um wirtschaftliche Stabilität und suchen zugleich nach ihrer Identität zwischen der Europäischen Union und der Abhängigkeit vom ehemaligen "großen Bruder" Russland.

Von Michael Groth |
    Zoltan Barlog, Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte im ungarischen Parlament, versucht, die Suche der kleineren Staaten Mittel- und Osteuropas nach Identität auf einen Nenner zu bringen:

    "Wir haben eine Historik, weil wir Storys haben. Und unsere Beziehung zur Vergangenheit ist ein unheimlich großer Wert. Also dieses Geschichtsbewusstsein, denke ich, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite, wo man die Stärken hat, dort hat man ja auch die Schwächen. Also da sind wir am meisten verletzbar, und wir können auch die anderen verletzen."

    Die Verletzungen, die Barlog meint, äußern sich bis heute vor allem in den Beziehungen zu Russland. Es war die jeweils eigenständige, trotz aller Unterdrückung widerstandsfähige Kultur der einzelnen Länder, die, wie der Übersetzer Matthias Knoll erläutert, vor dem Ende des Sowjetreiches als eine Art Druckausgleich diente:

    "Das Sowjetsystem war der Form nach national und dem Inhalt nach sozialistisch. Die nationalen Kulturen wurden quasi gefördert. Denn Kultur ist immer auch ein guter Puffer. Dass man sagt, also gut, wir lassen mal jetzt hier Folklore durch, wir lassen mal subversive Gedichte in den Druck gehen, und schon ist der Lette wieder beruhigt und sagt, hach, guck, da haben wir es ihnen wieder mal gezeigt. Und damit wird aggressive Energie gebrochen."

    Knoll lebt seit Anfang der 90er Jahre in Riga. Der Überlebenswille der Menschen trägt seiner Ansicht nach wesentlich dazu bei, in Zeiten einer neuen Ausrichtung gen Westen die eigene Identität zu wahren.

    "Letten haben es immer geschafft durchzukommen, auszuhalten, ihre Sprache zu retten, ihre Kultur zu retten - egal unter welchem Regime."

    Dies, bekräftigt der Ungar Barlog, der für die Partei FIDESZ im Budapester Parlament sitzt, gelte nicht nur für die Balten:

    "Die Leute nach diesem internationalen Sozialismus sollen jetzt das wissen, wer bin ich, wo gehöre ich wirklich hin und wo ist meine kleine Welt, wo ich mir nicht verloren vorkomme."

    Kraft zur Beantwortung dieser nicht einfachen Fragen ziehen die Menschen nach Ansicht des Theologen Barlog auch aus der Vergangenheit:

    "Das gemeinsame Erlebnis des Überlebens, dass wir diese negative Phase überlebt haben. Und dann fragt man, und woher haben wir die Kräfte dazu gehabt? Ist das ein Zufall, dass wir überlebt haben, unsere Völker und Gemeinschaften sind doch fähig, sich selber ihre eigene Identität ein Stück aufzubewahren."

    In Riga soll das 1993 eingeweihte Okkupationsmuseum helfen, die nationale Identität zu finden: ein düsterer, flacher und fensterloser Bau aus Sowjetzeiten, errichtet 1970 zu Ehren Lenins. Der 1931 in Lettland geborene Valters Nollendorfs ist Gründungsdirektor der Sammlung, die die lange Besatzungsgeschichte des Landes im 20. Jahrhundert dokumentiert - von der ersten sowjetischen 1940/41, über die deutsche bis zum Ende des Krieges, zur zweiten sowjetischen, die rund 45 Jahre dauerte. Nollendorfs Familie verließ Lettland 1945, der junge Valters wuchs im Münsterland auf, bevor die Eltern abermals auswanderten und nach Amerika zogen. Anfang der 90er Jahre kehrte der Wissenschaftler in seine Heimat zurück, am 4. Mai 1990 wird er Zeuge eines außergewöhnlichen Vorgangs:

    "Es gab ja damals eine Zwei-Verwaltung, denn es gab diese Verwaltung der lettischen Republik, die am 4. Mai verkündet wurde, mit der Absicht sich von der Sowjetunion loszulösen, aber auf friedlichem Wege. Ich war damals als Fullbright-Professor hier an der Uni, und ich stand in der Nähe des jetzigen Saeima-Gebäudes mit einem Tonbandgerät. Und ich habe dem Museum das Tonband gegeben, wie die Stimmen gezählt werden und was da draußen geschah. Sehr, sehr rührend."

    In den baltischen Ländern dokumentieren Straßennahmen den Weg in die Unabhängigkeit: jedes Datum ein weiterer Schritt. Fahnen wehen, zum Beispiel in Riga, nicht nur von staatlichen Institutionen. Die Zeichen staatlicher Eigenständigkeit gelten als Symbol auch der persönlichen Selbstbestimmung. Das war, sagt Valters Nollendorfs, schon zu Zeiten der sowjetischen Besatzung so:

    "Die lettische Fahne, Freiheitsdenkmal und die nationalen Gedenktage, die die Sowjetbehörden immer wieder unterdrücken wollten. So zum Beispiel am 18. November, Unabhängigkeitstag. Wenn jemand Geburtstag hatte, musste er, wenn er Freunde bei sich hatte, oder ein kleines Abendessen und so weiter, dann musste er seinen Geburtsschein parat halten, dass er beweisen konnte, das ist nicht eine Demonstration."

    Inzwischen beginnen die kleinen Länder Mittel- und Osteuropas mit der Aufarbeitung der Vergangenheit, mit höchst unterschiedlichem Tempo. Auch die architektonischen Spuren der Besatzung sind noch immer sichtbar. Unmittelbar hinter dem historischen Marktplatz von Riga steht ein sozialistischer Plattenbau, dessen Fassade vor sich hin bröckelt, ein Zeuge zerfallender Macht. Das ehemals am meisten gehasste Gebäude Rigas liegt an einer belebten Straße etwas außerhalb der Altstadt. Hier residierte der sowjetische Geheimdienst. Wer hinein ging, kam nicht in jedem Fall wieder heraus.

    "Da sagte keiner zur KGB oder Tscheka. sondern 'das Eckhaus'. Und das ist das gefürchtete Wort. Was mit dem Gebäude geschehen wird, weiße ich nicht. Es ist ja klar, dass nach der Unabhängigkeit sich keiner darum gekümmert hat, dass dort etwas eingerichtet wird."

    Wo sich kleinere Länder in der Abgrenzung gegenüber Moskau auf Gemeinsamkeiten einigen können, hat es Russland schwerer. Dabei hat auch Russland, wie Sergey Zhdanov behauptet, Dozent an der Staatlichen Universität für internationale Beziehungen und Diplomatenausbildung in Moskau, mit dem Umbruch der Werte zu kämpfen:

    "Die Sowjetunion basierte auf der kommunistischen Ideologie. Wir allen bauten eine lichte kommunistische Zukunft auf. Das Leben hat gezeigt, diese Idee war unproduktiv. Es gibt inzwischen einen Verlust der Ideologie, einen Verlust von Werten. Wir wissen einfach nicht, wie wir weiter verfahren sollen. wir alle. Früher bauten wir alle an der lichten kommunistischen Zukunft, inzwischen versuchen wir an dem Kapitalismus zu bauen."

    Im Baltikum leben viele Russen: In Riga etwa dominiert noch immer die russische Sprache. Rund 80 Prozent der Bewohner der lettischen Hauptstadt stammen aus Familien, die im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts aus der ehemaligen Sowjetunion zuwanderten. Der Übersetzer Knoll beschreibt das Problem:

    "Wenn also im Riga-Alltagsleben die beiden Sprachen aufeinanderprallen, dann ist es so, dass der Lette auf Russisch übergeht, weil er das kann. Dem Russen ist es gemeinhin nicht möglich, aufs Lettische zu wechseln, weil er es nicht kann."

    Für den Russen Zhdanov ist dies ein Ausdruck von Normalität:

    "Russisch war ja doch immer eine in diesem Bereich. Es ist einfacher für die Menschen, sich der Sprache zu bedienen, um gewisse Fragen zu klären, zum Beispiel geschäftliche Probleme miteinander zu besprechen. Außerdem ist ja die lettische Sprache sehr schwierig zum Erlernen. Es ist eine Sache zu kommunizieren, in eine Sprache rein umgangssprachlich miteinander umzugehen. Eine andere Sache ist, die Sprache zu beherrschen."

    In Estland sind rund 30 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen. Unlängst gab es in Tallinn gewaltsame Auseinandersetzungen um ein sowjetisches Kriegerdenkmal, das die Regierung im Zentrum der Hauptstadt demontierte, um es an einem weniger prominenten Ort neu zu errichten. Dennoch glaubt der Historiker Olaf Mertelsmann von der Universität in Tartu, dass auch die Russen von der rasanten Entwicklung der Wirtschaft in Estland profitieren:

    "Die Gebiete mit einem starken russischen Bevölkerungsanteil, die als Folge der Reformen und als Folge des Abbaus der sowjetischen Industriedinosaurier besonders hart getroffen wurden, gerade in den Gebieten ist das Wirtschaftswachstum inzwischen höher. Wenn Sie in einer Marktwirtschaft sind, und ein Drittel der Kunden sind russischsprachig, dann ist es eventuell sogar ein Vorteil, ein Russe zu sein."

    Auch Sergey Zhdanov glaubt, dass trotz der Neu-Ausrichtung der Balten gute Kontakte unverzichtbar sind:

    "Politische Beziehungen zwischen den Staaten wurden gestört, aber wirtschaftliche Beziehungen bestehen weiter, denn es gibt keine Hindernisse für freies Unternehmertum. Über 50 Prozent der Unternehmer in Lettland sind russischsprachig beziehungsweise gar ethnische Russen. Darum muss man schon sagen, dass besondere historische, geografische Verbundenheiten bestehen, die wir uns nicht wegdenken können. Wir bleiben auf die Dauer miteinander verbunden. Und eine besondere Beziehung, eine besondere Einstellung seitens des Kolonialherren zu Kolonien gibt es nicht. Die hat es ja auch nie gegeben. Russland hat nie Kolonien gehabt."

    Trotz aller Gemeinsamkeiten bleibt vor allem im Baltikum der ängstliche Blick auf den großen Nachbarn im Osten. Matthias Knoll aus Riga schildert die lettischen Befürchtungen:

    "Die Angst vor Russland ist sehr groß. und nur NATO und EU sind ein Garant dafür, dass Russland hier nicht einmarschiert und sich das wiederholt."

    Norbert Lammert, der Präsident des Deutschen Bundestages, ist an guten Kontakten zu den neuen EU-Mitgliedern interessiert. Es habe indes, sagt der CDU-Politiker, durchaus Alternativen gegeben:

    "Weder Polen noch Ungarn noch die Tschechische Republik und schon gar nicht die baltischen Staaten hat irgendjemand genötigt, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden. Aber es ist ja hoch aufschlussreich, dass quer durch die verschiedenen politischen Gruppierungen in allen diesen Ländern kaum ein anderes Interesse nachdrücklicher, leidenschaftlicher vertreten wurde, als die möglichst schnelle Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft."

    Wobei, wie der Ungar Barlog sagt, der Beitritt zum Nordatlantischen Verteidigungsbündnis wohl wichtiger war als die spätere EU-Mitgliedschaft:

    "Ich möchte den ersten frei gewählten Ministerpräsidenten Ungarns zitieren. Josef Antall sagte 1990: 'Also, dieser große Moloch, dieser große Koloss Sowjetunion wackelt, und wenn es einmal zusammenstürzt, dann müssen wir schnell in die NATO, dass es nicht auf uns fällt.'"

    Die Sowjetunion ist gefallen, aber auch die neuen Herrscher lassen ihre Muskeln spielen. Der Russe Zhdanov widerspricht allerdings Vorwürfen, auch im Russland Putins herrschten vordemokratische Zustände:

    "Russland ist ein durchaus demokratischer Staat. In Russland gibt es alle Merkmale der Demokratie, begonnen mit dem Pluralismus der Meinungen, beendet mit der Vielzahl von Parteien, mit einer riesigen Palette von Massenmedien unterschiedlicher Couleur. Ein jeder Russe hat überhaupt keine Angst, seine Meinung ganz offen zu artikulieren auf welcher Ebene auch immer. Und niemand versucht, die Notwendigkeit der Freiheiten des Pluralismus der freien Meinungsäußerung, der freien Massenmedien in Russland herabzuwürdigen. Russland ist ein anderes Russland, nicht zu vergleichen mit dem Russland vor dem Jahre 1990."

    Angebote etwa aus Deutschland, die Wogen zwischen Russland und seinen neuen Nachbarn zu glätten, weist der Moskauer Wissenschaftler zurück:

    "Ich glaube, weder Russland, noch das Baltikum brauchen irgendwelche Vermittler. Wir werden selbst über unsere Probleme entscheiden und darüber ins Klare kommen. Und wir werden Brücken bauen."

    Der Bau solcher Brücken, glaubt Marek Mora, stellvertretender Minister für Schulwesen, Jugend und Sport in Tschechien, ist in seiner Heimat weniger schwierig als zum Beispiel im Baltikum:

    "Wir haben noch dieses, sagen wir, österreichisch-ungarische Erbe, eine relativ gute funktionierende Staatsverwaltung, ein vernünftiges Wirtschaftssystem auch unter den sozialistischen Bedingungen. Wir wurden von der reinen Sowjetwirtschaft nicht so stark getroffen."

    Die Westorientierung der Tschechischen Republik begann lange vor dem EU-Beitritt. Viel hat sich nicht verändert seit Mai 2004, sagt Mora:

    "Vielmehr würde man das spüren, wenn man dem Schengen-Gebiet beitritt. Nicht, da sieht man das an den Grenzen, dass man da keine Kontrollen mehr hat und so weiter. Es wurden bei dem Beitritt selbst eigentlich nur die Handelsgrenzen oder Handelshemmnisse definitiv abgeschafft. Aber ich denke, für den normalen Bürger hat sich da nicht so wahnsinnig viel geändert."

    Auf den Beitritt zum Schengener Abkommen, das in den westlichen EU-Staaten einen reibungslosen Zoll- und Grenzverkehr ermöglicht, müssen die neuen Mitglieder noch warten. Am Wettlauf der Reformen hindert sie das kaum. In Estland, so Olaf Mertelsmann, habe man den Schritt nach Brüssel als eine gleichsam natürliche Entwicklung betrachtet:

    "Einen großen Reformschub gab es nicht, sondern stattdessen wurde jetzt allmählich geerntet, was man vor zehn Jahren gesät hat. In einigen Bereichen können wir sogar von einem Zurückschneiden der Reformen reden, also insbesondere da, wo dann EU Subventionen jetzt plötzlich fließen, wo vorher nur der Markt regierte."

    Estland wie Tschechien gehören zu den wirtschaftlich Erfolgreichen unter den neuen EU-Mitgliedern. Zweistellige Wachstumsraten produzieren aber nicht nur Gewinner, zurückbleiben - und dies gilt für die Länder Mittel- und Osteuropas generell - alleinerziehende Mütter, Alte, sozial Schwache und Invalide. Wohl auch deshalb hegt man bei aller Freude, jetzt Mitglied im Klub zu sein, keine weitergehenden europäischen Ambitionen. Der Prager Vizeminister Mora:

    "Auf jeden Fall gehört die Tschechische Republik nicht zu denjenigen, die die EU jetzt unbedingt vertiefen wollen, die für die EU Verfassung kämpfen und so weiter. Das ist der tschechische Fall wirklich nicht."

    Der ungarische Abgeordnete Barlog ergänzt:

    "Auch eine gewisse Europa-Verdrossenheit und Amerika-Verdrossenheit kann auch zusammengehen und sagen: Ja, wirtschaftlich wollen wir das alles haben, was im Westen ist, ob es USA ist oder Westeuropa ist, das ist jetzt egal. Aber unsere Kultur wollen wir nicht aufgeben und da meinen sie auch noch, dass das so geht."

    In der Slowakei, sagt Viktor Niznansky, in Bratislava einige Jahre für die Reform der öffentlichen Verwaltung zuständig und heute Präsident des Zentrums für ökonomische und soziale Analysen eben dort, musste sich die Regierung zunächst gegen anti-europäische Populisten durchsetzen:

    "Ein großer Teil der Bevölkerung wollte keine Änderungen, und trotzdem haben sie das gemacht. Und jetzt sieht man, es war eine gute Entscheidung. Also es braucht eine gute Führung des Staates trotz des Risikos, dass sie zum Beispiel nicht im nächsten Parlament gewinnen. Trotz dieses Risikos sollte man das machen."

    In Tschechien hat dieser Populismus inzwischen Teile der Regierung erreicht. Vizeminister Mora spricht von einem "Paradox":

    "Die Leute, die am stärksten die EU unterstützen, sind auch die meisten Wähler der demokratischen Bürgerpartei, zu der auch der Staatspräsident Klaus gehört, deren Wähler für die EU sind. Aber die Partei selbst versucht, diesen Euro-Realismus oder einige sagen euroskeptische Haltung zu verteidigen. Ich denke, dass eigentlich die Leute selber wirklich sehr europaorientiert sind. Und jeder versteht, dass Tschechien in der Mitte Europas liegt und dass das Land einfach gut mit den Nachbarn zusammenarbeiten muss."

    Für Mora wie für den Slowaken Niznansky bleibt die Westorientierung der mittel- und osteuropäischen Gesellschaften ohne Alternative:

    "Nach 60 Jahren der totalitären Regimes im ganzen Raum sind auch die Denkungsweisen von vielen Leuten noch an dem alten sozialistischen Modell oder vielleicht anderen Modellen orientiert. Und darum muss man auch daran arbeiten. Und ich glaube aber auch, dieses ganze Paket von Reformen hilft dabei, dass diese Umstellungen der ganzen Gesellschaft schneller sein werden, als wenn wir zum Beispiel in einem zentralistischen Staat lebten."

    Olaf Mertelsmann aus dem estnischen Tartu nennt einen weiteren Grund, warum letztlich kaum jemand die Geschichte zurückdrehen will:

    "Wir haben in einem Land wie Estland im Moment einen rapiden Arbeitskräftemangel, also eine Arbeitslosigkeit von drei oder vier Prozent. In Wirklichkeit sucht jeder Arbeit, was einerseits die Löhne hochtreibt, und was andererseits also auch für Gruppen, die als benachteiligt gelten mögen, bedeutet, sie haben ein sicheres Einkommen und einen so hohen Lebensstandard wie nie zuvor."

    Inzwischen geht es einigen Ländern so gut, dass von billigen Produktionsorten für westliche Unternehmen nicht mehr die Rede ist. Schon ziehen sich Investoren wieder zurück, auch Investoren aus Deutschland:

    "Durch die Öffnung der Grenzen innerhalb der EU, aber auch durch die Möglichkeit, in Skandinavien zu arbeiten, sind einige Leute abgewandert. In Estland sind es offiziell zwischen 30.000 und 40.000, vor allen Dingen junge Männer, in Litauen sogar 200.000. Das treibt den Preis für Arbeit hoch."

    Auch die Kosten steigen, oft stärker als die Löhne. In der lettischen Hauptstadt Riga etwa erreichen die Lebenshaltungskosten zum Teil westeuropäisches Niveau. Nicht aber das Einkommen, sagt Übersetzer Matthias Knoll:

    "Man hat einen gewissen Betrag, der sehr niedrig ist. Also heutzutage könnte man ihn vielleicht so um die 500 Euro beziffern. Damit muss man eben zurechtkommen. Das heißt, die Miete muss bezahlt sein, und das Essen muss bezahlt sein, und dann bleibt vielleicht noch eine Kinokarte übrig oder ein Buch oder eine Zeitung oder so etwas, vielleicht auch nicht."

    Fast jeder habe einen Zweit- oder Drittjob:

    "Sie dürfen nicht vergessen, dass, wenn Sie 500 Euro verdienen, dass Sie ab 45 Euro etwa 25 Prozent Einkommenssteuer zahlen. Das Steuervolumen, das der Staat benötigt, wird vom kleinen Mann bezahlt."

    Trotz des schwierigen Erbes, trotz aller Sorgen mit Blick auf Russland, trotz der nach wie vor grassierenden Korruption, hinterlässt der intensive Nachholprozess der vergangenen gut 15 Jahre einen positiven Eindruck, auch wenn eine gemeinsame europäische Identität in den kleineren Ländern Mittel- und Osteuropas zunächst vor allem ökonomisch definiert wird. Bundestagspräsident Lammert verknüpft den 50. Geburtstag der Römischen Verträge mit den jüngsten Erweiterungen der Union:

    "Wenn vor 50 Jahren, als sechs Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft die Römischen Verträge untereinander vereinbart haben, irgendjemand vorausgesagt hätte, dass diese Wirtschaftsgemeinschaft ihren 50. Geburtstag erleben würde, hätte das schon manche Skepsis erzeugt. Wenn es mit der Prognose verbunden gewesen wäre, sie würde ihren Geburtstag mit 27 Mitgliedsstaaten feiern, aus West-, Mittel- und Osteuropa und das nicht mehr als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern als politische Union, man hätte das für Fantasterei gehalten."