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"Die Lage ist ernst"

Nach Ansicht des Nahostexperten Michael Lüders ist der Termin für den Rückzug des US-Militärs aus dem Irak ausschließlich durch die bevorstehenden Kongresswahlen moviert. Es gebe ansonsten keine sachliche Begründung, warum der Einsatz im Irak nicht länger dauere. Es sei zu befürchten, dass der Irak entlang ethnischer und religiöser Grenzen zerfallen könnte.

Michael Lüders im Gespräch mit Stefan Heinlein |
    Stefan Heinlein: Fast zwei Jahre herrschte Funkstille zwischen Israelis und Palästinensern. Der Nahostkonflikt köchelte weiter, ohne allzu große Anteilnahme der Weltöffentlichkeit. Auch die USA schienen, das Interesse an der Region verloren zu haben. Nun jedoch will Präsident Obama sein ganzes Gewicht in die Wagschale werfen, um endlich Fortschritte zu erreichen. Auge in Auge mit Abbas und Netanjahu will er die Kontrahenten an einen Tisch holen. Das Ziel ist ehrgeizig: bereits in einem Jahr soll es Ergebnisse geben, obwohl die Vorzeichen alles andere als positiv sind.
    Die Außenpolitik mit dem Brandherd Nahost wird also in den kommenden beiden Tagen die volle Aufmerksamkeit des US-Präsidenten in Anspruch nehmen. Bisher ist seine Erfolgsbilanz in der Region äußerst dürftig. Den großen Ankündigungen zu Beginn ließ Barack Obama nur wenige Taten folgen. Umso wichtiger deshalb vielleicht, dass nun ein anderes Kapitel der US-Außenpolitik zugeschlagen wird. Mit dem Rückzug der Kampftruppen nähert sich der US-Einsatz im Irak seinem Ende. In einer Rede zur Lage der Nation zog Obama Bilanz eines Krieges, den er selber stets abgelehnt hatte.
    Über die US-Außenpolitik in der Region möchte ich jetzt sprechen mit dem Nahostexperten Michael Lüders. Guten Tag, Herr Lüders.

    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Heinlein.

    Heinlein: Was erleben wir da gerade im Irak, einen geordneten Rückzug, oder ist das eine Flucht aus der Verantwortung?

    Lüders: Ich würde sagen, es ist vor allem der Versuch des amerikanischen Präsidenten, als ein Präsident in die Geschichte einzugehen, der Wort hält, und er hat natürlich die Kongresswahlen im November vor Augen. Er möchte, dass die Demokraten nicht eine Wahlniederlage erleben als Ergebnis von zu vielen geführten Kriegen im Irak und in Afghanistan, die sich beide als sehr unübersichtlich darstellen. Nun erklärt Barack Obama, dieses Kapitel sei beendet, im Irak jedenfalls. Das ist natürlich nicht der Fall. Zwei Erblasten wird die amerikanische Regierung auch weiterhin mit sich tragen. Zum einen hat dieser Krieg im Irak zu der paradoxen Situation geführt, dass ausgerechnet der Iran als der große geopolitische Gewinner der Veränderungen im Irak zu gelten hat. Die Rolle des Iran im Nahen und Mittleren Osten war noch nie so stark wie seit dem Sturz von Saddam Hussein. Man hat den Iranern hier ungewollt ein Geschenk gemacht und in Washington ist man ratlos, wie man diesen Eindruck nach Möglichkeit verdrängt und den Iranern, deren Einfluss wieder zurückdrängen kann. Und zum Zweiten: die eine Billion Dollar, die Barack Obama in seiner Abschiedsrede gestern genannt hat zu diesem Kapitel Irakkrieg, diese eine Billion Dollar sind natürlich eine enorme Bürde und sie tragen ebenso wie die Finanzkrise dazu bei, den Niedergang der alleinigen Weltmacht USA zu beschleunigen.

    Heinlein: Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Lüders, sind es ja vor allem innenpolitische und wirtschaftliche Gründe, die jetzt zu diesem Rückzug führen. Außenpolitisch ist dieser Rückzug aus dem Irak eher fraglich?

    Lüders: In der Tat! Der Rückzugstermin erklärt sich ausschließlich durch die Kongresswahlen, also durch einen innenpolitischen Grund. Es gibt ansonsten keine sachliche Begründung, warum der amerikanische Einsatz im Irak nicht länger dauert oder schon vorher beendet worden wäre. Klar ist aber auch, dass die Lage im Irak weiterhin sehr kompliziert bleibt. Viele, auch Iraker befürchten, dass der Irak entlang ethnischer und religiöser Grenzen zerfallen könnte, ähnlich wie Jugoslawien, und diese Sorge erscheint in der Tat sehr berechtigt. Es wird sich in den nächsten Monaten entscheiden, welchen Weg der Irak nimmt, aber die Lage ist sehr ernst. Die Zentralregierung unter Maliki ist zu schwach, ihre Macht über die Hauptstadt Bagdad hinaus zu festigen. Außerdem weigert sich Maliki, der ja die Präsidentschaftswahlen verloren hat, zurückzutreten und Iyad Allawi an die Macht zu lassen. Eine sehr komplexe Gemengelage, die zudem noch verstärkt wird durch die Unruhen zwischen Kurden und Arabern in der ölreichen Kirkuk-Region im Norden.

    Heinlein: Kompliziert sei die Lage im Irak, sagen Sie, Herr Lüders, komplex und ernst. Ist das also eine Umschreibung für die Tatsache, dass die irakische Regierung keinesfalls jetzt schon in der Lage ist, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und in einem Jahr, wenn die Amerikaner dann tatsächlich weg sind, die Lage tatsächlich noch mal implodieren könnte?

    Lüders: In der Tat. Die irakische Regierung ist überhaupt nicht befähigt, ihre Autorität auszuüben im Irak. Die Amerikaner haben die historische Leistung vollbracht, Saddam Hussein zu stürzen, aber sie haben neue politische Verhältnisse im Irak geschaffen, die sehr viel gefährlicher, unübersichtlicher und mittelfristig bedrohlicher sein könnten, als es Saddam Hussein je war. Das ist die große Sorge der Leitartikler auch in den arabischen Medien, die natürlich sehen, dass mit dem Irak und in Afghanistan zwei Brandherde geschaffen worden sind und noch immer lodern, die die gesamte Region in Mitleidenschaft ziehen könnten. Der Irak ist ein gewaltiger Flächenstaat, fast zweimal so groß wie Deutschland, und wenn in einer solch großen Region ein Machtvakuum entsteht, dann verlangt es danach, gefüllt zu werden. Es stehen viele Akteure Gewehr bei Fuß, allen voran der Iran, aber auch die Türkei und Saudi-Arabien.

    Heinlein: Ist trotz dieser Risiken, Herr Lüders, die Sie so eindringlich gerade beschreiben, es für Washington jetzt umso wichtiger, diese Baustelle Irak zu verlassen, um sich dann ab heute künftig verstärkt der Dauerbaustelle Nahost widmen zu können?

    Lüders: Ja. Aus Sicht der amerikanischen Regierung will man jetzt den Rückzug im Irak verbinden mit einer weiteren guten Nachricht, dem erhofften Durchbruch in den Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern. Es gehört zu den erstaunlichen Begebenheiten amerikanischer Präsidentschaften, dass irgendwann im Verlauf einer vierjährigen Amtszeit der Wunsch besteht, diesem Konflikt ein Ende zu bereiten. Das hat ja auch George W. Bush ganz am Ende seiner achtjährigen Amtszeit versucht. Aber man muss sagen, dass alle Versuche in den letzten Jahren, hier einen Durchbruch zwischen Israelis und Palästinensern zu erzielen, gescheitert sind. Aus israelischer Sicht liegt das am palästinensischen Terror, aus Sicht der meisten übrigen Betrachter der Region liegt das vor allem daran, dass der anhaltende israelische Siedlungskolonialismus, namentlich in Ostjerusalem und im Westjordanland, keinen Raum mehr lässt für einen palästinensischen Staat.

    Heinlein: Und wie ist es diesmal, Herr Lüders? Wie gut sind die Aussichten, dass diesmal tatsächlich etwas vorangeht zwischen Israelis und Palästinensern, denn der Zeitdruck, den Obama setzt mit dem einen Jahr, ist ja sehr, sehr hoch?

    Lüders: Ja, in der Tat. Aber auch andere Präsidenten haben in der Vergangenheit immer wieder einen Zeitplan benannt, in der Regel in der Größenordnung von 12 bis 18 Monaten. Geschehen ist in der Regel dann nichts. Der Siedlungsbau wird weitergehen. Es bleibt immer weniger Land für einen palästinensischen Staat und ich glaube, dass sich die westliche Politik eines Tages die Augen reiben wird und feststellen wird, dass alle Versuche, eine Zweistaatenlösung zu finden, also einen palästinensischen Staat an der Seite Israels zu begründen, ins Leere laufen werden. Die Siedler kontrollieren jetzt schon mehr als 50 Prozent des Westjordanlandes. Es gibt keinen Raum mehr für einen palästinensischen Staat, ganz unabhängig von den Zerwürfnissen auf palästinensischer Seite zwischen Hamas und Fatah. Es gibt immer mehr Palästinenser, die sagen, vergessen wir den palästinensischen Staat, wir haben ein Interesse daran, uns einverleiben zu lassen von Israel. Es wird keinen Staat mehr für uns geben, wir tun besser daran zu fordern, dass wir Staatsbürger Israels werden, um dann auf der Grundlage "one man, one vote" unsere politischen Vorstellungen in Israel durchzusetzen. Das wird man in Israel natürlich nicht wollen, denn dann werden die Juden im jüdischen Staat die Minderheit werden.

    Heinlein: Abschied von der Zweistaatenlösung, das ist neu, Herr Lüders. Ist diese Erkenntnis denn tatsächlich schon angekommen in den USA, aber vielleicht auch auf palästinensischer Seite, bei Abbas?

    Lüders: Auf der Ebene der politischen Akteure, seien es die Politiker in den USA, im Nahen Osten und Europa, hält man wie ein Mantra fest an der Zweistaatenlösung, aber immer mehr Beobachter erkennen natürlich, dass eine solche Lösung nicht mehr funktionieren kann mangels Masse. Aber diese Einsicht jetzt zu formulieren, das wäre ein hohes Risiko für die westliche Politik. Insofern hält man fest an einer Fiktion, es könnte eine Zweistaatenlösung geben. Man muss feststellen, dass sowohl in Irak wie auch in Afghanistan wie auch im Nahen Osten der Wunsch mehr die Politik prägt als eine nüchterne Betrachtung der Wirklichkeit, und die Gefahr dieser Entwicklung besteht darin, dass am Ende die Ereignisse vor Ort den Gestaltungswillen von außen überflügeln könnten. Es könnte eine gewalttätige Situation entstehen, die am Ende niemand mehr so recht kontrollieren kann. Das wäre eine Katastrophe für alle Beteiligten.