Wiesen, Wälder und Seen, kleine beschauliche Orte mit traditionellen Leben sind ihr ein Graus. Sie ahnt erdrückende Nähe und düstere Geheimnisse. Und das findet die Autorin Solmaz Khorsand auch bei einem Stipendium in der österreichischen Steiermark. Zugleich entdeckt sie das Leben dort durch teilnehmende Beobachtung.
Die städtische Mobilitätsgewohnheit erodiert an der mangelnden Motorisierung und einem nur stündlich verkehrenden Nahverkehrszug, die städtische Fremdheitserfahrungen der stets anderen Menschen wird zur Begegnung mit den Immergleichen und die Hektik urbaner Umtriebigkeit wird zwangsentschleunigt.
Die Gräben, sagen uns derzeit soziologische und politikwissenschaftliche Untersuchungen, zwischen Stadt und Land werden größer. Aber größer als in dieser Autorin können sie eigentlich nicht sein. Was geschieht aber in einer, in dieser, ernst gemeinten Bemühung des Verstehens der anderen Seite des Grabens?
Solmaz Khorsand ist Journalistin, Buchautorin und Podcasterin. Sie hat u.a. gearbeitet für die Zeitung Zeit, für derstandard.at, die Wiener Zeitung und das Magazin Republik. 2021 erschien ihr Buch "Pathos", 2024 ihr aktuelles Buch "untertan. Von braven und rebellischen Lemmingen". Zudem nahm sie am Artist in Residence-Programm der Kulturhauptstadt Salzkammergut teil.
Lassen Sie mich mit meinem Geständnis beginnen. Ich bin eine Fanatikerin. Eine, die ausschließlich in Städten gelebt hat. Eine, die ausschließlich in Städten leben will. Die ihre Urbanität fast schon als Religion begreift. Und zwar als eine unbarmherzige, eine herablassende, eine, die mitunter spaltet. Weil sie einen Strich zieht zwischen den Gläubigen, den wahren Gläubigen dieser Religion – und dem Rest.
Hier die Stadt, die große Stadt, dort das Land, das gesamte Land. Eine klare Grenze.
39 Jahre lang habe ich diese Grenze respektiert, vor allem in Österreich, wo ich lebe. Meine Stadt ist Wien. Bis auf einige berufliche Stippvisiten, einer Schullandwoche, zwei Skikursen, einer Sportwoche und zwei Mal Urlaub als Kind mit den Eltern an einem See, habe ich sie als Erwachsene niemals zum Spaß für längere Zeit überschritten. Zu heilig ist mir mein Glaube. Zu verdächtig der Stolz, der immer mitschwingt, wenn von den schönen Bergen, den schönen Seen und den schönen Wäldern die Rede ist. Denn heißt das doch: Es muss etwas faul sein mit den Menschen, wenn nur die Berge, Seen und Wälder schön sind. Wer sich der Landschaft rühmt, rühmt das Gegebene. Ohne den Faktor Mensch. Ein Berg steht nicht kraft des menschlichen Geistes, seiner Kreativität, seiner Leistung, seiner Empathie. Er steht trotz alldem – bei viel Glück. Beim Stolz auf die Stadt ist das anders. Wer sich seiner Städte rühmt, rühmt sich der Vision, dem Horizont, der Existenz all jener, die dazu beigetragen haben.
Die Stadt, das ist für mich Atem, Aufbruch, Freiheit, Zivilisation. Man muss nicht in einer Stadt geboren und aufgewachsen sein, gar in einer leben, um das zu begreifen und zu spüren. Um zu den frommen Gläubigen zu zählen, die all ihre Geräusche, ihre Gerüche, ihre Unzulänglichkeiten und ihre Schönheit zu verstehen wissen. Die ihre Widersprüche als kostbare Intimität zwischen Stadt und Städter hochhalten. Die jede Irritation als Option eines neuen Lebensentwurfs betrachten. Die einsehen, dass ein Mehr an Mensch nicht bedrohlich sein muss. Und die erkennen, was eine Stadt bedeutet für all jene, die nicht passen, und nicht passen wollen, wenn ihnen hier zum ersten Mal signalisiert wird, dass sie nicht passen müssen. Dass sie einfach sein können, in all ihrer Extravaganz, Exzentrik und vermeintlichen Andersartigkeit, ohne Ausschluss, ohne Verbannung, ohne Häme, ohne Spott. Dass sie hier langweilig normal sind, mit allem womit sie woanders so anders sind.
Es mag ein unbeliebtes Glaubensbekenntnis sein in dieser Klarheit und Transparenz, insbesondere in einem Land, das einerseits nicht viel mit Transparenz anzufangen weiß und andererseits zu 99,5 Prozent aus Nicht-Stadt besteht. Gilt auch für viele andere Länder. Wer sich zur Stadt bekennt, darf es höchstens als antiseptische Vorteilsanalyse formulieren. Die Stadt als Ort, der konsumiert wird, in seinem Angebot an Arbeitsplätzen, Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Kulturprogramm und öffentlichen Verkehrsmitteln. Eine Annehmlichkeit. Mehr nicht. Zu mehr urbaner Hingabe trauen sich die meisten nicht.
Feiglinge.
Oder schlimmer. Verräter. Sie wollen sich nicht trauen, weil sie ihn Wahrheit Apostaten des urbanen Glaubens sind, Abtrünnige, die insgeheim immer mit der anderen Seite kokettieren. Spätestens bei der Geburt der Kinder wagen sie dann offiziell den Überlauf. In den Feuilletons berichten sie anfangs zerknirscht, dann stolz von ihrem Rückzug aufs Land. Dass sie nach all den Jahren in der Stadt nun endlich ihre wahre Sehnsucht gestillt haben. Dass sie sich dem Traum vom eigenen Haus mit Garten, der Kulisse einer unbeschwerten Kindheit im Grünen für den Nachwuchs, dem kleinen beschaulichen Glück des absolut Überschaubaren inmitten immergleicher Namen, immergleicher Gesichter und der immergleichen Sprache in der Provinz endlich erfüllt haben.
Wenn sie ihre ländliche Idylle heraufbeschwören, sehe ich dunkle Wälder, graue Himmel, spitze Berge, stumme Männer und noch stummere Frauen. Allesamt einander ewiger Kontrolle, allesamt einander ausgeliefert, weil sie letztlich doch nur auf sich zurückgeworfen sind. Ist ja sonst keiner da. Will man das wirklich? Freiwillig? Sehnsüchtig?
Das Land, das ist für mich Finsternis, Bierschweiß, beiges Essen, wasserabweisende Caprihosen und Verdrängung. Ein Leben voller Bitterkeit, harter Arbeit und ästhetischer wie intellektueller Verschlurfung, die sich als Gelassenheit gegenüber den Umständen tarnt. Es ist das ewig braune offene Familiengeheimnis, an dem sich Generationen von Jungliteratinnen bis zum Erbrechen bei jedem neu erscheinenden Debüt abarbeiten, wofür sie die Presse als provokatives Talent beklatscht und wir, die wir keine Wurzeln in diesen Barbara‑Albert‑Ulrich‑Seidl‑Marlene-Haushofer-Tälern haben, als unerträgliche Zeitgenossen in all ihrem wiedergekäuten Pathos ertragen müssen.
Hässlich diese Voreingenommenheit, nicht wahr? Genährt durch einige Besuche, einige Begegnungen, zu vielen politischen Vertretern und einer kalten Vogelperspektive auf ein Leben, das nicht das eigene ist. Das gehört sich nicht, oder?
Richtig. Deswegen ist es Zeit die Vogelperspektive zu verlassen. Die Grenze bewusst zu überschreiten. Den Fanatismus ruhen zu lassen und mit ihm die eigene urbane Provinzialität, um sich den 99,5 Prozent des Landes, die nicht Nicht-Stadt sind, zu nähern. Und sei es nur aus Egoismus, um sich letztlich selbst die Angst vor dieser Finsternis von einem Land zu nehmen. So als könne eine Spinnenphobie erst überwunden werden, wenn eine Vogelspinne über den eigenen Unterarm gekrabbelt ist.
Das Experiment beginnt für mich natürlich in Österreich, wo die Provinz am provinziellsten ist, und mit der Ankunft an einem Ort, von dem ich davor noch nie etwas gehört habe. Ein Stipendium hat mich hierhergebracht: Altmünster am Traunsee. Klingt nach Kirche und Käse. Meine Wohnung ist im Bahnhof selbst, ein Stock über den Bahngleisen. Ich teile sie mir mit einer Künstlerin, deren Gelassenheit meiner um Lichtjahre überlegen ist. Die schon lange nichts mehr dabei findet, dass die Zimmer ein klein wenig beben, wenn der Zug ein- und ausfährt. Die sich daran gewöhnt hat, sich von Nüssen und rohen Gemüse zu ernähren, weil es keine wirkliche Küche gibt. Und die das Rapunzeldasein zu tolerieren gelernt hat, wenn unser Bahnhofsturm mit der Abfahrt des letzten Zuges einfach zugesperrt wird und es schon einmal passieren kann, dass man eines Nachts vor verschlossenen Türen steht. Es sind Momente wie diese, die einem klar machen, wie vielen Illusionen man in Wahrheit aufgesessen ist. Etwa jener der eigenen Autonomie. Wie stolz sie in der Stadt kultiviert wurde. Und wie schnell sie hier über Bord geworfen wird, wenn man eines Nachts eine Zehn-Minuten-Bekanntschaft bittet, einen in den nächsten Ort zu fahren, der das Konzept kommerzieller Unterbringung bei gleichzeitiger Besetzung einer Rezeption kennen könnte.
Als nicht motorisiertes Lebewesen bedeutet es auf dem Land, permanent auf die Gnade anderer angewiesen zu sein. Wissend, dass sie endend wollend ist. Wie oft will man denn auch eine Fremde einfach so von A nach B fahren, nur weil sie zu faul, zu ängstlich, zu verwöhnt zu sein scheint, das zu tun, wozu selbst Minderjährige hier imstande sind: ein verdammtes Auto zu lenken. Ich habe Glück. Mir wird mit viel Gnade begegnet. Von Anfang an. Schon am ersten Abend erbarmen sich zwei Mädchen, mich an den einzigen Ort zu fahren, den sie kennen, wo man nach acht Uhr abends noch etwas Warmes zu essen bekommen würde. Wir fahren dich zum McDonalds in Gmunden – und wieder zurück, versichern sie mir. Mich rührt die Selbstverständlichkeit ihrer Worte. Dieses einfach so. Im Laufe der nächsten vier Wochen werde ich ihr immer wieder begegnen. Diesem einfach so. Dieser ausgestreckten Hand. Und ich werde nicht ganz wissen, wie ich damit umgehen soll. Weil jede ausgestreckte Hand einem irgendwann die Rechnung präsentiert.
So besinne ich mich lieber auf eine Mobilität mit sauberen Hierarchien. Zwei Mal am Tag begebe ich mich freiwillig in eine derartige Unterwerfung. In den Zug nach Ebensee – und wieder zurück. Dort, in Ebensee, mit 7.434 Einwohnern, Seen, Bergen, einem Kino, genau einer Drogerie und den Überresten eines ehemaligen KZ-Lagers, darf ich die österreichische Provinz als Artist in Residence erkunden.
Der Zug wird dabei zu meinem Tor zur Freiheit. Er bestimmt, ob ich festsitze oder weiterkomme. Alles dreht sich um ihn, wann er kommt, ob er kommt. Wie eine Diva. Er kann sich all die Dinge erlauben, die ich mir nie erlauben kann – ohne sofort die Konsequenzen zu tragen. Komme ich zu spät, warte ich eine Stunde auf den nächsten Zug. Kommt er zu spät, warte ich noch länger. Das Warten scheint hier Teil einer Mister Miyagi-Logik zu sein. Als wolle es für das Leben am Land disziplinieren. Mir die Bequemlichkeit der Stadt und ihrer U-Bahn mit ihren Drei- bis Fünfminuten‑Intervallen austreiben, mir eine Que-sera-sera-Bahn-Einstellung einimpfen, meinen eigenen Motor mit einem süffisanten: Wohin so schnell, gehetztes Großstadtmädchen? zum Stocken bringen.
Und es wirkt. Zum Leidwesen aller Mitwartenden. Fremdentschleunigt nutze ich die Gelegenheit, allen die eine Frage zu stellen, die mich umtreibt. Warum dieses Leben in der Einöde, freiwillig?
Wegen der Berge, antworten sie. Wegen der Familie. Wegen dem Job. Wegen der Freundin, die man auf Snapchat kennen gelernt hat. Wegen dem Haus, auf das man solange hingespart hat. Wegen dem Haus, das einem die Mutter vererbt hat. Wegen dem Haus, das schon den Urgroßeltern gehört hat. Wegen der guten Luft. Wegen der Berge. Wegen der kranken Oma. Wegen der Ruhe. Wegen der Berge. Wegen der Kinder. Wegen dem See. Wegen der Freunde. Wegen der Abgeschiedenheit. Wegen der Berge. Wegen der Berge. Wegen der Berge.
Was geben sie dir denn, die Berge? frage ich sie.
Sie sind halt da, sagen sie. Sie waren schon immer da. Und sie werden auch da sein, wenn wir nicht mehr da sind.
Sie geben Schutz, sagen sie.
Wovor? frage ich.
Vor dem Hagel, sagen sie, vor den Flüchtlingen, vor der Atombombe.
Aha.
Dann lass sie uns doch einmal ansehen, diese wundersamen atombombensicheren Berge. Eine Ebenseerin ist bereit, sie mir zu zeigen. Ihre Ausläufer zumindest. Keine Sorge, sagt sie, es wird nicht anstrengend. Meine Dirndl schaffen das auch. Ihre Dirndl sind fünf und zehn Jahre alt. Eine junge Mama haben sie, ihre Dirndl, fast zehn Jahre jünger als ich. Eine Mama, der es wichtig ist, dass ihre Töchter keine Verkäuferinnen werden wie sie selbst. Dass sie einmal Berufe lernen, in denen sie gescheit Knödel verdienen, um niemals abhängig zu sein von irgendwem. Eine Mama, die will, dass ihre Töchter ihre Träume niemals kleinmachen, aus Angst sie nicht erreichen zu können. Sympathisch, diese Mama.
Eine Woche vor unserer Wanderung habe ich sie kennengelernt. An ihrem Geburtstag. Sie hat gefeiert mit ihrer Familie auf dem schmalen Rasen vor der Wohnung in Ebensee. Eine kleine Party. Es hat mir gefallen. Hat es mich doch erinnert an die Stadt. Bisschen Lärm nach acht Uhr abends in der Öffentlichkeit. Es war eine kleine Runde, der ich mich aufgedrängt habe - und die es zugelassen hat. Hätte man uns beobachtet, hätte man sofort gesehen, wie viel hier gerade aufeinanderprallt. An Welten, an Wahlkreuzen, an Prinzipien zu Pandemie, Heimat, Feministinnen, zu Männern, die Frauen waren, und umgekehrt. Mit welcher Wucht wir diese Prinzipien, die sich zu Dogmen in uns verhärtet haben, aneinander reiben könnten. Wir taten es nicht. Wir ließen die Prinzipien Prinzipien sein. Ich zumindest. Zu stark war die Neugier, zu stark der Wunsch zu verstehen, vielleicht auch zu gefallen. Und siehe da: Wer all das, von dem er glaubt, daran festhalten zu müssen, weil es ihn ausmacht, außen vorlässt, kann einen richtig schönen Abend verbringen. Immer und überall, mit jedem.
Sogar mit einem ehemaligen Nazimädchen.
So nebenbei lässt sie das bei der Wanderung eine Woche später fallen, während ich den steilen Weg hinter ihr erbärmlich hinaufschnaufe. Eine Rebellin war sie in ihrer Jugend, erzählt sie. Eine Rebellin? frage ich. Ein kleiner Punk? Ein bisschen Goth? Nein, eher die andere Seite, antwortet sie. Ich muss über meine Naivität lachen, als hätte ich vergessen, in welchem Land ich lebe. Hineingerutscht ist sie da. Falsche Freunde, falsche Liebe. Zwei Jahre lang war sie bei denen, die ihren rechten Arm stramm hoben, sich SS-Totenköpfe in die Haut stechen ließen und es satthatten, sich für etwas schuldig zu fühlen, wofür sich ihrer Ansicht nach ihresgleichen niemals schuldig fühlen müsste. Doch irgendwann ist die Blase geplatzt. Ganz plötzlich. Plopp hat es gemacht, sagt sie knapp. Vorbei war der Spuk.
„Haust du mich jetzt hier runter“, fragt sie und schaut hinunter zum Bach, „jetzt, wo du das weißt?
„Ich dich?“, frage ich, „Du bist doch die mit der Nazi-Vergangenheit.“
Wir gehen still weiter. Tausend Fragen will ich ihr stellen, dieser ernsten Frau im schwarzen Tanktop und den kurzen Shorts, die darauf achtet, dass ich nicht auf einem der glitschigen Steine ausrutsche. Die sich darum kümmert, dass mir nichts passiert. Die sich um mich kümmert. Sie, deren einstige Freunde mich als Jugendliche vermutlich verdroschen hätten. Nur eine rebellische Phase, hat sie gesagt. Und ich merke, wie ich es dabei belassen will. Ihr glauben möchte, wenn sie sagt, dass sie keine von diesen „hysterischen Weibern“ war, dieser Nazifrauen, nur eine Mitläuferin. Sich heute für diese Zeit schämt. Ein Teil gibt sich zufrieden mit dieser Erklärung. Ein erschreckend großer Teil. Will einfach den Tag genießen, den schönen Ausflug und stolz sein auf die eigene Leistung, 752 Meter über den Seegrund in hässlichen Schuhen auf einem Waldweg herum gestolpert zu sein. Und dankbar der Frau, die es möglich gemacht hat. Egal welche Insignien des Menschenhasses noch heute auf ihrem Körper zu erkennen sind. Schon seltsam, wenn sich der ideologische Gegenpol vor einem humanisiert wie eine alte Schulfreundin, der man nicht mehr viel zu sagen hat, aber irgendwie doch verbunden ist. Mit ihr auf einer Hütte unbeschwert Eistee Pfirsich trinkt, einen Bauernkrapfen teilt und gemeinsam darüber lacht, wie der dicke Wirt sich lustig macht über die Bestellung einer Melange und eines kleinen Braunen hier oben im Nichts. Schon seltsam wie sich trotz allem eine Form der schrägen Schwesternschaft spüren lässt. Wie ich sie spüren will. Hier oben im Nichts mit diesem ehemaligen Nazimädchen.
Vielleicht hat das mit der berühmten Landluft zu tun, von der alle sprechen. Dass sie einen gelassener macht, ruhiger, entspannter. Alles ein bisschen Wurscht wird. Stumpf wird. Das äußerliche wie innerliche Zucken aufhört, wenn Irritierendes mit einer Natürlichkeit zur Sprache kommt, als wäre es ganz normal, so darüber zu sprechen, zu denken und zu fühlen.
Wenn Teenager-Jungs von der Schwuchtelstadt sprechen, Teenager-Mädchen von ihrem Ruf als Hure, den sie als Frau am Land nie wieder loswerden, und Erwachsene, dass doch nichts dabei ist, auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers zu wohnen. Ist alles aufgearbeitet, dokumentiert, ausgeschildert – mehr als sonst wo in Österreich, sagen sie.
Harmlos klingt sie, Ebensees Zone of Interest: Finkerleiten. 370 Wohnsitze, wunderschöne Birnbäume und eine Geschichte, die einigen Tausend halt passiert ist. Wenig deutet auf sie hin, ein Friedhof, eine Stiege, ein paar Stollen, und ein Torbogen, der seit 81 Jahren hier steht. „Im Gedenken an mehr als 8.000 Menschen, die im KZ Ebensee ums Leben kamen,“ steht da auf einer kleinen leicht zu übersehenden Tafel. Die Einwohner sehen den Torbogen schon lange nicht mehr, wird mir gesagt. So oft, wie sie da täglich durchfahren müssen.
Idyllisch ist es hier. Wie aus einer Werbung für das Leben in der Vorstadt. Familienväter, die an den Fahrrädern ihre Kinder schrauben, Großmütter, die reife Kirschen von den Bäumen pflücken und hin und wieder eine verlorene Touristin, die nach dem Weg zum Gedenkstollen fragt, weil sie die Hinweisschilder übersehen hat, die überwuchert neben Dixi-Klos verschwinden.
Wenn du oft genug herkommst, vergisst du es vielleicht auch, was hier einmal war, wird mir prophezeit von denen, die hier aufgewachsen sind. Die als Kinder auf den Friedhofsmauern gespielt haben, als Jugendliche für Mutproben in die Stollen geschlichen sind und es aufregend fanden, noch irgendwo Patronenhülsen zu finden. Die es kaum erwarten konnten, wenn hier etwas los war, wenn einmal im Jahr all die Fremden aus aller Welt im Mai in ihre Siedlung zu Besuch kamen. Zu den Gräbern ihrer Familien. All die Fremden, über die einige Nachbarinnen schimpften, dass sie mit ihren vielen Bussen einen Tag lang die wenigen Parkplätze besetzten.
Es lässt sich leicht vergessen hier. Zu leicht. Das macht Angst. Dass man den Torbogen mit der Tafel auch eines Tages nicht mehr sieht. Dass der Kloß im Hals verschwinden könnte. Der Ekel vor all dem, das einem dieses Land hinter all den schönen Fassaden immer verdächtig gemacht hat.
Und dann passiert plötzlich etwas Unerwartetes.
Ein Gefühl kommt hoch, von dem man nicht dachte, dass es hier zu empfinden möglich ist. Ein Gefühl von daheim. Ausgerechnet hier. Ausgerechnet auf einem KZ‑Friedhof. Hinten rechts, bei den wenigen Metern Wand, die von Efeu überdacht sind. Dort, wo die vielen kleinen und großen Tafeln mit den Namen der Ermordeten hängen, deren Angehörige keine Mühen gescheut haben, ihnen so zu gedenken, wie es ihre ureigene Tradition ist. Mit Inschriften auf Französisch, Polnisch, Italienisch, Hebräisch, Englisch, Russisch, Ungarisch.
Jede Tafel in einer anderen Sprache, in einem anderen Material, mit einem anderen Bild eines Menschen, dem andere das Menschsein abgesprochen haben. Ich fühle mich wohl hier und das verstört mich. Aber ich kenne den Grund. Nach Wochen auf dem Land habe ich den einen Ort gefunden, wo ein bisschen Welt zu Hause ist. Wo das Andere, das zum Anderen gemacht wurde, selbstbewusst in aller Fremdheit sich den Raum nimmt. Ein Ort, der sich nicht darum schert, was eine Mehrheit, die sich immer nach der glatten Oberfläche sehnt, will und braucht. Die den Widerstand gegen das Verschwinden mit einem Selbstbewusstsein in absoluter Individualität aufrecht erhält, und damit jedem Verdrängen und Vergessen stolz den Mittelfinger zeigt. Es beruhigt mich, dieser Ort. Da mein Verlangen nach Welt, so verschleppt, entwurzelt und vernichtet es auch sei, hier ein Zuhause gefunden hat.
Das erleichtert mich. Weil ich weiß, dass der Kloß nicht verschwinden wird. Egal, wie oft ich durch diesen Torbogen gehe.
Ein paar Kilometer weiter begegne ich schließlich dem, was so viele spüren, wenn sie vom Landleben schwärmen: der Magie der Provinz. Auf einer kleinen Brücke überrascht sie mich. Tanja, meine Fremdenführerin für den Nachmittag, bleibt dort mit dem Auto stehen. Sie möchte mir zeigen, wo sie aufgewachsen ist. Wo sie als kleines Mädchen vor knapp 30 Jahren immer gespielt hat. „Da sind wir mit den Badesachen einfach eine gelaufen in den Maierbach und hier von der Brücke sind wir immer obe gesprungen.“ Wir schauen beide hinunter in das Wasser, das vorbeifließt an den großen und kleinen Steinen, den heruntergefallenen Ästen und den bemoosten Felsen. Links und rechts vom Ufer die Bäume, am Horizont die Berge. Hier macht es Klick. Ich begreife, was sie alle daran finden, an diesem Leben im Grünen, dieser Kindheit auf dem Land. Was es gewesen sein muss, hier zu spielen, unbemerkt und frei. Ein ständiges Abenteuer. Im Sommer waren sie schwimmen, im Winter Skifahren, erzählt Tanja, und da gleich hier, gab es einen super Hang, wo sie mit dem Schlitten fahren konnten. Gleich vor der Haustür. Hier „im Lager“, Ebensees Ghetto. In ihren alten Häusern haben früher Arbeiter gewohnt, später nach dem Krieg die Flüchtlinge. Und irgendwann sie, das Gesindel, mit den schlechten Zähnen und den schlechten Manieren, von dem man behauptete, dass jeder über jeden steigen würde. Und das trotzdem gut genug war zum Feiern. Sie alle waren hier, die Leute von der Finkerleiten, die sich für etwas Besseres hielten, die vom Ort, selbst die scheue Noblesse aus Rindbach. Sie alle waren hier drinnen saufen. „Ich bereue nicht, dass wir hier gewohnt haben. Auch wenn alle anderen über uns hergezogen sind“, sagt Tanja. In der Schule wussten die Lehrerinnen sofort, welche Kinder vom Lager waren. Und haben sie das spüren lassen. Heruntergekommen sollen diese Kinder gewesen sein, und aggressiv. „Mir haben uns eben durchsetzen können“, sagt Tanja, „und nicht gleich nach der Mami gerufen.“ „Ich bereue es nicht, dass ich hier gewohnt habe“, wiederholt sie und schaut auf das Wasser. „Wir haben alles gehabt, was keiner gehabt hat. Es war nicht die Welt, aber was will man mehr.“
Ja, was will man mehr?
Ihr von der Stadt, ihr seid immer so getrieben, wurde mir gesagt. Als gebe es ständig etwas Größeres, Besseres, Spannenderes zu erreichen. Ihr doch auch, kontere ich. Es äußert sich nur anders. In anderen Träumen. In anderen Wünschen. Mehr hier, weniger woanders. Und wenn man genau hinsieht, stimmt nicht einmal das. Früh wollt auch ihr woanders hin. Und tut es auch, an all die Orte, die das haben, was es bei euch nicht gibt. Nicht mehr gibt: die Schule, das Gasthaus, die Kinderärztin, das Kino, das Einkaufszentrum mit dem einen New Yorker, mit der einen Bar, in der man sich noch verlieben kann.
Schon als Jugendliche wisst ihr, was es heißt zu migrieren. Während wir bereits den Wechsel eines Stadtviertels als Zumutung empfinden, habt ihr Übung darin, sehr früh eure Heimat zu verlassen. Nicht in Altmünster, Traunkirchen, Ebensee, Bad Goisern zu bleiben, sondern immer weiter zu gehen. Weil es in diesem Weiter das gibt, wonach ihr euch sehnt, was ihr braucht. Auch, wenn es nicht die große Stadt ist. Ist es doch ein klein wenig mehr als das, was es zu Hause ist. Das imponiert uns. Diese Migrationskompetenz in frühen Jahren, diese kleinen Weltreisen anzutreten – weg von zu Hause, weg von den Eltern, weg von den Freundinnen. Da im Nirgendwo, das immer noch mehr Irgendwo ist als daheim.
Auch die Sehnsucht nach dem Mehr an Mensch teilen wir. Uns ist es gegeben an jeder Ecke der Stadt. Ihr müsst es euch suchen, es immerzu organisieren. Und auch das tut ihr. Bei jedem Fest, jedem Stammtisch, jedem Verein. Auch, wenn es immer die gleichen Gesichter sind. Es scheint da eine unausgesprochene Vereinbarung zu geben, die da lautet: Wir sind einander verpflichtet.
Du wirst als eine andere zurückgekommen, als die du gekommen bist, hat mir jemand vorhergesagt. Es klang wie eine Drohung. Aber nach vier Wochen will der urbane Panzer nicht mehr ganz so recht sitzen. Irgendwas hat sich da eingeschlichen. Es fällt mir nicht mehr auf, keine andere Sprache außer Deutsch im Dialekt zu hören. Keine Bücher in Auslagen zu sehen. Das beige Essen serviert zu bekommen. Die Nase zu rümpfen über die Tussen aus Gmunden, die Snobs aus Ischl und all die anbiedernden Trachtenwiener. Es fällt mir nicht mehr auf, keine Wut zu spüren, wenn Halbstarke vor einer bunten Fahne stehen und sie herunterreißen wollen, weil sie die, für die sie steht, für abartig halten. Nicht das Weite zu suchen, wenn Totenköpfe einer mörderischen Gesinnung auf dem Oberschenkel einer jungen Frau auftauchen. Nicht verstört zu sein, wenn junge Männer einen der ihren wenige Tage vor seiner Hochzeit an ein Holzkreuz binden, mit allerlei nicht identifizierbaren Flüssigkeiten beschmieren und ihn so durch den Ort treiben, mit dem Hinweis, dass schon einige bei so was gestorben sind.
Ich merke, wie meine eigene Sprache verschlampt, das kulinarische Empfinden abstumpft, und mit ihm jede Empörung, über alles vormals Empörende. Ich sehe mir dabei zu, wie brav ich mitmache bei all den Ritualen, die mir fremd sind. Wie ich täglich jeden mehrmals enthusiastisch grüße, der mir entgegenkommt. Wie ich auf einer Holzbank beim Kirchenfest schunkle, wenn Jugendliche mit ihrer Ziehharmonika Volkslieder anstimmen. Wie rührend und echt ich sie finde, wenn sie einer wie mir misstrauen, die sich doch lustig machen könnte, über all das Altbackene hier, die Trachten, die Lederhosen, die Gamshüte. Sie tut es nicht. Es fasziniert sie, will ich ihnen mit diesem hilflosen Geschunkel zeigen. Es fasziniert sie, wenn sie Fotos zeigen von den Netzen, wie sie kleine Vögel im Herbst fangen und im Frühling wieder freilassen. Wie sie aufjaulen, wenn man die Tierhaare ihrer Filzhüte abklopft, statt sie von unten nach oben zu streichen. Wie sie gekränkt schauen, wenn man den zweiten, dritten und vierten Schnaps ablehnt.
Genauso fasziniert es mich, dass hier Folter als Brauch gepflegt wird. Einen Brauch, bei dem ich mitmache, wenn ich die Ketchup-Flasche nehme und ihren Inhalt einem Wildfremden über den Kopf schütte – weil diese Demütigung als Abschied für das Junggesellendasein vorgesehen ist. Weil für ihn diese Folter nur beweist, dass er echte Freunde hat und ich beginne zu begreifen, dass sich hier hinter all dieser Rohheit die einzig akzeptierte Form der Zuneigung zwischen Männern verbirgt.
Ist es noch Faszination oder schon Wohlwollen, das jeder Anpassung sediert den Weg bahnt? Ausgeliefert den Elementen, den wenigen Menschen und der Infrastruktur, die den Namen nicht verdient, hat sich die Fanatikerin verändert. Gewöhnt an die Begrenztheit der Möglichkeiten, beginnt sich das Ich abzuschleifen. Jede Kante zu verlieren und das Kollektiv in seiner Dauerrelativierung als Maßstab zu nehmen. Die Mehrheit als Vorbild, die sich anders als die Minderheit hier, die sich kreativ und ehrgeizig einen alternativen Kosmos erkämpft, mit dem Gegebenen zufriedengibt. Ja, sich dem ergibt und nichts tut. So ist es nun einmal hier. Kann man nichts machen. Höre auf, mehr zu wollen! Höre auf aufzufallen! Glaubst du, du bist was Besonderes, was Besseres? Bilde dir bloß nichts ein.
Diese Normalität beginnt sich in den Panzer einzuschleichen.
Die Erkenntnis provoziert mich. Weil ich eingestehen muss, wie wenig mich hier provoziert hat. Ist die Städterin gar nicht so urban wie sie dachte? So gefestigt in ihrem Glauben? Schlummert in ihr ein Provinzmädchen, das gerne am Pool sitzt auf einem von Mährobotern manikürten Rasen mit Hindustatuen vom Baumarkt mit Aussicht auf einen Friedhof voller ermordeter Zwangsarbeiter? Braucht sie es gar nicht, den Atem, den Aufbruch, die Freiheit, die Zivilisation?
Und wie sie das braucht.
Spätestens dann, wenn sie nach zwei Wochen zu grüßen aufhört, weil sie merkt, dass sie es aus Selbstschutz tut, nur um nicht aufzufallen. Wenn sie nach drei Wochen einen grässlich grellen Lippenstift kauft, nur weil er „Paris, Paris“ heißt. Und wenn sie nach vier Wochen am grausamsten Ort, den die österreichische Provinz zu bieten hat, das Gefühl von Heimat verspürt. Spätestens dann weiß sie: Der Panzer ist intakt. Er hat nur einen Riss bekommen, in dem ein Stück Finsternis, grauer Himmel, wasserabweisende Caprihosen, Berge, Seen und Sehnsüchte nach einem Leben, das nicht das eigene ist, auch einen Platz gefunden haben. Einen ganz kleinen.