Musik, Zappa: "Sex"
"What's the ting that they's talkin' about everywhere? – Sex // …"
O-Ton: Kolle
"Die Aufgabe sehe ich als eine grundsätzliche Befreiung des einzelnen Menschen von Unwissenheit und Aberglaube und Vorurteil in sexueller Hinsicht einerseits, und andererseits den Versuch, eine Veränderung der Gesellschaft in sexueller Hinsicht zu erreichen."
O-Ton: Kunzelmann
"Von wegen jeder mit jedem und jede mit jedem, das sind die unterdrückten Vorstellungen von Biedermännern und Kleinbürgern – so war das nie."
O-Ton: Winkler
"Im Wechsel der Generationen gesehen gab es aufregendere Generationen als heutzutage."
O-Ton: Rosenbrock
"Was meine Lebensspanne angeht, waren zweifellos die 60er Jahre des Aufbruchs, wir alle erinnern uns an die Kommune 1, wo es jederzeit möglich war, dass der Sex eine Fortsetzung eines guten Gesprächs mit anderen Mitteln war, das ging meistens nicht sehr lange gut, weil diese Form der angeblich befreiten Sexualität zu stark auf das rein körperliche Zusammensein reduziert, was in der Regel dann zu Konflikten führte."
Zitat: "Sex wurde endlos und überall als das Erstrebenswerteste beschrieben, was es auf der Welt nur geben könne. Aber: Was bedeutet es denn eigentlich, die Lust zu befreien, und auch: Was sind die Grenzen dieser Befreiung? Was war mit Nötigung, Belästigung und Gewalt gegen Frauen? Oder mit der Verletzbarkeit von Kindern?"
O-Ton Pohl:
"Unter dem Druck dieser so genannten Sexuellen Revolution oder Liberalisierung ist ja ein ganz riesiger Bekenntnis- und Diskursdruck entstanden. Man musste ständig über Sexualität, über seine Probleme, über die Beziehung reden, reden, reden."
Zitat: "Damals wurde die Sexualität mit einer solchen Mächtigkeit ausgestattet, dass einige davon überzeugt waren, durch ihre Entfesselung die ganze Gesellschaft stürzen zu können. Dass mit der 'Befreiung' erhebliche Fremd- und Selbstzwänge, neue Probleme und alte Ängste einhergingen, wollten die Propagandisten nicht wahrhaben."
Musik, Salt-N-Pepa: "Let’s talk about sex, baby",
Sprecherin: Keine Frage: Es rumort mächtig Mitte der 1960er Jahre: Sexuelle Verhaltensweisen und Einstellungen verändern sich in westlichen Ländern, und bis heute wird heftig darüber gestritten, wie diese so genannte Sexuelle Revolution zu bewerten ist. Aber: War das überhaupt ein plötzlicher radikaler kämpferischer Wandel? Ein Umsturz der bestehenden zur Errichtung einer neuen Ordnung? Eine Befreiung? Dr. Magdalena Beljan, Mitherausgeberin eines wissenschaftlichen Werkes über die Sexualitätsgeschichte in Deutschland:
O-Ton: Beljan
"Was man schon sagen kann, ist, dass es eine sehr, sehr experimentelle Zeit war. Da gibt es schon Dinge, die aus heutiger Perspektive wahnsinnig offen und liberal erscheinen. Und nichtsdestotrotz glaube ich, dass dieser Revolutionsbegriff unangemessen ist, weil er suggeriert, da gibt es einen Augenblick in der Geschichte, an dem sich alles geändert hat. Und nicht zu Unrecht sagen viele Historiker, diese Sexuelle Revolution hat so gar nicht stattgefunden, sondern das ist ein langer Prozess."
Sprecherin: Rolf Pohl, Professor für Sozialpsychologie in Hannover:
O-Ton: Pohl
"Was revolutionär genannt werden könnte, bestand hauptsächlich in dieser Kampfstimmung, Kampf gegen den Muff und gegen den Mief der 50er und Anfang der 60er Jahre."
Sprecherin: … und besonders prägend sei die Rock- und Popkultur gewesen, sagt Pohl, der als Jugendlicher mit dabei war:
O-Ton: Pohl
"… also Musik, Beatmusik, Rockmusik, da spielte das Thema Sexualität, sexuelle Befreiung immer schon eine große Rolle."
Musik, Elvis: "Hound Dog"
Sprecher: Elvis Presley – der Star der "Halbstarken", wie Eltern ihre aufmüpfigen Teenager nennen. Mit seinen eindeutigen rhythmischen Hüftbewegungen auf der Bühne verkörpert "Elvis the Pelvis" buchstäblich ihre sexuellen Sehnsüchte.
In Deutschland ist zur selben Zeit Hildegard Knef im Film "Die Sünderin" ganz kurz nackt zu sehen. Entsetzen bei den Moralwächtern, denn die hatten ganz andere Vorstellungen.
O-Ton: Alte Werbung
"Sie wissen ja: Eine Frau hat zwei Lebensfragen: Was soll ich anziehen? Und: Was soll ich kochen? – Ja, und das allerwichtigste für ihn ist der Pudding."
Der Kinsey-Report
Sprecherin: Nach dem 2. Weltkrieg stützt sich der Wiederaufbau auf die stabile Kleinfamilie einschließlich rigider, ausschließlich ehelicher Sexualmoral. Der Aufklärer Oswalt Kolle in einem Interview 1998:
O-Ton: Kolle
"Es war eine Form der Unterdrückung der Sexualität, die geradezu gigantisch war. Wir konnten praktisch, meine Freundin und ich, damals nicht zusammen in Urlaub fahren, haben kein gemeinsames Hotelzimmer kriegen können, meine Mutter hatte ständig Angst vor dem Staatsanwalt, wenn meine Freundin, meine spätere Frau, bei mir zu Hause übernachtet hat, weil: auf diesem Delikt der so genannten schweren Eltern-Kuppelei stand sechs Jahre Zuchthaus, denn das Wort "Unzucht" war eine ganz wichtige Sache."
Musik, Elvis
Sprecherin: Dass Moralvorstellungen und gelebte Praxis tatsächlich aber weit auseinanderklaffen, zeigt dann ausgerechnet die Sexualwissenschaft und erweist sich damit auch als Befreiungsmotor.
Sprecher: Alfred Kinsey, Professor für Zoologie in Indiana hatte schon 1939 eines der größten Projekte in der Sexualwissenschaft aller Zeiten begonnen und 20.000 Sexual-Biografien zusammengetragen. Die Fragen ließen an Klarheit nichts zu wünschen übrig: "Welche Koitus-Positionen bevorzugen Sie? Mann oben, Frau oben, seitlich, im Sitzen, im Stehen, von hinten?"
Sprecherin: Der deutsche Sexualwissenschaftler Professor Erwin Haeberle, der in den 60er und 70er Jahren in den USA unter anderem am Kinsey-Institut arbeitete, sagte dazu 1994:
O-Ton: Haeberle
"Kinsey hat ja durch diese Art Forschung die ganze Sexualität entdramatisiert, entmythologisiert und hat ihr auch vielleicht so den romantischen Schleier ein bisschen genommen, und er hat ja den Menschen hier als sexuelles Säugetier dargestellt, und das war eine völlig neue Sicht für die Leute."
Sprecherin: Kinsey's Werk "Das Sexualverhalten des Mannes" erscheint 1948, mit etwas Verspätung dann auch in Deutschland. Auf den ersten Blick so aufregend wie ein Telefonbuch: Zahlen über Zahlen. Aber die hatten es in sich:
Sprecherin: Selbstbefriedigung ist praktisch bei fast allen Männern und sehr vielen Frauen selbstverständlich, ebenso der voreheliche Geschlechtsverkehr. Mehr als zwei Drittel der verheirateten Männer und ein Viertel der Frauen haben ihre Partner schon mal betrogen. Jeder dritte Mann hat auch homosexuelle Erfahrungen ...
Sprecherin:... und so weiter. Auch Kinseys 1953 erschienener "Knüller" unter dem Titel "Das Sexualverhalten der Frau" schlägt ein wie eine Bombe, erzählt Barbara Scheffer-Hegel, früher Erziehungswissenschaftlerin an der TU Berlin in einem Gespräch anlässlich seines 100. Geburtstages 1994:
O-Ton: Schaeffer-Hegel
"Der Kinsey-Report hat uns gelehrt, dass Frauen nicht nur sexuelle Strebungen und Bedürfnisse, sondern auch eigene sexuelle Befriedigung erleben und erleben können, dass das sogar sehr häufig der Fall ist, und dass man damit auch an die Öffentlichkeit treten kann und nicht diesem schamvollen Weiblichkeitsbild entsprechen muss, das uns noch gelehrt worden ist."
Sprecher: Diese Art von Wissenschaft mögen die Moralapostel gar nicht. Im "Reader’s Digest" etwa heißt es: "Sind unsere Ideale wie Ehrbarkeit, Treue und Scham nicht mehr als irrationaler und sentimentaler Unsinn?"
Sprecherin: Während Kritiker durch Kinsey den Untergang des Abendlandes kommen sehen, stehen gleichzeitig Erotika hoch im Kurs. Jugendliche etwa holen sich den Klassiker der Aufklärungsliteratur aus der Weimarer Zeit aus dem väterlichen Giftschrank, das Buch des niederländischen Autors Hendrik van de Velde mit dem Titel: "Die vollkommene Ehe". Die Erwachsenen setzen schon in den 1950er Jahren lieber auf Beate Uhse.
Sprecher: Die Pilotin und Unternehmerin aus Flensburg ist nicht die erste im Erotikversandhandel: Mehr als 70 Firmen verschicken zu der Zeit bereits Jahren Pakete mit unverdächtigen Absendernamen.
Sprecherin: Aber Beate Uhse hatte für diese Heimlichtuerei nichts übrig, wie sie 2001 kurz vor ihrem Tod noch im Deutschlandradio erzählte.
OT: Uhse
"Und da hab ich mir gesagt, Mensch, das ist doch für uns alle. Und du willst doch wissen, dass das ein Mensch ist. Und was für ein Mensch. Und da habe ich mich entschieden, dass ich dafür gerade stehe mit meinem echten Namen."
Sprecher: Einerseits ist diese Offenheit das Geheimnis ihres Erfolges. Die erotischen Romane, Noppenkondome, "Kunstglieder", "Erotin-Dragees" oder "mitternachtsschwarze, durchsichtige Negligés" finden reißenden Absatz. Anderseits steht der Name Beate Uhse für "Schweinkram" und Unsittlichkeit, obwohl sie die herrschenden Sexualnormen, vor allem die Ehe, ausdrücklich nicht in Frage stellt.
Die Pille als gesellschaftlicher Katalysator
Sprecherin: Aber dann, Anfang der 60er Jahre, passiert tatsächlich etwas Revolutionäres:
O-Ton: Werbung USA
"Of one thing we can be certain … but the worlds happiness.”
Zitat: Eines ist sicher: Es ist ein Durchbruch gelungen. Die Wissenschaft hat eine neue Methode der Geburtenkontrolle gefunden. Und sie wird im Laufe der Zeit nicht nur die Weltbevölkerung, sondern auch das Glück der Welt beeinflussen.
Sprecherin: Die Pille! Gut ein Jahr später als in den USA bringt Schering 1961 in der Bundesrepublik das erste "orale Kontrazeptivum" unter dem Namen "Anovlar" auf den europäischen Markt. Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek erinnert sich:
O-Ton: Jelinek
"Das gehört zu den guten Dingen in meinem Leben, die Anti-Baby-Pille. Damals war sozusagen die sexuelle Befreiung, die Promiskuität auch für Frauen möglich, ohne Angst vor Schwangerschaft, und das war wahrscheinlich eine der besten Zeiten, die es je gegeben hat."
Sprecher: Anfangs ist der Widerstand heftig: Durch die "Pille" würden "alle deutschen Frauen zu Huren", heißt es beispielsweise in einer Denkschrift von 1964. Darin forderten Ärzte und Ordinarien, der Staat solle "den biologischen und charakterlichen Verfall des deutschen Volkes bekämpfen". Papst Paul VI. verbietet die Einnahme der Pille als "Todsünde im Ehebett".
Sprecherin: Doch der Siegeszug ist nicht aufzuhalten: 1967 äußern sich 87 Prozent der katholischen Frauen, ob verheiratet oder nicht, positiv zur Pille. Die Werbung der 60er, der Pop-Art-Jahre, setzt sich auf den Trend.
O-Ton: Werbung Afri-Cola
"Lustvolle Gefilde Afri-Cola-hungriger Gefühle. Die Frau wird Frau und frei. Heirat oder nicht Heirat, das ist nicht mehr die Frage."
Sprecherin: Die Pille wirkt wie ein gesellschaftlicher Katalysator. Neue Formen des Zusammenlebens werden möglich, weil es nicht mehr um "Familiengründung" gehen und weil der jeweilige Sexualpartner nicht notwendigerweise auch als Lebenspartner in Frage kommen muss.
Musik, Beatles: "All you need is love"
Sprecherin: "Freie Liebe" heißt die Devise und "make love, not war".
Sprecher: 1965 formiert sich in San Francisco die Flower-Power-Bewegung. In vielen Ländern proben Jugendliche als "Love-Generation" den Aufstand gegen die Alten mit freier Liebe, Musik und Drogenrausch. Aber auch mit politischem Impetus: Die USA sind im März 1965 in den Vietnam-Krieg eingetreten, die "Hippies" verbrennen massenhaft ihre Einberufungsbefehle, und an den Unis gehören Studentenversammlungen zum täglichen Bild:
O-Ton: "We call upon the world … celebrates these values.”
Zitat: Wir appellieren an die Welt, uns zu helfen, die unendliche Heiligkeit des Leben zu feiern. Wir sagen ja zum Leben, zur Liebe, zum Frieden und zur Selbstfindung. Der "Sommer der Liebe" feiert diese Werte.
Sprecherin: Etwas später, 1968, formiert sich auch in Europa, vor allem in Frankreich und Deutschland, eine auf Frieden und Freiheit orientierte Jugendbewegung.
O-Ton: Collage 68
"Ho-ho-Hochiminh // Dutschke: Wir wollen eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keinen Krieg mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben, und zwar in der ganzen Welt."
Sprecherin: Das Private wird politisch, gerade auch bei der Sexualität: Die Studentenbewegung überall in Europa sieht sich im Konflikt mit ihrer Elterngeneration, denen sie Faschismus und Krieg vorwerfen. Und ausgerechnet diese "Alten" warnen vor "schmutzigem Sex" und predigen Sauberkeit.
O-Ton: Persilwerbung
Gesungen: "Ja unsere weiße Weste verdanken wir Persil,es ist für uns das Beste, // Persil bleibt doch Persil."
Sprecher: Wohl das Symbol für die Sexuelle Revolution wird ein berühmtes Foto: Mitglieder der Kommune 1, vollkommen nackt, mit erhobenen Armen und Gesicht zur Wand – wie bei einer polizeilichen Durchsuchungsaktion. Sie stehen gegen Verlogenheit der älteren Generation und für eine "bessere Welt der freien Liebe". Geflügeltes Wort von damals: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment".
Sprecherin: Kommune1-Mitbegründer Dieter Kunzelmann:
O-Ton: Kunzelmann
"Am Anfang stand der Gedanke der nötigen Revolutionierung des Privatlebens. Weil wir einfach die Erfahrung gemacht haben im SDS, dass jeder so sein Rückzugsgebiet nach wie vor hatte und wirkliche Auseinandersetzung nicht stattgefunden hat."
Sprecherin: Deshalb sollte es in der Berliner WG keinerlei Privatleben geben: Türen wurden ausgehängt, sogar vor den Toiletten, Betten und Bettgenossinnen wurden geteilt. Rainer Langhans, ein anderer Kommunarde:
O-Ton: Langhans
"Wir wollten ja andere Menschen werden, wir wollten auf einer kleinen Insel im falschen Leben ein richtiges zu leben versuchen."
Musik, Beatles
Sprecher: Die Idee, dieses "richtige Leben" vor allem in befreiter Sexualität zu suchen, geht auf den Psychoanalytiker Wilhelm Reich zurück. Sein Buch "The Sexual Revolution", erstmals schon 1936 erschienen, wurde 1945 erneut veröffentlicht und 1966 unter dem Titel "Die Sexualität im Kulturkampf" ins Deutsche übersetzt. In der Frankfurter Universität war an die Wand gesprüht: "Lest Wilhelm Reich und handelt danach!"
Alice Schwarzers "Kleiner Unterschied" und dessen Folgen
Sprecherin: Professor Rolf Pohl, Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie der Uni Hannover:
O-Ton: Pohl
"Wenn man seinen Ansatz zur Sexuellen Revolution mit seiner Untersuchung zur Sozialpsychologie des Faschismus zusammenbringt, dann ist da deutlich zu erkennen die Idee, dass die Faschismusanfälligkeit durch die Unterdrückung von Sexualität entsteht. Und eine Befreiung von Sexualität führt eben dazu, dass die Menschen autonomer, freier und eben nicht mehr anfällig für den Faschismus werden. Der Haken daran ist, dass er nur eine ganz bestimmte Auffassung von Sexualität als maßgeblich in den Mittelpunkt gerückt hat. Nämlich eindeutig die Heterosexualität, eindeutig die genitalorientierte Sexualität – und alle anderen Formen galten für ihn mehr oder weniger als krank. Also die Idee, ihn als Bibel zu lesen und umzusetzen, würde zur Befreiung des Menschen und zur Befreiung der Gesellschaft führen, ist eine Sackgasse gewesen."
Sprecherin: Auch Professor Rolf Rosenbrock, Gesundheitswissenschaftler und Zeitzeuge, kann der These von der sexuellen Befreiung als Akt der politischen Befreiung nur zum Teil etwas abgewinnen.
O-Ton: Rosenbrock
"Sex ist immer politisch, wenn das Thema Macht in Beziehungen bis hin zur Gewalt thematisiert wird. Es war eine große Befreiung, dass in der Berliner Studentenbewegung zum Beispiel Ärzte mit Rezeptblöcken herumliefen und die Pille verschrieben, es war eine große Befreiung, wenn Autoren wie Günter Amendt und andere das Leben den eigenen Bedürfnissen entsprechend propagierten, es hat auch sicherlich vielen geholfen, anerzogene Schamgrenzen und Tabus zu überSprecherin: ngen, aber die Vorstellung dass durch mehr Sex, anderen Sex und weniger verbindliche Formen der Beziehung die politische Befreiung automatisch erfolgt, das sieht man ja auch an der Geschichte, dass das nicht gestimmt hat, und aus meiner Sicht wird das auch nicht stimmen."
Musik, Tom Jones "Sex Bomb"
Sprecherin: Für viele Frauen war Sexualität immer auch politisch und wurde es zunehmend. "Spiegel und Instrument der Unterdrückung der Frauen in allen Lebensbereichen" nennt etwa Alice Schwarzer die Sexualität in ihrem Buch "Der kleine Unterschied". Die Frauenbewegung kümmerte sich ja schon lange vor 68 um Fragen der Prostitution oder des Abtreibungsparagraphen 218. Und die neuere Frauenbewegung nimmt nun diese älteren Kämpfe wieder verstärkt auf.
Sexualität in der DDR
Von den "Revolutionären" aber hat frau bald die Nase voll:
O-Ton: Lied
"Frauen zerreißt eure Ketten, Schluss mit Objektsein in Betten!"
Sprecherin: 1968 auf einem SDS-Kongress verteilt der "Frankfurter Weiberrat" ein Flugblatt mit einer heftigen Zeichnung: Abgehackte Penisse hängen wie Jagdtrophäen an der Wand, darunter räkelt sich eine Frau mit Beil auf dem Diwan.
O-Ton: Mann
"Mein Schwanz soll auch abgehackt werden. Und ich finde das eine ziemliche Schweinerei von den Frauen."
Sprecherin: Im Flugblatttext kritisieren die Frauen den "sozialistischen Bumszwang" und "das revolutionäre Gefummel". Sogar die Pille hätte die Situation der Frauen eher verschlimmert.
O-Ton: Frau
"Wenn du die Pille genommen hast, dann hast du so was signalisiert wie "du bist zur Verfügung", beziehungsweise du hast – in Anführungszeichen – keinen offiziellen Grund, nein zu sagen. Und ich glaube, das haben viele aus meiner Generation erst lernen müssen, nein zu sagen ohne Grund."
Sprecherin: In der DDR dagegen wird das Verhütungsmittel als Element der sexuellen Befreiung der Frau gesehen und im dortigen Fernsehen als "Wunschkindpille" gelobt.
O-Ton: DDR-TV
"Wir legen es nun in die Entscheidung der Frauen, wann sie sich ihren Wunsch nach einem Kind erfüllen wollen. Wie viel Sorgen, wie viel schwere menschliche Konflikte werden künftig vermieden."
Sprecherin: Insgesamt gibt es im eigentlich prüden "Ostblock" durchaus Bemühungen um Aufklärung. In Polen zum Beispiel bringt die Gynäkologin Michalina Wisłocka 1976 das Buch "Die Kunst des Liebens" heraus. Sie tritt für Frauenrechte, sexuelle Freiheiten und Verhütungsmöglichkeiten ein. 2017 schließlich wird ihr Leben in Polen verfilmt.
Musik, Beatles: "All you need is love"
Sprecherin: In der DDR gab es offiziell ohnehin keine Probleme mit verdruckster Sexualität, keine Tabus, wie dort ein Mann im Arztkittel erklärte:
O-Ton: DDR-TV
"Jede Lustfeindlichkeit ist dem Wesen des Marxismus völlig fremd. Lenin formuliert in einem Gespräch mit Klara Zetkin, dass wir im Kommunismus nicht Askese anstreben sondern Lebensfreude, Lebenslust, auch durch erfülltes Liebesleben."
Sprecherin: Der Umgang mit Sexualität in der DDR ist zumindest ambivalent: Vorehelicher Sex gilt einerseits als natürlich, andererseits werben staatlich kontrollierte Sexualberatungsbücher vor allem für die vorbildliche sozialistische Ehe. Die Abtreibungsgesetzgebung ist liberaler als im Westen Deutschlands. Frauen und Männer sind formal gleichberechtigt – eine wirtschaftliche Notwendigkeit, denn der Sozialismus braucht möglichst viele berufstätige Frauen. Seit 1968 ist auch Homosexualität zwischen Männern über 18 Jahren nicht mehr strafbar. Allerdings war schwulen Männern schon klar, dass sie besser unsichtbar bleiben, um nicht diskriminiert und angegriffen zu werden.
Sprecherin: … und nicht zu vergessen: die ungezwungene Nacktheit, das Faible für FKK, um sich vom "prüden Westen" abzusetzen. Auf die Frage, ob die Ossis wirklich sexuell freier lebten, antwortete der DDR-Autor Jürgen Lemke 2013 in der "taz":
Zitat: "Vereinfacht gesagt: In der Zeit, in der im Westen wilde Debatten geführt wurden, hat man im Osten gevögelt. Nach Italien durfte man auch nicht, da blieb viel Zeit für die angeblich schönste Sache der Welt."
Sozialpsychologe: "Neue Zwänge unter dem Diktum von Leistung und Arbeit"
Sprecherin: Dennoch scheint irgendwas gefehlt zu haben. Nach der Wende schießen in den neuen Ländern Erotikshops wie Pilze aus dem Boden und haben großen Zulauf.
Musik, Birkin/Gainsbourg: "Je t’aime"
Sprecherin: Im Grunde sind sich die Experten einig: die "Sexuelle Revolution" in den 60er und 70er-Jahren war eher Reform als Umsturz. Dennoch hat sich vieles verändert an den sexuellen Einstellungen und Verhaltensweisen. Ob zum Guten oder Schlechten – da hört die Einigkeit auf:
O-Ton: Pohl
"Es gab positive Effekte, Befreiung aus Unmündigkeit, Unterdrückung, Abschaffung von Repression, das Durchbrechen von menschenfeindlichen Tabus, auch die Idee, dass Sinnlichkeit, Zärtlichkeit und Sexualität nicht auseinanderfallen müssen, dass das Sprecherin:
… sagt der Sozialpsychologe Rolf Pohl.
O-Ton: Pohl
"Negativ ist dann sicherlich die Kommerzialisierung der Sexualität, und das Ganze geschah sozusagen im Mantel einer Befreiungsidee, das heißt, es sind neue Zwänge unter dem Diktum von Leistung und Arbeit entstanden. Dazu gehört auch die Pornografisierung des Alltags, die eigentlich auch wieder die Hierarchie zwischen den Geschlechtern und das Frauenbild wieder verfestigt hat."
Musik: "Je t’aime"
Sprecher: Es war einer der Aufreger 1967, als Jane Birkin und Serge Gainsbourg ihren Liebesakt auf Vinyl stöhnten. "Pornografie!" riefen die einen, die anderen kauften die Platte und hörten sie im Schlafzimmer. Sex sells.
Sprecherin: Ein wesentliches Kennzeichen der 60er und 70er Jahren ist, dass Sex jetzt öffentlicher wird, vor allem über die Massenmedien. Die hatten – und haben – einen großen Anteil an der gesellschaftlichen Verbreitung sexueller Normen und Praktiken, an Bildern und Vorstellungen. Dr. Magdalena Beljan arbeitet am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zur Gefühls- und Sexualgeschichte Deutschlands:
O-Ton: Beljan
"Es war möglich in den Medien, Sexualität auf eine bestimmte Art und Weise zu thematisieren. Und nicht ohne Grund tauchen die Schulmädchenreport-Filme mit einem pseudoratgebermäßigen Erzähler auf. Ganz häufig war das eine Strategie, Sexualität zu verwissenschaftlichen, um darüber reden zu können."
Sprecherin: Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es pornografische Bilder in Kunst und auch Ratgeberliteratur. Besonders nach der Währungsreform in Deutschland 1948 kursieren unzählige Postkarten mit nackten Frauen und kopulierenden Paaren. Sie werden unter der Ladentheke an fast jedem Kiosk gehandelt. Und dann tritt Oswalt Kolle auf:
O-Ton: Kolle
"Ich habe einer menschenfeindlichen, heuchlerischen, verlogenen Sexualität abschwören wollen, und ein neues Bild von einer zärtlichen, sanften, aber auch manchmal sehr wilden, schönen Sexualität, die wollte ich versuchen, den Menschen nahe zu bringen."
Sprecher: Der Sohn eines Psychiaters, geboren 1928, ist Journalist und Feuilletonchef einer Boulevardzeitung. Später schreibt er "Aufklärungsserien" in den Illustrierten "Quick" und "Neue Revue", dann kommen seine Bücher und Filme. Etwa die Streifen "Dein Mann", – sowie "Deine Frau, das unbekannte Wesen".
O-Ton: Kolle
"Das Vorspiel ist außerordentlich wichtig für die Steigerung des Geschlechtsverlangens, besonders für die Frau, deren Erregungskurve sanfter ansteigt als die des Mannes."
Sprecher: Millionen rennen in die Kinos – um sich anschließend zu empören:
O-Ton: Bürger
"Der verdirbt die ganze Jugend. Das ist kein Film, das ist ein Schweinehund, ist das."
Sprecher: Aber gerade die Jugend lechzt nach Sexualaufklärung: Die Zeitschrift "Bravo", gegründet 1956, findet reißenden Absatz. Besonders als im Oktober 1969 die Rubrik "Dr. Sommer" dazukommt, in den folgenden Jahrzehnten von bestimmt 60 Prozent der 10-18jährigen gelesen. Wichtig: die klare Sprache und Offenheit für alle Fragen: "Kriegt man vom Küssen Kinder?" - "Ist der nächtliche Samenerguss krankhaft?" - "Warum habe ich noch keine Schamhaare?"
O-Ton: Beljan
"Der "Bravo" wurde auch häufig vorgeworfen, dass sie zu dieser Pornografisierung beigetragen hätte, und gleichzeitig ist die Bravo für eine ganze Generation an heute Erwachsenen ein sehr wichtiges Aufklärungsmedium gewesen. Das sind Auflagenzahlen, die kann man sich heute nicht vorstellen. Und dass man über die Bravo Wissen über den Körper und über die Sexualität zugänglich gemacht hat, die über andere Wege einfach nicht zugänglich waren für Kinder und Jugendliche."
Musik, Donna Summer: "love to love you baby"
Sprecherin: Aber es ist nicht zu leugnen, dass seit den 60er Jahren auch eine kommerzielle Sexwelle rollt, zunächst in den USA:
Sprecher: In einigen New Yorker Clubs gibt es Männer-Stripshows, nackte Schlammcatcherinnen und Live-Sex auf der Bühne. Und biedere Vorstädter treffen sich samstags zu Swinger-Partys. Die Schaulust und das Spiel mit sexueller Fantasie befriedigen auch Hochglanz-Magazine wie "Playboy", "Penthouse" oder später der fast pornographische "Hustler".
Sprecherin: In Europa ist Dänemark Vorreiter bei der Entkriminalisierung von Pornografie Ende der 1960er Jahre. Und auch in Deutschland gibt es bald eine boomende Boom Sexindustrie mit Erotik-Shops, Peep-Shows und Pornokinos. In den 80er Jahren schwappt die Welle dann auch ins Wohnzimmer.
Aufklärung und Pornografie
OT: Amendt: "Die Einführung des Privatfernsehens war die Einführung von flächendeckender Pornografie."
Sprecherin: Günter Amendt, bekannt geworden durch Bücher wie "Sex Front", analysierte einige Zeit vor seinem Tod 2011 im Deutschlandradio:
O-Ton: Amendt
"Ausgerechnet diejenigen, die diese sexuelle Liberalisierungswelle in den 60er, 70er Jahren so bekämpft haben, nämlich konservative, klerikale Kreise, haben das Privatfernsehen innoviert, wo tatsächlich heute Dinge im öffentlichen Raum verhandelt werden, von denen ich persönlich glaube, dass sie da nicht hingehören, das ist auf eine ganz groteske Weise zu verantworten von denen, die gegen die Warnung vieler Intellektueller, und zwar nicht nur linker, diese Öffnung vollzogen haben, die jetzt plötzlich fassungslos vor dem sitzen, was ihnen auf dem Bildschirm entgegen schlägt."
Sprecher: Zu erheblichen Teilen kommen die Sex-Sendungen im Privat-TV wieder mit aufklärerischer Attitüde daher, etwa "Eine Chance für die Liebe" von Erika Berger. Nach ein paar Jahren ebbt die Fernseh-Sexwelle ab, es scheint alles gezeigt und gesagt.
Sprecherin: Aber inzwischen sind solche Sendungen wieder da: Auf "Sixx" etwa die Reihe "Paula kommt", in der die Moderatorin mit Gästen über deren Lieblingsstellungen und vieles mehr plaudert. Und sogar im ZDF geht’s zur Sache. 2017 lädt die Sexualtherapeutin Ann-Marlene Henning zur 5. Staffel ihrer Serie ein:
O-Ton: Hennig
"Hallo Ihr Lieben, meine Doku-Reihe "Make love" im öffentlich-rechtlichen Fernsehen fängt wieder an. Ich möchte noch viel mehr sprechen über Liebemachen."
Sprecherin: Und im Internet findet man heute ohnehin alles, was man wissen will – oder auch nicht.
Musik, Miley: "Wrecking Ball"
Sprecher: 2013 kommt der Pop-Song "Wrecking Ball" von Miley Cyrus heraus. Eigentlich handelt er von verzweifelter Liebe. In dem Video dazu sitzt der einstige nette Kinderfilmstar jedoch nackt und lasziv auf einer Abrissbirne.
Sprecherin: Von der "Generation Porno" war in den letzten Jahren viel die Rede, mehrere Bücher etwa behaupten, dass junge Menschen nicht mehr lernen, was Liebe ist. Aber wissenschaftliche Untersuchungen, zuletzt zur "Jugendsexualität 2015", zeigen ein anderes Bild. Das bestätigt auch Petra Winkler, Sexualpädagogin bei "pro familia" in Berlin. Die Jugendlichengibt es schon mal gar nicht:
O-Ton: Winkler
"Wir haben halt hier nicht die von Pornografie beeindruckten jungen Menschen, die nicht mehr wissen, was Liebe ist, oder sagen, sie probieren was aus, nur weil sie es irgendwo gesehen haben. Der größte Teil der Jungen und Mädchen sind sexuell selbstbestimmt, sie sind informiert, auf der anderen Seite auch nicht so früh wie in anderen Generationen, aber sie sind auf jeden Fall sexuell aktiv, und manchmal tun sie mir auch ein wenig leid, dass sie so eine Vielfalt an Input bekommen. Andere Generationen wussten eher, was denn so erlaubt und verboten ist, und welche Praktiken sozusagen "ordentlich" sind und welche nicht so, und (lacht) heutzutage bei den Angeboten müssen die ganz schön individuell für sich den richtigen Weg finden."
Sprecherin: Und das gelingt meist auch, sagt Petra Winkler.
O-Ton: Winkler
"Was sich in den Generationen nicht verändert hat, das ist so, was ich immer romantisches Liebesideal nenne, in einer Beziehung Sexualität haben, ist das wahre Bild der jungen Menschen, was aber nach außen ganz anders gezeichnet wird."
Sprecherin: Sie haben also nicht schon vor der ersten Liebe drastische Pornos im Internet gesehen? Professor Rolf Pohl, Sozialpsychologe aus Hannover, ist da skeptischer.
O-Ton: Pohl
"Aus persönlichen Erfahrungen und Verwandten und Bekannten finde ich das schon krass auch die Beispiele, wenn wir von Mädchen hören, die plötzlich von Mitschülern, mit denen sie jahrelang schon in einer Klasse sitzen, halb ausgezogen werden, das Ganze wird gefilmt, ins Netz gestellt. Oder wenn wir diese so genanten Pornoraps sehen, mit einem ganz, ganz miesen Frauenbild und einer Zurschaustellung des weiblichen Körpers als ein Objekt, die nur Schlampe ist oder eine Hure ist, und welchen Anklang das gefunden hat, dann ist das vielleicht nicht allgemein verbreitet, dass man sagen kann, insgesamt kennzeichnet das eine Generation, aber es gibt diese Anzeichen, die sehr verbreitet sind, und ich glaube, dass es auch diese Schere nach wie vor gibt des Nichtwissens einerseits und andererseits der Überfütterung mit einer ganz problematischen und fragwürdigen Form von Sexualität, nämlich der Pornografie. Das heißt, sie wissen im Prinzip eher, was Analverkehr ist, bevor sie überhaupt das erste Mal einen Kuss ausgetauscht haben."
Sprecherin: Petra Winkler weiß aus ihrer täglichen Arbeit selbstverständlich auch, dass Porno bei Jugendlichen eine Rolle spielt:
O-Ton: Winkler
Sie wissen, womit man provozieren kann, sie testen vielleicht auch, indem sie auf ihren Smartphones Fotos haben, irgendwelche Pornos, das ist schon anders als in anderen Generationen, dass sie viel gehört haben und das auch aussprechen, aber dass die viel zu früh einsteigen und dass sie viel zu viel ausprobieren und Schaden daran nehmen, das ist ja so ein Klischee."
Öffentliches Reden über Sex
Sprecherin: Andreas Ritter, ebenfalls Sexualpädagoge bei "pro familia":
O-Ton: Ritter
"Ein großer Teil der Jungen schaut Pornographie an. Unter dem Aspekt von Lust, oder auch unter dem Aspekt von tatsächlich Sexualaufklärung, ich möchte mal sehen: Wie funktioniert Sexualität."
O-Ton: Winkler
"Wir dürfen die Mädchen da nicht unterschätzen und jungen Frauen, die sind genauso interessiert zu gucken, was es gibt, die gucken das mit ihren Freundinnen zusammen, und entscheiden dann, was sie gut oder nicht gut finden, und sie gucken es auch in der Beziehung, aber es ist etwas, was für sie nicht so eine große Relevanz hat wie für die Jungen."
Sprecherin: Entscheidend ist, ob die Jugendlichen beiderlei Geschlechts noch andere Informationsquellen zur Sexualität haben als nur das Internet, sagt Andreas Ritter.
O-Ton: Ritter
"Sie sehen die Bandbreite des Möglichen, und sortieren für sich, will ich das, und dann gibt es einen Teil von Jugendlichen, der eben sehr wenig Ansprechpartner tatsächlich hat, die allein gelassen sind mit diesem Wissen, dann wird’s problematisch, aber – ich sag mal – das sind genau die Jugendlichen, die auch, wenn es um Videospiele geht, auffällig werden und andere Sachen."
Sprecherin: Pornokonsum kann wie überhaupt Internetnutzung bis zur Sucht führen. Das ist aber eher ein soziales Problem, sagt Petra Winkler.
O-Ton: Winkler
"Man darf jetzt nicht sagen, alles ist irgendwie harmlos, weil die mediale Überflutung da ist, ich würde sagen, wir müssen uns kümmern oder gucken auf die jungen Menschen, die damit allein gelassen sind."
Sprecherin: Gerade deswegen ist Sexualaufklärung so wichtig. Auch im Internet findet man sie selbstverständlich:
O-Ton: Junge Frau, Youtube:
"Hier kommen sieben Fakten über die schönste Nebensache der Welt – Sex. Oder auch vögeln, pimpern, schnakseln, begatten, beischlafen, koitieren, kopulieren."
Sprecherin: Und seit langem kümmern sich Organisationen wie "pro familia" darum. Öffentliches Reden über Sex ist eine Errungenschaft der "Sexuellen Revolution", sagt Andreas Ritter.
O-Ton: Ritter
"Das große Thema war, Sexualität besprechbar zu machen. Das ist tatsächlich eine Auswirkung der sexuellen Revolution, im Zusammentreffen mit der AIDS-Krise, dass man gemerkt hat, man muss irgendwas machen, und es ist gut, Jugendliche zu haben, die informiert sind und selbstbestimmt sind."
Sprecherin: Dennoch haben Jugendliche immer noch ganz elementare Fragen:
O-Ton: Ritter
"Bei aller Offenheit geht’s drum: "Mensch, jetzt bin ich verliebt und ich weiß eigentlich gar nicht, was soll ich jetzt sagen? Oder: wir müssen über Verhütung sprechen und mir ist es total peinlich. Oder wie krieg ich denn überhaupt raus, was findet denn mein Freund, meine Freundin gut? Da sind wir weiß Gott noch nicht am Ende."
Sprecherin: Aber gerade um die Sexualaufklärung wird heute heftig gestritten, sie gilt konservativen Kreisen als Teil der "Pornografisierung" und knüpft an die Gegenbewegung zur "sexuellen Revolution" an. Die gab es praktisch schon zeitgleich beginnend in den USA Ende der 70er Jahre, von ganz rechts, aber auch aus Teilen der Frauenbewegung als "No-Porn"-Forderung.
Musik, Miley Cyrus
Sprecherin: Zugleich wurde diskutiert, ob Pädophilie und sexuelle Kindes-Misshandlungen Folge der sexuellen Revolution seien. Vor allem als Ende der 90er Jahren eine Lawine losbricht und – zunächst in Amerika und Irland – zehntausende Fälle von Kindesmissbrauch in kirchlichen Einrichtungen bekannt werden, gibt es krude Entschuldigungsstrategien. So sagt der später abberufene Augsburger Bischof Mixa 2010 in einem Zeitungsinterview:
Zitat: "Die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig."
Sprecherin: Als wenig später auch aus reformpädagogischen Internaten sexueller Missbrauch bekannt wird, schreibt Thomas Schmid in der "Welt":
Zitat: "Die Kinder haben sich ihrer Peiniger nie erwehrt. Die deutsche Untertanentradition existiert offenbar weiter, die sexuelle Revolution hat vielleicht nie stattgefunden."
Aids und Homosexualität
Musik, Bronski Beat: "Small town boy"
Sprecherin: Wenn über die Folgen der so genannten sexuellen Revolution gestritten wird, heißt es oft, sie sei nicht für die gesamte Gesellschaft, sondern eher für einzelne Gruppen wie Homosexuelle wichtig gewesen.
O-Ton: Wowereit
"Wer’s noch nicht gewusst hat: Ich bin schwul."
Sprecher: Was schon in den 1920er Jahren der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld begonnen hat, bekommt Mitte 60er Jahre stärkeren Auftrieb: Langsam wird die Kriminalisierung und Pathologisierung Homosexueller abgebaut. Zwischen 1950 und 1965 hatte es immer noch 45.000 Verurteilungen gegeben. In der breiten Bevölkerung herrscht allerdings weiter Diskriminierung, auch bei Politikern. So pöbelt etwa Franz Josef Strauss noch 1971: "Ich will lieber ein kalter Krieger sein als ein warmer Bruder."
O-Ton: Rosenbrock
"Es gab auch in der Studentenbewegung noch reichlich Schwulen-Diskriminierung, und nur ein dünner Strom von Schriften und Aktivisten, die sich tatsächlich diesem Thema gewidmet haben."
Sprecherin: Sagt der Sozialwissenschaftler Professor Rolf Rosenbrock, Autor zahlreicher Bücher über AIDS. Aber einer stetig wachsenden Schwulenbewegung gelingt es, die Liebe unter Gleichgeschlechtlichen stärker in die Öffentlichkeit zu rücken: Große Aufmerksamkeit findet Rosa von Praunheims Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt". Einschlägige Buchhandlungen und Schwulencafés werden eröffnet.
O-Ton: Rosenbrock
"In dem Maße, wie Homosexualität enttabuisiert wurde, sanken auch insgesamt die Hemmschwellen für befreitere Sexualität unter Heterosexuellen, und insoweit hat der Kampf um die Befreiung der Homosexualität in den 70er Jahren die in den 60er Jahren begonnene Befreiung der heterosexuellen Sexualität nach vorne gebracht und in den 70er Jahren weiter beschleunigt und verstärkt."
Sprecherin: Mindestens genauso wichtig wie die sexuelle Revolution wird für die Stärkung der Schwulenbewegung aber die Auseinandersetzung um Aids:
O-Ton: Rosenbrock
"AIDS war ja insgesamt eine existenzielle Bedrohung für Homosexualität und die Homosexuellen, und diese erst mal Bedrohung durch die Krankheit wurde dann ja verstärkt durch Kräfte wie Gauweiler, den "Spiegel" und auch Teile der katholischen Kirche zunächst, und das ergab ein Feindbild, an dem sich auch eine Bewegung entzünden konnte, und das auch mit sehr großem Erfolg."
Sprecherin: Ein wesentlicher Antrieb war tatsächlich, sich gegen bestimmte Politiker und Medien zur Wehr zu setzen. Das unterstreicht auch Dr. Magdalena Beljan vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung:
O-Ton: Beljan
"Medien haben da eine große Rolle gespielt, schwule Männer als verantwortungslos darzustellen, und Schwulen wurde da ganz, ganz stark die Verantwortung für die Verbreitung von HIV und AIDS gegeben. Und tatsächlich gehörten sie zu der ersten Opfergruppe, aber natürlich macht es einen Unterschied, zu sagen: Schwule Männer sind die ersten Opfer oder: Schwule Männer sind selber schuld daran, weil sie mit ihrem Sexualverhalten, was überSprecherin: tzt dargestellt wird, einfach es provoziert hätten."
Sprecherin: Die Forderungen einiger Politiker und Ärzte nach Isolation, ja Internierung von Menschen mit HIV finden zum Glück kein Gehör. Der befürchtete Zivilisationsbruch durch rigide politische Reaktion auf Aids bleibt aus. Dafür wird die Krankheit vielerorts jetzt als Zäsur in der sexuellen Liberalisierungsbewegung gesehen:
Sprecher: "Sex in the 80's – The Revolution is over", titelt zum Beispiel das "Time Magazine".
Sprecherin: Also tatsächlich ein Ende der sexuellen Befreiung?
O-Ton: Beljan
"Ich glaube nicht, dass Aids per se eine Zäsur darstellt."
Sprecherin: Findet Magdalena Beljan.
O-Ton: Beljan
"Aids ist ein wichtiges Ereignis in den 80er Jahren und betrifft eine sehr, sehr große Gruppe an Menschen und betrifft auch, wie über bestimmte Dinge geredet worden ist. Und trotzdem würde ich davor zurückscheuen, das zu generalisieren, dass es für uns alle eine große Relevanz gehabt hat."
Sprecherin: Was es aber schon partiell gibt: In den 80er Jahren wenden sich Viele von der freien "ungezügelten" Sexualität ab, setzen zum Teil auf Enthaltsamkeit oder wenigstens Disziplin beim Sex, etwa mit Kondomen. Darum, also nicht um Toleranz, ging es vor allem, als zum Beispiel Ronald Reagan 1987 öffentlich erklärte:
O-Ton: Reagan
"I don’t want Americans … all of us.”
Zitat: Ich möchte nicht, dass die Amerikaner denken, Aids betrifft nur bestimmte Gruppen. Aids geht uns alle an!
Sprecherin: Auch in Deutschland steht seit den 1980ern die "vernünftige Sexualität" im Zentrum von Aufklärungskampagnen: Jeder wie er mag, aber bitte mit Kondom. Letztlich ist dabei auch die Toleranz gegenüber Homosexuellen gewachsen. Inzwischen gibt es zwar Anzeichen dafür, dass diese wieder zurück geht. Dennoch, sagt der schwul lebende Sozialwissenschaftler Rolf Rosenbrock, jedenfalls bezogen auf liberale Gesellschaften:
O-Ton: Rosenbrock "Ich glaube nicht, dass es ein Roll-Back gibt. In Deutschland leben wir mit einem Bevölkerungsanteil, je nach Messmethode zwischen zehn und 30 Prozent, die mit Schwulen nix anfangen können und denen es lieber wäre, es gäbe sie gar nicht. Aber ich glaube, dass die Akzeptanz von Homosexualität in der Öffentlichkeit und auch in der Bevölkerung sich weiter positiv entwickelt, und sehe ja auch, wie viele Menschen heute in der Öffentlichkeit aus ihrer Homosexualität kein Hehl daraus machen und auch kein Hehl machen müssen."
Wenn das Politische privat wird
O-Ton: Wowereit
"Ich bin schwul – und das ist auch gut so."
Musik: Salt-N-Pepa, "Let’s talk about Sex, baby"
O-Ton: Becker
"Dem öffentlichen Dauersprech, dem Geplapper über Sexualität entSprecherin: cht oft eine Sprachlosigkeit im Privaten, in der privaten Beziehung."
Sprecherin: Sagte die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker in einem Vortrag. Gesprochen wird tatsächlich viel über Sex seit Ende der 60er Jahre. Der "zerredete Orgasmus" gilt manchen als eine Folge der sexuellen Revolution. Überhaupt ist im 20. Jahrhundert eine Psychologisierung des Alltags zu beobachten, nahezu alle gesellschaftlichen und individuellen Konflikte werden therapeutisch "bearbeitet". Der Sozialpsychologe Rolf Pohl:
O-Ton: Pohl
"Das war ein Abschied von Arbeit an den Veränderungen von gesellschaftlichen Grundlagen, die überhaupt erst auch zur Unterdrückung von Sexualität geführt haben, und an die Stelle ist dann so eine Art psychologische Befreiungsideologie getreten, also eigentlich ein Abschied davon, sich wirklich mit den Grundlagen und den Strukturen des Systems, der Gesellschaft auseinander zu setzen."
Sprecherin: Das Private ist nicht mehr politisch, sondern das Politische wird jetzt privat.
Sprecher: In unzähligen Beziehungsgesprächen oder auch angeleiteten Gruppentherapien geht es seit den 70er Jahren nun nicht mehr darum, überhaupt Sex haben zu dürfen, nein, es muss "guter Sex" sein. Im Hinterkopf immer die Laborstudien der amerikanischen Sexualwissenschaftler Masters und Johnson.
O-Ton: Pohl
"Was für eine fast fetischartige Faszination von diesen Orgasmuskurven ausgegangen ist und wie die breit diskutiert worden sind: Wie krieg ich das nun endlich hin, dass das funktioniert erstens und zweitens, wie krieg ich es hin, dass das mit dem Partner oder Partnerin genauso funktioniert, damit wir endlich vertraut dem Reich der Freiheit entgegentaumeln im beiderseitigen Einverständnis und Orgasmus. Das sind neue Illusionen, die da erzeugt worden sind."
Sprecherin: Besonders wenn Frauen nach befriedigender Sexualität suchen in diesen Jahren, gibt es Probleme. Sie seien "zu anspruchsvoll geworden", heißt es. Oder: Der Feminismus entmanne die Männer. Rolf Pohl hat sich bis vor kurzem an der Uni Hannover mit der "Krise der Männlichkeit" befasst:
O-Ton: Pohl
"Es schafft natürlich so etwas wie einen Leistungsdruck, dem nicht jeder ohne weiteres gewachsen ist. Und das ist auch das Nichtrevolutionäre, dass die Grundlagen des Geschlechterverhältnisses nicht verändert worden sind grundlegend. Heißt für den einzelnen Mann, dass auf ihm ein Druck lastet, sich immer als das wichtigere Geschlecht zu setzen. Denn nirgends ist der Mann anfälliger oder schwächer als auf dem Feld der Sexualität. Durch Weiblichkeit immer in Frage gestellt, muss er seinen Mann stehen."
Musik, James Brown, "Sex Machine"
Sprecherin: … aber das Rettende scheint nah:
O-Ton: Pohl
"Es entsteht eine ganze Reihe von medikamentösen Techniken, wo Apparate, Ejakulationspumpen und InjektionsSprecherin: tzen und solche Dinge erfunden werden, später dann eben Viagra, um dieses Ziel zu erreichen."
Sprecher: Als Viagra und andere Potenzmittel auf den Markt kommen, sprechen manche schon von einer zweiten sexuellen Revolution – weil sie Männer von ihren Ängsten und Paare von der Krise im Schlafzimmer "befreien".
O-Ton: Schmidt
"Na, das hab ich immer für eine verwegene These gehalten: alte und impotente Männer sozusagen als Speerspitze einer Revolution."
Sprecherin: ... sagt Professor Gunter Schmidt, ehemals Leiter des Hamburger Instituts für Sexualforschung, jetzt als Psychotherapeut tätig.
O-Ton: Schmidt
"Das ist illusionistisch und das ist auch falsch.Sexuelles Glück und sexuelle Abwechslung, ein intensives sexuelles Erlebnis nun verkürzt auf den steifen Penis zurückzuführen, das ist ja nun nur ein Element in dem ganzen Ensemble, das wir als Sexualität oder sexuelle Begegnung bezeichnen."
Sprecherin: Doch die Medikalisierung ist nicht mehr aufzuhalten, weil Sexualität mehr und mehr in das Leistungsdenken eingepasst wird, konstatierte Sophinette Becker 2016 bei einem Vortrag in Hannover.
O-Ton: Becker
"Jeder soll sich bis zur depressiven Erschöpfung selbst verwirklichen, er selbst sein. Vom Verbot zum Gebot, zum Beispiel zur Vervollkommnung des sexuellen Körpers, Fitness als letztlich nie erreichbares Ziel, sexuelle Genussfähigkeit als Pflicht, best performance in allem."
Sexualität im Alter
Sprecherin: ... und die Tendenz zur Medikalisierung schlägt sich naturgemäß beim Thema "Sexualität im Alter" besonders nieder.
Musik, Beatles, "When I’m 64"
Sprecherin: Immerhin ist es seit einigen Jahren nicht mehr so stark tabuisiert.
O-Ton: Erna und Willi
Willi: "Also ich will da nicht drauf verzichten, und Erna glücklicherweise auch nicht // Erna: Vieles ist nach wie vor ja möglich."
Sprecherin: "Ü 70 – Deutschlands älteste Youtuber": Erna und Willi, beide grauhaarig, sitzen auf ihrem roten Sofa vor einer immensen Bücherwand und sprechen jeden Sonntag über alles. Zum Beispiel über Sex im Alter.
O-Ton: Erna und Willi
Erna: "Nach der Ansicht vieler Psychoanalytiker ist Sex ein weites Feld. Und das heißt nicht nur der genitale Geschlechtsakt, sondern es gibt viele Möglichkeiten."
Sprecher: Bis in die 60er Jahre wird Sex im Alter entweder verschwiegen oder pathologisiert, sogar kriminalisiert. Die "Wiederkehr des sexuellen Verlangens" bei Männern in späten Jahren gilt als Zeichen einer Demenzkrankheit. Oder alte Menschen werden als Opfer von jungen Betrügern und Betrügerinnen angesehen, die das Verlangen noch mal "anheizen" und die verwirrten Alten dann "ausnehmen".
Sprecherin: Nur langsam beginnt eine Normalisierung. Aber nicht in der Breite, erzählt Dr. Wolfgang Kramer. Er hat in Berlin lange ein Seniorenheim geleitet und ist jetzt Dozent für Geronto-Sozialtherapie.
O-Ton: Kramer
"Ich würde aus diesem Erfahrungshintergrund klar sagen, dass die Mehrheit der heute alten Menschen, da werden diese Bedürfnisse nicht offen artikuliert in der Regel, gleichwohl gibt’s immer wieder einzelne, die dazu stehen und die das auch ein stückweit einfordern. Und da war, auch jetzt gerade beim Pflegepersonal eine relativ große Hilflosigkeit."
Sprecherin: Noch schwieriger als in der häuslichen Umgebung ist es für Menschen im Altersheim, überhaupt Beziehungen zu knüpfen, oft gibt es dort kaum Privatsphäre. Doch manchmal kommt es eben doch vor.
O-Ton: Kramer
"Der Senior war so 85 etwa und die Bewohnerin Ende 70, und ich hab mich auch immer dafür eingesetzt, dass man diese Begegnungsmöglichkeiten schafft. Weil das ja etwas ist, was nicht nur den beiden Senioren zu Gute kommt, sondern ja auch für die Pflege wichtig wäre, weil dadurch der Pflegeaufwand vielleicht weniger wird. Weil sich diese Menschen wohlfühlen, weil es ihnen gut tut und sie lebenszufriedener sind als ohne diese Liebe, der Austausch von Zärtlichkeiten, die Berührungen, das sind ja Dinge, die sind gerade für alte Menschen wichtig, ne."
Sprecherin: Einige Altersheime sehen das ein und haben nichts gegen zärtliche Beziehungen ihrer Bewohner. Inzwischen gibt es sogar eine "Sexualassistenz", wenn auch noch selten und selbstverständlich nicht auf Kosten der Kranken- oder Pflegekasse. Der Gerontotherapeut Wolfgang Kramer sieht das als durchaus sinnvoll an.
O-Ton: Kramer
"Einfach dort, wo sexuelle Bedürfnisse da sind bei alten Menschen, da würde ich sehr stark dafür plädieren, dass man die Möglichkeiten in Anspruch nimmt, die wir haben, und es gibt ja dafür eine kleine Hilfe, nämlich Sexualassistentinnen, die eben nicht zu vergleichen sind mit Prostituierten, da geht’s nicht einfach nur um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse direkt, es ist halt so, dass im Alter die Bedürfnisse sich ein stückweit ja auch verändern."
Sprecherin: Überhaupt könnte sich demnächst einiges tun, glaubt Wolfgang Kramer. Denn die "Sexualrevolutionäre" aus den 1960er-Jahren werden langsam älter.
O-Ton: Kramer
"Noch ist es ja die Generation, die diese Studentenbewegung zwar miterlebt hat, aber nicht mit getragen hat, die Sexualität eher verdrängt hat, bei denen ist die Befreiung noch nicht so in gleichem Maße angekommen. Das ist zu erwarten, dass die dann alten Menschen, die vielleicht dann auch ins Seniorenheim einziehen, ihre sexuellen Bedürfnisse sicherlich auch dort leben möchten."
Sprecherin: … und bis dahin plaudern Erna und Willi für ihre – übrigens meist jungen – Fans auf Youtube über Sex im Alter:
O-Ton: Erna und Willi
Erna: "Ist so ein bisschen, wie wenn die jungen Leute anfangen, überhaupt Sexualität auszuprobieren, so ist es auch im Alter: man muss ausprobieren. Und wer nichts probiert.” Willi: "verliert.”
Musik, Zappa: "Sex"
"Makes no difference if you're young or old – Sex. Don't you act like it's made of gold – Sex.”
Sprecherin: 50 Jahre sind vergangen seit der angeblichen oder tatsächlichen sexuellen Revolution – die Bilanz ist unterschiedlich. Die Sexualwissenschaftlerin und Therapeutin Sophinette Becker:
O-Ton: Becker
"Insgesamt bedeutete die positive Mystifizierung der Sexualität in den 60er-Jahren immer Überfrachtung der Sexualität mit Erwartungen – die irgendwann enttäuscht werden musste."
Herbert Marcuse: Mit Sex vom politischen Kampf ablenken
Sprecherin: Politisch war die sogenannte Revolution kaum erfolgreich. Eher war das Gegenteil der Fall, meinte beispielsweise der linke Philosoph Herbert Marcuse.
Zitat: "Diese Revolution ist vom Kapitalismus gefördert worden, um vom politischen Kampf abzulenken und die täglichen Lasten und Sorgen in einer an Konkurrenz orientierten und höchst ungerechten Gesellschaft noch erträglich zu machen."
Sprecherin: Jedenfalls gab es weniger große gesellschaftliche Umwälzungen als behauptet, sagt die Historikern Dr. Magdalena Beljan.
O-Ton: Beljan
"Sicherlich hat sich sehr viel verändert, aber es ist immer noch so, dass Frauen den meisten Anteil an der "Sorgearbeit" zum Beispiel übernehmen. Oder wenn man sich anschaut, was die Homosexualitätsgeschichte anbelangt. Natürlich sind wir viel weiter als noch in den 60er und 50er Jahren, aber nichtsdestotrotz gibt es immer noch Diskussionen darüber, ob Schwule und Lesben tatsächlich vollwertige Eltern sein können."
Sprecherin: Der Sozialwissenschaftler Professor Rolf Rosenbrock wägt die Vor- und Nachteile der "sexuellen Revolution" ab und kommt insgesamt zu einem guten Fazit:
O-Ton: Rosenbrock
"Sicherlich positiv ist, dass Sexualität freier gelebt wird, positiv ist, dass die Vielfalt von Sexualität viel mehr anerkannt wird und nicht mehr als Teufelswerk angesehen wird, negativ ist zu sehen, dass viele Menschen die Sexualität in einer Weise überhöhen, die letztlich nicht zur Befriedigung führt, sondern eher zur Vereinsamung führt, und negativ ist sicherlich auch zu sehen, die Kommerzialisierung von Sexualität, positiv ist zu sehen, dass auch andere Tabuthemen wie Gewalt in der Ehe thematisiert werden konnten, so dass aus meiner Sicht die positiven Faktoren ganz klar die wenigen negativen Wirkungen überwiegen."
Sprecherin: Etwas skeptischer wiederum der Doyen der Sexualwissenschaften in der Nachkriegszeit, der Frankfurter Professor Volkmar Sigusch in seinem Buch: "Neosexualitäten":
Zitat: "Es gibt jetzt eine sexuelle und geschlechtliche Buntscheckigkeit, von der frühere Generationen geträumt haben mögen. Aber mit der Kommerzialisierung und dem Zwang zur Vielfalt ist eine generelle Banalisierung des Sexuellen verbunden. Sexualität ist kulturell etwas weitgehend Selbstverständliches geworden wie Mobilität oder Urbanität. Man/frau tut es oder tut es eben nicht – selbstdiszipliniert und selbstoptimiert."
Sprecherin: Manche klagen, als Folge der ständigen Beschäftigung mit Sex sei inzwischen Lustlosigkeit die sexuelle Störung Nummer eins. Mitunter ist sogar vom "postsexuellen Zeitalter" die Rede. Magdalena Beljan kann dieser Behauptung nichts abgewinnen:
O-Ton: Beljan
"Diese These ist eigentlich schon relativ alt. Die wurde vor allen Dingen in den 80er Jahren, als dann Aids aufkam, noch mal sehr, sehr wichtig, weil dann gesagt wurde: Diese sexuelle Revolution, die hat jetzt dazu geführt, dass wir eigentlich genug haben davon. Und ich glaube, das sind so gesellschaftliche Großthesen, die aber tatsächlich relativ wenig über das tatsächliche Sexualverhalten von Leuten aussagen. Und ich glaube, wenn man mitbekommt, wie über Sexualität heutzutage gesprochen wird, nämlich, dass Sexualität auch noch bis ins hohe Alter sehr erfüllend sein soll und dass asexuell zu sein eher problematisiert wird, dann kann man nicht diese These unterschreiben, dass Sexualität unwichtig geworden ist."
Erika Jong: "Lernen, uns vor unseren Sehnsüchten nicht zu fürchten"
Sprecherin: Genauso sieht es auch die amerikanische Autorin Erika Jong, die 1973 mit dem Bestseller "Angst vorm Fliegen" einen Klassiker der weiblichen erotischen Literatur schuf.
Zitat: "Wir sind alle paarfixiert wie die Gänse und promisk wie die Zwergschimpansen. Dazwischen gibt es alle Schattierungen von Keuschheit und Sinnlichkeit. Wir müssen nur lernen, uns vor unseren Sehnsüchten nicht zu fürchten."
Autoren: Andrea und Justin Westhoff
Sprecher: Nicole Kleine und Helmut Gauß
Ton: Sonja Rebel
Regie: Justin Westhoff