Diese Geschichte beginnt mit einer Enttäuschung. Günter Grass und seine Frau Ute werden Ende der 1980er-Jahre in die DDR eingeladen. Anlass ist Grass’ 1986 erschienener Roman „Die Rättin“, aus dem er in mehreren ostdeutschen Städten lesen soll. Im Naumburger Dom besichtigt das Ehepaar die berühmt gewordenen zwölf Stifterfiguren, ein Ensemble mächtiger Personen, die um das Jahr 1000 nach Christus gelebt haben. Als sie endlich vor den steinernen Bildnissen stehen, fällt Ihnen auf, dass die hier dargestellten Figuren viel kleiner als erwartet sind.
“Getäuscht hatten uns bis dahin vertraute Fotografien, die uns Konrad und Gepa, Hermann und die lächelnde Reglindis, den Grübler Timo und den cholerischen Sizzo, Gerburg und Wilhelm, besonders aber den Markgrafen Ekkehard seitlich der sattsam bekannten Uta als monumentale Steinbilder eingeprägt hatten.“
Die hier angesprochene Uta von Naumburg ist Anlass wie Mittelpunkt der gerade veröffentlichten Erzählung „Figurenstehen“, ein Fundstück aus dem Nachlass des Nobelpreisträgers. Die steingewordene Uta erscheint seit jeher mitteilsam und plastisch, als sei sie gerade eben im Westchor des Doms angekommen. Ihr, aber auch den anderen Stifterfiguren, wird nachgesagt, sie seien von natürlichem Ausdruck, wie aus dem Leben gegriffen. In die Figur der Uta wurde über die Jahrhunderte allerlei hineingedeutet. Walt Disney nahm sie als Vorlage für die böse Königin in „Schneewittchen und die 7 Zwerge“. In der Nazizeit wurde Utas angeblich nordische Erscheinung geradezu abgöttisch verklärt. Eben daran erinnert sich Grass, der Meister des weiten Assoziationsraums, als er kurz vor der Wende die Figur zum ersten Mal sieht.
Ute und Uta - eine Ähnlichkeit mit Folgen
„Meine Frau, die während der Besichtigung der Stifterfiguren nichts sagte, heißt Ute und wurde geboren, als der Kult um Uta von Naumburg und den Bamberger Reiter seinen Höhepunkt erreicht hatte; Mitte der dreißiger Jahre wurden viele Mädchen auf den Vornamen Uta oder Ute getauft. Natürlich fiel mir, als ich vor der Frau mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen stand, nicht ein, Uta mit meiner Ute zu vergleichen, sind doch beide einzig in ihrer Art, doch besetzte mich schon damals, als wir während einer Lesereise den Abstecher nach Naumburg machten, eine folgenreiche Spekulation.“
Diese folgenreiche Spekulation wiederholt ein Motiv, das Grass bereits 1979 erprobt hat. Schon in seiner Erzählung „Das Treffen in Telgte“ wurden historische Figuren zu Tisch gebeten, barocke Zeitgenossen wie Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Andreas Gryphius und Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Zu Tisch meint eigentlich: zum Text. Bei Grass, dem leidenschaftlichen Kulinariker, werden Herd und Schreibtisch seit jeher gegeneinander ausgetauscht. Zu Tisch lädt er verschiedene Figuren ein, die ihm auf der DDR-Lesereise begegnen. Den Anfang macht Tilly, kaiserlicher General der päpstlichen Partei während des Dreißigjährigen Krieges. Ihm wird ein Schwarzsauer serviert, das Grass aus Schweineblut und gehackten Nieren anrührt. Beim imaginären Essen klopft der Schriftsteller seine Figur auf ihre literarische Tauglichkeit ab. Tilly fällt durch. Er bekommt sein Essen und darf wieder verschwinden. Ganz anders entwickelt sich das Schicksal Uta von Naumburgs, die wenig später zusammen mit den übrigen Dom-Skulpturen zum Gastmahl eingeladen wird. Es gibt Thüringer Bratwürste, Fischstäbchen und Kirschsuppe mit Mehlklößchen.
„Auf Papier ist vieles möglich. Nicht jeder kam. Ich hatte im Freien vor der Werkstatt und zwischen noch ungestalteten Steinblöcken getischt: Schüsseln, Teller, Becher, Löffel, Messer und, der Zeit vorauseilend, zweizinkige Gabeln, über die sich die junge Frau eines Fleischhauers, die in Stein gemeißelt später Reglindis hieß, halb schiefgelacht hat und die dann doch als erste die heißen Pellkartoffeln mit der Gabel spießte.“
Schmale Ober-, fleischige Unterlippe
Diese phantastische Episode erstreckt sich über viereinhalb Seiten. Mit ihr könnte „Figurenstehen“ als heitere Gespenstergeschichte ans Ende gelangt sein. Tatsächlich markiert diese Soirée erst den Anfang einer beinahe 20 Jahre währenden Figurenfindung. Immer häufiger steigt Uta von ihrem Sockel und taucht unvermutet im Alltag des Schriftstellers auf. Nachdem die Berliner Mauer „und mit ihr alles gefallen war, was trennte“, reist Grass nach Köln. Hier, vorm Hauptportal eines weiteren, viel berühmteren Doms steht, wie es der Zufall will, Uta von Naumburg erneut vor ihm, genauer „jenes junge Mädchen mit schmaler Ober- und fleischiger Unterlippe, das einst dem Naumburger Meister Modell gesessen hatte.“
Die Kölner Künstlerin ahmt regungslos die mittelalterliche Uta-Skulptur nach. Vor ihr steht ein kleines Blechschüsselchen, in dem D-Mark, holländische Gulden, auch eine Fünfdollarnote liegen. Offenbar lebt sie vom Figurenstehen. Wie das Original trägt sie am linken Zeigefinger einen Ring, der täuschend ähnlich dem steingehauenen Schmuck nachempfunden ist. Schlicht fallen die Falten ihres fußlangen Mantels. Grass ist ob dieser Epiphanie elektrisiert.
„Es kostete mich einige Überwindung, doch dann warf ich ein Zweimarkstück in die Schüssel, trat näher, noch näher, ganz dicht an sie heran und flüsterte zu ihr hoch, als wollte ich sie an das von mir ausgerichtete Essen mit Gästen erinnern: ‚Hallo Uta. Ich bin Ihr Gastgeber von dazumal. Wie wär’s mit ner kleinen Pause und ner eisgekühlten Coca Cola, drüben bei der Getränkebude ...’ Nichts rührte sich. Nicht mal ein abschlägiges ‚Zieh Leine, Alter!’ oder ‚Verpiß dich!’ bekam ich zu hören.“
Deutlich wird spätestens hier, dass Grass’ kleine, autofiktionalisierte Geschichte ein poetischer Werkstattbericht ist. Er zeigt, wie Figuren in der Vorstellung eines Schriftstellers entstehen, immer mal wieder wie aus dem Nichts auftauchen, wie ihnen mit der Zeit mehr und mehr Leben eingehaucht wird. In „Figurenstehen“ wird die Kölner Künstlerin von einem zwielichtigen Mann sekundiert, der, so scheint es, drohend erwartet, dass ausreichend Geld im Blechschüsselchen landet. Die ausgestellte Brutalität dieses Mannes erregt Grass’ Mitleid. Heimlich und immer häufiger denkt er an seine Uta-Figur.
Sexuelle Ausbeutung im Mittelalter
„Selbst meiner Frau gegenüber verlor ich kein geständiges Wort. Was hätte ich auch gestehen sollen? Etwa ein langjähriges Verhältnis zu einer jungen Frau, die sich von Berufs wegen versteinert gab, wenn ich sie sah, über mich hinweg blickte, und die, selbst wenn ich den leichtfertigen Mut zu einer Verführung gehabt, sie angesprochen, sie regelrecht angemacht hätte, mir nie gefolgt wäre, weil sie einem anderen verfallen war, den zu hassen ich mir nur in trüben Stunden erlaubte?“
Während einer italienischen Tagung ist der Schriftsteller abgelenkt. Er sieht Utas „Macker und Zuhälter“ vor sich, wie die Figurensteherin vom ihm ausgebeutet, sexuell genötigt, mit einem Lederriemen geschlagen wird. In Italien drängt sich auch noch Ekkehard auf, der historische Ehemann Utas, der sich in Grass’ Phantasie ebenfalls grob gegenüber seiner Frau verhält.
“So peinigend war ich von der gedoppelten Not meiner Uta besetzt, daß ich mich unvermittelt mit einem Zwischenruf in den Zwist der Literaten und Historiker stürzte: ‚Nichts wissen wir von den Zwängen des Mittelalters! Weit weg, hier in Palermo, saß der Kaiser und kümmerte sich um nichts. Zum Beispiel um den Fall der armen Uta von Naumburg, die von ihrem Mann, dem brutalen Markgrafen Ekkehard, sexuell ausgebeutet wurde.’“
Sofort protestieren einige der Tagungsteilnehmer. Ein deutscher Mediävist unterstellt Grass unterschwelligen Faschismus. Er möchte sich diese ahistorischen Spekulationen nicht mehr anhören und wiederholt so Platons antikes Diktum, Dichter seien amoralische Zeitgenossen, sie würden lügen, ein falsches Bild der Wirklichkeit zeichnen.
„Nur ein italienischer Romancier, der dem gern finster genannten Mittelalter einen erfolgreich verfilmten Roman abgewonnen hatte, verteidigte mein beschleunigtes Hinundher auf der Zeitschiene, indem er mit sarkastischen Anspielungen auf die gegenwärtige politische Lage in Nord- und Süditalien nachwies, wie finster mittelalterlich die Zustände hier und dort seien.“
Unverkennbar ist dieser italienische Mediävist Umberto Eco, Autor des Weltbestsellers „Der Name der Rose“, selbst ein Bewunderer Uta von Naumburgs. Auf die Frage, mit welcher Figur der Kunstgeschichte er gern zu Abend essen würde, hat sich Eco einst die Gesellschaft Utas gewünscht, die seiner Ansicht nach schönste Frau des Mittelalters. Am Ende wird nicht Umberto Eco, sondern Grass ein Essen mit seinem heimlichen Schwarm einnehmen – und sie danach endlich in Literatur verwandeln. „Figurenstehen“ entstand 2003 im „Vogterhus“, einem Ferienhaus auf der dänischen Insel Møn. Bereits zwei Jahre vor diesem Schreibprozess, am 13. Oktober 2001, hat Grass eine Lithographie mit Figuren gezeichnet, von denen die Legende zum Teil erzählt. Auch sie sind im nun erscheinenden Nachlassband abgedruckt. Viel erfährt man über die Art und Weise, wie einer der herausgehobenen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gearbeitet hat. „Figurenstehen“ vermittelt sich ohne Kenntnis der übrigen Grass-Werke. Es ist keine Beischrift, sondern ein für sich stehender, sehr einnehmender, lustvoll komponierter Text, dessen späte Veröffentlichung aus dem Nachlass schlichtweg sensationell erscheint.
Günter Grass: "Figurenstehen"
Steidl Verlag, Göttingen. 80 Seiten, 18 Euro.
Heinrich Detering, Lisa Kunze, Katrin Wellnitz (Hg.): „Günter Grass als Buchkünstler“
Steidl Verlag, Göttingen. 336 Seiten, 34 Euro.
Steidl Verlag, Göttingen. 80 Seiten, 18 Euro.
Heinrich Detering, Lisa Kunze, Katrin Wellnitz (Hg.): „Günter Grass als Buchkünstler“
Steidl Verlag, Göttingen. 336 Seiten, 34 Euro.