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Die Legende vom guten Soldaten

Im von der Wehrmacht besetzten Serbien - so besagt es eine oft erzählte Geschichte - soll der deutsche Soldat Josef Schulz von seinen Kameraden erschossen worden sein. Grund: Er weigerte sich, Partisanen zu töten. Der Journalist Michael Martens ist der Geschichte auf den Grund gegangen.

Von Dirk Auer |
    Es war ein grauer Oktobertag, als Michael Martens bei einem Aufenthalt in der serbischen Provinzstadt Kragujevac glaubte, einer brisanten Geschichte auf die Spur gekommen zu sein. Das Interview mit dem Direktor des örtlichen Museums war beendet, da fragte ihn dieser, ob er nicht auch das Denkmal des deutschen Soldaten sehen wollte – des Soldaten, der nicht töten wollte und deshalb selbst erschossen wurde.

    "Ein Fall von seltenem Reporterglück. Hier in der serbischen Provinz hatte das Leben eines Mannes geendet, dessen einsam naive Todesverachtung aus irgendeinem Grund unbekannt geblieben war. Nun würde man auch ihn und seine heroische Geste in die Galerie jener Deutschen aufnehmen müssen, die sich gegen Hitler auflehnten."

    "Ich habe zu recherchieren begonnen und habe bereits nach kurzer Zeit festgestellt, dass ich hier auf eine faszinierende und zugleich ziemlich verästelte Geschichte gestoßen war, die ziemlich viele Spuren in der deutschen und jugoslawischen Geschichte und vor allem in deutschen und jugoslawischen Archiven hinterlassen hatte. Und als dann nach einer Weile der Recherchen wirklich feststand, dass dies nicht nur eine interessante, sondern auch eine paradigmatische Begebenheit war, eine Begebenheit, die uns etwas erzählt darüber, wie das entsteht, was wir Geschichte, Historie nennen - da habe ich mich dann entschlossen, diese Begebenheit als Buch festzuhalten, weil sie es mir wert zu sein schien."

    Herausgekommen ist eine packende Dokumentation, die allein schon durch die Hartnäckigkeit und Ausdauer fasziniert, mit der sich der Autor durchs Geschichtsdickicht wühlt. Martens ist durch halb Europa gereist, hat ehemalige Botschafter, Politiker und Künstler aufgesucht, sich in Archiven vergraben und ist jedem noch so vagen Hinweis auf mögliche Zeugen nachgegangen. Dabei stellt sich schnell heraus: So unbekannt war der Soldat Josef Schulz gar nicht. Jahrzehntelang geisterte er immer wieder durch deutsche und jugoslawische Medien, hatte Behörden und Politiker beschäftigt.

    Doch überall lauern falsche Fährten, werden Nebelkerzen geworfen – von nachlässig recherchierenden Journalisten, zweifelhaften Augenzeugen bis hin zu einem SPD-Hinterbänkler, der sich mit seinen vorgeblichen Recherchen einmal wichtig machen wollte. Der Fall beschäftigte schließlich sogar die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Und dort findet Martens schließlich seinen eigentlichen Helden: den Staatsanwalt Kurt Hinrichsen.

    "Er war ein deutscher Beamter mit allen Tugenden, die man deutschen Beamten in der Regel zuschreibt: Er war gewissenhaft, fleißig, akribisch und auf eine trockene und unaufgeregte Weise in diesem Fall wahrheitssuchend. Und genau das hat mich eingenommen für ihn. Er war ein kritischer Geist, unbeeindruckt von all der Aufregung um den guten deutschen Soldaten. Er wollte einfach nur wissen, was wirklich geschehen war. Und er hat auf diese Weise viel mehr herausgefunden als viele andere, die sich mit dem Fall beschäftigt haben."

    Das Ergebnis der jahrelangen Recherche des Staatsanwalts: Der Gefreite Josef Schulz war bereits einen Tag vor seiner angeblichen Heldentat bei einem normalen Gefecht ums Leben gekommen. Schon in den 70er-Jahren war also klar: Die Heldentat ist ein Mythos, die Legende vom guten Soldaten sollte sich damit eigentlich erledigt haben. Doch der Geist von Josef Schulz, so zeigt Martens, hatte längst ein Eigenleben entwickelt: Weiterhin berichteten in zyklischen Abständen die Medien, in Jugoslawien wurde Josef Schulz zum Schulstoff, seine Geschichte verfilmt und Anfang der 80er-Jahre wurde ein Gedenkstein eingeweiht – unter Teilnahme des deutschen Botschafters. Weil Tatsachen und Fakten nicht ankamen gegen eine Geschichte, die zu tröstlich klang, um unwahr zu sein.

    "Ich glaube, das hatte und hat damit zu tun, dass auch Kriege und Massaker erzählt sein wollen. Das gilt ja selbst für die Vernichtung der Juden im Dritten Reich. Erzählbar wird das, weil es Primo Levi, Oskar Schindler, Anne Frank und andere gab, die darüber geschrieben haben. Wenn man sagt bei einem Massaker in der Stadt X seien an dem Tag Y des Jahres Z 2300 Menschen erschossen worden, dann sind das wirklich nur Daten und Zahlen. Sobald man aber sagt, dass es damals einen Soldaten gegeben hat, der nicht mitmachen wollte, der sich dem Morden verweigert hat - dann wird eine Geschichte daraus. Und gerade das Schreckliche kann leichter bewältigt werden, wenn es im Gewand einer Geschichte daherkommt, zumal es ja das Leid der Opfer nicht schmälert, wenn selbst unter den Tätern ein Gerechter war, der sich dem Wahnsinn verweigerte – wie hier im Fall Schulz."

    Auch – oder gerade – weil der gesuchte Held bis zum Schluss unauffindbar bleibt: Das Buch "Heldensuche" ist eine spannende Nacherzählung der, so Martens, "Karriere eines wundersamen Irrtums". Es ist auch eine Geschichte über den vermeintlichen Nebenkriegsschauplatz Balkan, der im deutschen Bewusstsein bis heute nur eine untergeordnete Rolle spielt. Aber es ist vor allem ein Lehrstück, wie Geschichte gemacht wird, wie ein attraktiver Mythos mitunter die Wahrheit überdauert. Mit Verallgemeinerungen hält sich Martens dennoch zurück. Tatsächlich erscheinen die Menschen, die er trifft, nie als bloße Informanten, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut, die - manchmal arglos und unwissentlich, manchmal berechnend - an der Legende des Josef Schulz mitstrickten. Der Bericht erhält dadurch oftmals literarische Qualität, was die Lektüre nie langweilig werden lässt. Und wenn es am Ende doch ein Fazit geben sollte, dann wäre dies vor allem ein sympathischer Aufruf zur Skepsis.

    "Ich bin alles andere als ein Verschwörungstheoretiker, aber mir scheint eben, dass die Dinge oftmals viel komplizierter liegen als wir sie fassen können in der Kürze der Zeit und in der Kürze eines Zeitungsartikels. Insofern ruft das Buch auch dazu auf, jeden Zeitungsartikel, auch meine eigenen natürlich, jede Nachricht, jede Meldung mit einer gewissen Skepsis aufzunehmen. Es gibt diesen schönen Ausdruck von Günther Grass: 'Meine Lieblingsblume ist die ganzjährig blühende graue Skepsis. Und das ist wirklich eine wichtige Blume.'"

    Michael Martens: "Heldensuche. Die Geschichte des Soldaten, der nicht töten wollte." Paul Zsolnay Verlag, 400 Seiten, Euro 24,90, ISBN: 978-3-552-05531-5