Was für ein seltsam vertrautes Milieu! Wir fühlen uns - als Erwachsene - zurückversetzt in die Tage der ersten Schulzeit. Und gleichzeitig ist der kleine Held, dem wir dort - im September des Jahres 1970 - begegnen auch ein Kind, das heute leben könnte und von Kindern heute verstanden wird. Mit seinen Nöten, mit seiner Einsamkeit und Angst und mit seiner Fantasie, die den manchmal ganz schön tristen Alltag bunter macht.
"Es ist der erste Schultag. Vor dem Klassenzimmer warten wir auf die Lehrerin. - Da kommt sie! - Mist ... Wieso habe ich so eine hässliche Lehrerin? Und nett sieht sie auch nicht gerade aus."
Der Ich-Erzähler Jean, sieben Jahre alt, ist der Held einer Graphic Novel des französischen Comiczeichners Émile Bravo. Bravo hat bereits 2008 mit dem "Porträt eines Helden als junger Tor" ein preisgekröntes "Spirou und Fantasio"-Album vorgelegt und veröffentlichte nun, zusammen mit dem Autor Jean Regnaud, eine poetische und ebenso preiswürdige Comicerzählung über das Leben eines Jungen, dem niemand die Wahrheit über seine seit Langem verschwundene Mutter sagt. Sie starb, als Jean noch ein Kleinkind war. Der Junge kann sich nur ganz verschwommen an sie erinnern und glaubt, sie sei auf Reisen. Und nun steht er am ersten Schultag vor dem Klassenzimmer, einsam und allein in einer Schar schnatternder Dreikäsehochs.
"Die Lehrerin sagt, wir sollen uns in Zweierreihen aufstellen. Alle anderen nehmen einen Freund bei der Hand ... Ich bleibe allein. Ich kenne niemanden, weil ich in einer anderen Gegend in den Kindergarten gegangen bin."
Am liebsten würde er wegrennen, als die gestrenge alte Lehrerin jedem die Frage nach dem Beruf von Vater und Mutter stellt.
"Ich bin ganz rot und ich kriege kaum noch Luft, so heiß ist mir. Was soll ich bloß über meine Mama sagen? Es dröhnt in meinen Ohren und mir pochen die Schläfen. Jetzt ist schon mein Nachbar dran!"
Und so entweicht ihm, als er aufgerufen wird, nur ein blitzartiges:
"Ichheißejean-meinpapaistchefund-meinemamasekreträrin."
Das war's. Jean versinkt nicht in der Erde und das Leben geht weiter. Und wir werden in 14 Kapiteln und einem Epilog Beobachter der Ereignisse des Alltags, die Jean in den nächsten vier Monaten zu durchstehen hat: In der Familie mit dem sorgenfaltigen Vater, dem kampfeslustigen kleinen Bruder, dem über alles geliebten Hausmädchen Yvette, mit Besuchen bei Opa und Oma ...
"Aber es gibt noch Schlimmeres als den harten Salat, den Park und den Gestank von Opas Füßen. Das sind Omas Freundinnen. Wir treffen sie überall: auf der Straße, im Geschäft, im Sandkasten. Sie sind alt und sie pieksen, wenn man ihnen einen Kuss geben muss. Sie wuscheln uns durchs Haar und schauen uns traurig an, so als wären wir krank."
In der Schule muss Jean mit der Lehrerin ins Reine kommen, mit dem Schulpsychologen und mit den Klassenkameraden. Und nicht zuletzt erwartet ihn in der Nachbarschaft die zwei Jahre ältere Michèle. Diese freche Göre setzt dem Jungen am meisten zu, ohne dass er es zunächst ahnt.
"Manchmal will sie Frisör spielen. Ich bürste ihr die Haare und sie erzählt mir ihre Mädchengeschichten. Ich mag das nicht so besonders. Ich spiele lieber Indianer."
Eines Tages lügt Michèle Jean vor, sie erhalte Botschaften seiner Mutter, die sie ihm - streng geheim natürlich - vorlesen soll. Auf einer dieser Ansichtskarten findet sich etwas, das das Herz des kleinen Häuptlings höherschlagen lässt. Aber wir können davon ausgehen, dass die schöne Illusion nicht allzu lange währt.
Lieber Jean
Mir geht es gut. Heute bin ich in San Francisco. Die americkaner sind sehr nett. Sie fahren große Autors und kauen Kaugumi. Heute morgen habe ich beim einkaufen einen Indianer getrofen. Er hies Wolkenhund und hat mir geholfen den Einkaufs Wagen zu schiben. Aber er ist wegerannt als wir einen Mann mit Kauboihut gesehen haben. Heute abend sehe ich Buffalo Bill beim Rodeo zu. Ganz liebe Grüße
Deine dich liebende Mama
Émile Bravos Affinität zur frankobelgischen Comictradition ist in jedem Bildwinkel der Geschichte zu spüren. Seine Illustrationen passen kongenial zu den knappen, dennoch berührenden Sätzen und lassen die enge Atmosphäre im kleinbürgerlichen Milieu der französischen Provinz lebendig werden.
"Außerdem ist meine Oma längst nicht so nett wie Yvette. Nachmittags geht sie mit uns in den Park. Da ist es ganz düster und feucht. Es riecht nach Kacka und Katzenpipi. Uns ist so langweilig, dass die Zeit nicht vergehen will."
Die Kulissen sind im Stil der Ligne Claire gezeichnet. Die Figuren könnten einem Comic von Hergé entsprungen sein, wenn auch ihre Konturen noch stärker Charakterkarikaturen gleichen als die Vorbilder Tim, Kapitän Haddock & Co. Sieht man von den eingestreuten Intermezzi ab - die meist als kleinformatige Bildreihen erscheinen -, wechselt die Illustration zwischen traditionell gerahmten Comiczeichnungen und ganzseitigen Bildern auf farbigem Untergrund, in die kleinere Szenen und der Erzähltext eingearbeitet sind.
Jeder Blick auf eine Seite erscheint uns so wie der privilegierte Einblick in das Universum eines Kindes - aus leicht erhöhter Perspektive. Das bestärkt das Gefühl, wir hätten schon im Augenblick des Geschehens mehr Überblick über das Leben als der einsame kleine Held vor uns. Gleichzeitig kann es für ältere Leser auch eine Zeitreise in die Epoche der eigenen Kindheit sein. Vor allem in die Welt der schmerzhaften Entdeckung von Wahrheiten, die unter einer Decke aus Konformität und Wohlanständigkeit verborgen lagen. Aber unabhängig von möglicher Wehmut, mit der Erwachsene die Geschichte betrachten können: Jungen Lesern des Jahres 2009 bleiben die Seelennöte des Kindes aus dem Jahr 1970 bestimmt nicht fremd.
"Wenn ich nachts wach werde, sitzt eine Hexe neben meinem Bett. Sie beobachtet mich, und wenn ich mich rühre, tötet sie mich. Darum bewege ich nicht mal eine Wimper. Ich versuche, nicht zu atmen, damit sie mich nicht hört. Ich bleibe so, ganz reglos. - Wenn ich morgens die Augen öffne, ist sie weg."
Jean Regnaud, Émile Bravo:
Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen!
Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Graphic Novel im Carlsen Verlag, Hamburg 2009, 120 Seiten, 17,90 Euro
ab 10
"Es ist der erste Schultag. Vor dem Klassenzimmer warten wir auf die Lehrerin. - Da kommt sie! - Mist ... Wieso habe ich so eine hässliche Lehrerin? Und nett sieht sie auch nicht gerade aus."
Der Ich-Erzähler Jean, sieben Jahre alt, ist der Held einer Graphic Novel des französischen Comiczeichners Émile Bravo. Bravo hat bereits 2008 mit dem "Porträt eines Helden als junger Tor" ein preisgekröntes "Spirou und Fantasio"-Album vorgelegt und veröffentlichte nun, zusammen mit dem Autor Jean Regnaud, eine poetische und ebenso preiswürdige Comicerzählung über das Leben eines Jungen, dem niemand die Wahrheit über seine seit Langem verschwundene Mutter sagt. Sie starb, als Jean noch ein Kleinkind war. Der Junge kann sich nur ganz verschwommen an sie erinnern und glaubt, sie sei auf Reisen. Und nun steht er am ersten Schultag vor dem Klassenzimmer, einsam und allein in einer Schar schnatternder Dreikäsehochs.
"Die Lehrerin sagt, wir sollen uns in Zweierreihen aufstellen. Alle anderen nehmen einen Freund bei der Hand ... Ich bleibe allein. Ich kenne niemanden, weil ich in einer anderen Gegend in den Kindergarten gegangen bin."
Am liebsten würde er wegrennen, als die gestrenge alte Lehrerin jedem die Frage nach dem Beruf von Vater und Mutter stellt.
"Ich bin ganz rot und ich kriege kaum noch Luft, so heiß ist mir. Was soll ich bloß über meine Mama sagen? Es dröhnt in meinen Ohren und mir pochen die Schläfen. Jetzt ist schon mein Nachbar dran!"
Und so entweicht ihm, als er aufgerufen wird, nur ein blitzartiges:
"Ichheißejean-meinpapaistchefund-meinemamasekreträrin."
Das war's. Jean versinkt nicht in der Erde und das Leben geht weiter. Und wir werden in 14 Kapiteln und einem Epilog Beobachter der Ereignisse des Alltags, die Jean in den nächsten vier Monaten zu durchstehen hat: In der Familie mit dem sorgenfaltigen Vater, dem kampfeslustigen kleinen Bruder, dem über alles geliebten Hausmädchen Yvette, mit Besuchen bei Opa und Oma ...
"Aber es gibt noch Schlimmeres als den harten Salat, den Park und den Gestank von Opas Füßen. Das sind Omas Freundinnen. Wir treffen sie überall: auf der Straße, im Geschäft, im Sandkasten. Sie sind alt und sie pieksen, wenn man ihnen einen Kuss geben muss. Sie wuscheln uns durchs Haar und schauen uns traurig an, so als wären wir krank."
In der Schule muss Jean mit der Lehrerin ins Reine kommen, mit dem Schulpsychologen und mit den Klassenkameraden. Und nicht zuletzt erwartet ihn in der Nachbarschaft die zwei Jahre ältere Michèle. Diese freche Göre setzt dem Jungen am meisten zu, ohne dass er es zunächst ahnt.
"Manchmal will sie Frisör spielen. Ich bürste ihr die Haare und sie erzählt mir ihre Mädchengeschichten. Ich mag das nicht so besonders. Ich spiele lieber Indianer."
Eines Tages lügt Michèle Jean vor, sie erhalte Botschaften seiner Mutter, die sie ihm - streng geheim natürlich - vorlesen soll. Auf einer dieser Ansichtskarten findet sich etwas, das das Herz des kleinen Häuptlings höherschlagen lässt. Aber wir können davon ausgehen, dass die schöne Illusion nicht allzu lange währt.
Lieber Jean
Mir geht es gut. Heute bin ich in San Francisco. Die americkaner sind sehr nett. Sie fahren große Autors und kauen Kaugumi. Heute morgen habe ich beim einkaufen einen Indianer getrofen. Er hies Wolkenhund und hat mir geholfen den Einkaufs Wagen zu schiben. Aber er ist wegerannt als wir einen Mann mit Kauboihut gesehen haben. Heute abend sehe ich Buffalo Bill beim Rodeo zu. Ganz liebe Grüße
Deine dich liebende Mama
Émile Bravos Affinität zur frankobelgischen Comictradition ist in jedem Bildwinkel der Geschichte zu spüren. Seine Illustrationen passen kongenial zu den knappen, dennoch berührenden Sätzen und lassen die enge Atmosphäre im kleinbürgerlichen Milieu der französischen Provinz lebendig werden.
"Außerdem ist meine Oma längst nicht so nett wie Yvette. Nachmittags geht sie mit uns in den Park. Da ist es ganz düster und feucht. Es riecht nach Kacka und Katzenpipi. Uns ist so langweilig, dass die Zeit nicht vergehen will."
Die Kulissen sind im Stil der Ligne Claire gezeichnet. Die Figuren könnten einem Comic von Hergé entsprungen sein, wenn auch ihre Konturen noch stärker Charakterkarikaturen gleichen als die Vorbilder Tim, Kapitän Haddock & Co. Sieht man von den eingestreuten Intermezzi ab - die meist als kleinformatige Bildreihen erscheinen -, wechselt die Illustration zwischen traditionell gerahmten Comiczeichnungen und ganzseitigen Bildern auf farbigem Untergrund, in die kleinere Szenen und der Erzähltext eingearbeitet sind.
Jeder Blick auf eine Seite erscheint uns so wie der privilegierte Einblick in das Universum eines Kindes - aus leicht erhöhter Perspektive. Das bestärkt das Gefühl, wir hätten schon im Augenblick des Geschehens mehr Überblick über das Leben als der einsame kleine Held vor uns. Gleichzeitig kann es für ältere Leser auch eine Zeitreise in die Epoche der eigenen Kindheit sein. Vor allem in die Welt der schmerzhaften Entdeckung von Wahrheiten, die unter einer Decke aus Konformität und Wohlanständigkeit verborgen lagen. Aber unabhängig von möglicher Wehmut, mit der Erwachsene die Geschichte betrachten können: Jungen Lesern des Jahres 2009 bleiben die Seelennöte des Kindes aus dem Jahr 1970 bestimmt nicht fremd.
"Wenn ich nachts wach werde, sitzt eine Hexe neben meinem Bett. Sie beobachtet mich, und wenn ich mich rühre, tötet sie mich. Darum bewege ich nicht mal eine Wimper. Ich versuche, nicht zu atmen, damit sie mich nicht hört. Ich bleibe so, ganz reglos. - Wenn ich morgens die Augen öffne, ist sie weg."
Jean Regnaud, Émile Bravo:
Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen!
Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Graphic Novel im Carlsen Verlag, Hamburg 2009, 120 Seiten, 17,90 Euro
ab 10