Reinhard Kaiser-Mühleckers neuer Roman "Roter Flieder" beginnt mit einer Vertreibung. Vater und Tochter verschnüren notdürftig einen Teil ihres Hab und Guts auf einem Pferdewagen, verlassen den angestammten Ort, einen Hof im Innviertel, ziehen im Schutz der Nacht davon und nehmen das Vergangene, die Erinnerungen an die tote Frau und Mutter als schweres Gepäck mit sich.
"Die ganze Fahrt über hatte sie lautlos geweint. Hinten in dem Wagen, zwischen scheppernden Töpfen und rumpelnden Möbelstücken sitzend, hatte sie ihre Welt verschwinden sehen; die Hügel samt allem, was sie gekannt hatte, kennengelernt in 21 langen Jahren, verschwanden in der Ferne. Sie fuhren, langsamer als Schritttempo, über ihre verebbenden Reste. Es war diese zähe Langsamkeit, die dem Verschwinden eine Endgültigkeit verlieh. Einzig der Flieder, der eines Morgens plötzlich und um Wochen zu früh aufgeblüht am Wegrand stand und alles in seiner Umgebung lilafarben machte, konnte sie ein wenig trösten."
Man wird mit solchen starken, ein feines Gespür für Bewegungen und Räume, für die Figuren und ihre Innenleben verratenden Szenen sofort in einen imposanten Roman hineingezogen, einen Roman, der behutsam, lautlos und gleichmäßig durch ein halbes Jahrhundert rollt. Reinhard Kaiser-Mühlecker:
"Das Anfangsbild war dieser Wagen, der da daherkommt. Ich wusste noch gar nicht genau, was der eigentlich bringt, warum der da unterwegs ist. Aber dieser langsam sich dahinschleppende Wagen, das war mein Anfangsbild. Und dann muss ich immer so lange warten, bis das ganz intensiv wird. Das heißt gar nicht, dass ich dann mehr wissen musste darüber, aber so beginnt das dann."
Was dann beginnt, ist die leise Tragödie einer Familie, die sich über mehrere Generationen erstreckt, erzählt vom Rand der Geschichte, aus einem Winkel, von dem aus nicht das große Panorama aufgerissen wird, aber doch im Kleinen alle Dramen des menschlichen Seins entfaltet werden. Es ist eine epische Erzählung von Schuld und Sühne, von Aberglaube und Duldsamkeit – und vom Rhythmus der Zeit. Der Auftakt ist das Bild des Wagens, der dem Ungewissen entgegenfährt, auf dem der alte Goldberger und seine Tochter Martha wegziehen oder besser flüchten in eine andere Gegend rund um den schon aus einem früheren Buch von Reinhard Kaiser-Mühlecker bekannten Magdalenaberg. Es ist eine Voralpenlandschaft, agrarisch geprägt, kleinteilig. Diese Umgebung spielt eine Hauptrolle in dem Roman. Immer wieder entwirft Kaiser-Mühlecker weniger Landschaftsbilder als vielmehr Landschaftsstimmungen. Er lässt wie nebenbei die Jahreszeiten zwischen den Absätzen und Kapiteln wechseln, die Natur ihre Farben und die Welt, ohne dass man es zunächst gleich merkt, ihre angestammte Ordnung. Hier in dieser Region kommen seine Figuren an und müssen, vertrieben und ihres Erbes beraubt, neu beginnen.
"Es gibt ja viele Paradiese, von denen man sich verabschieden muss. Ob es vielleicht die Kindheit ist oder ob es Menschen sind oder Bekanntschaften. Das ist wahrscheinlich die Lektion: Dass nix bleibt."
Dass nichts bleibt und doch alles immer weiter geht, lässt sich bei Kaiser-Mühlecker erspüren – in der Art und Weise, wie er erzählt. Wovon er erzählt, ist das langsame Verstummen von Menschen, die sich noch in einem Traditionszusammenhang begreifen als dieser sich schon aufzulösen beginnt. Goldberger hat, wir ahnen es zunächst nur, Schuld auf sich geladen. Er war ein Nazi, aber geredet wird darüber nicht. Als sein Sohn Ferdinand aus dem Krieg zurückkehrt, überschreibt er ihm den neuen Hof – zwischen dem Alten und dem Jungen herrscht gleichsam weiterhin ein Krieg, der still ausgefochten wird, mit Blicken und Gesten, die auf eine schier unüberwindliche Fremdheit verweisen. Es sind große Schweiger und Verschweiger, die Reinhard Kaiser-Mühlecker mit einer atemberaubenden Eindringlichkeit zu Wort kommen lässt. Wir blicken in sie hinein wie in ein offenes Buch. Aber einander bleiben sie verschlossen. Das Ganze spielt in einer dörflichen Welt, die durchaus auch eine feindselige ist: Als Ferdinand Maschinen kauft und die anderen Bauern ihm den Erfolg neiden, wird die Familie erst einmal geschnitten. Man darf nicht anders sein, man darf nichts anders machen. Und man sollte nicht auffallen – das ist das ungeschriebene Gesetz. Diese Heimat muss man sich erobern. Und es braucht Zeit, um in ihr heimisch zu werden. Kaiser-Mühlecker dringt auch in die älteren Zeitschichten, die Nachkriegsjahre, die 60er-Jahre nicht als Historiker, sondern als Empathiker: Er versteht die Zeit aus den Menschen heraus, hat, selbst aufgewachsen und lebend in diesem Landstrich, die Erzählungen und die Stimmen im Ohr. Und er begreift selbst noch ihre Verkümmerung und Sprachlosigkeit als Ausdruck eines tief eingelagerten Glaubens an ein unhinterfragtes Weiter, das als Schicksal begriffen wird. Ferdinand heiratet, eine Tochter und zwei Söhne werden geboren. Und die letzteren beiden sind wie biblische Figuren in eine archaische Konkurrenzsituation versetzt: Der eine, Thomas, soll als Thronfolger den Hof übernehmen; der andere, Paul, wird aufs Internat geschickt – eine Entfremdung und ein Bruch in der Kontinuität, der Folgen haben wird. Reinhard Kaiser-Mühlecker lässt dabei all seinen Figuren, so unnahbar sie sein mögen, die gleiche Sympathie zukommen. Oder besser: Gerechtigkeit.
"Mir sind wirklich alle sehr nahe. Ich habe auch dann weniger das Gefühl, dass ich Figuren erfinde, als dass man da vielmehr aus sich selber die Möglichkeiten des eigenen verworrenen Ichs aufzeichnet in verschiedenen Figuren. Dass der Paul eine sehr zentrale Rolle bekommt und der vielleicht durch seine Biografie manche Zerrissenheit haben muss, die sein Bruder vielleicht genauso hätte, der Thomas, wenn er in der Situation wäre. Oder wenn der in das Gymnasium geschickt worden wäre oder der dann und so weiter - dass der eine zentrale Rolle bekam, ist mir so zugestoßen."
Dabei gibt es ja immer wieder Momente, in denen die Figuren sich bewusst werden, in denen sie sich selber auf die Schliche kommen. Paul ist vielleicht die spannendste, vielschichtigste, auch zwiespältigste Figur, weil er herausgerissen wird und dadurch eine größere Distanz erfährt – auf gewisse Weise auch zum Ausgestoßenen wird, ebenfalls ein Vertriebener. Und von Anfang an ist dieses Thema der Vertreibung und auch der Schuld in diesem Buch präsent, es lenkt das Handeln der Figuren, es lässt sie auf eine sehr verworrene Weise an ein göttliches Gelenktsein glauben, sie ergeben sich ihrem Los, und nur manchmal lehnen sie sich auf. Auch die Liebe, die ihnen zuweilen widerfährt, ist so eine Auflehnung, die doch stets in eine Lethargie überzugehen scheint: Kaiser-Mühleckers Helden werden immer wieder von ihrem Alltag demütig gemacht. Die Geschichte dieser Familie scheint mit Thomas, Paul und Maria jedoch an ihr Ende zu kommen – alle drei bleiben, das glauben sie zumindest lange, kinderlos. Und Kinderlosigkeit wird hier in dieser durchaus nach archaischen Mustern funktionierenden Welt begriffen als Fluch, als Strafe für eine Erbsünde.
"Ferdinand legte das Heft weg und nahm wieder die Bibel in die Hand. Jetzt, auf Zahlen konzentriert, fiel ihm sofort die Zeile ins Auge, in der stand: 'die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.' Ferdinand war, als legte ein anderer für ihn die jetzt steinschwere Bibel ganz sanft zurück auf die Werkbank, als setzte ein anderer für ihn die Beine in Bewegung, als fasste ein anderer für ihn die Heugabel an dem eiskalten Eschenstiel, als machte sich ein anderer für ihn daran, die Tiere zu füttern."
Man merkt bald, dass es solchen Glaubens bedarf, solcher Rituale und Traditionen, um die Mühsal gleichmütig ertragen zu können. Der Rhythmus des Lebens wird dadurch, aber auch durch die Natur und die Jahreszeiten vorgegeben. Kaiser-Mühlecker nimmt diesen Rhythmus in seiner Prosa auf, im Schildern von Alltag und in der Wiederholung von Beziehungsmustern über die verschiedenen Generationen hinweg. Man spürt förmlich das langsame Fließen der Zeit. Bis sich dann wieder etwas beschleunigt. Oder man den Eindruck hat, es würde sich etwas beschleunigen, vielleicht weil jemand stirbt.
"Ja, gerade bei Todesfällen habe ich auch selbst erlebt, dass es dann so einen Ruck in der Zeit macht, der alle Beteiligten oder nicht Beteiligten, sondern Übriggebliebenen, ergreift. Und alle spüren dann, dass sich das Rad jetzt ein Stück weiter gedreht hat und dass sie selber einen Schritt näher sind am Ende ihrer Zeit oder vielleicht die nächsten sind oder die übernächsten, zumindest wenn alles natürlich abgeht. Das Vergehen der Zeit war gerade in diesem Buch wichtig für mich darzustellen. Ich wollte ja von Anfang an einen Roman schreiben, der über mehrere Jahrzehnte und auch Generationen sich erstreckt und in der Zeit, aber genauso, wie man einem Fluss zuschaut, doch den ständigen Wandel miterlebt. Und das ändert sich ja auch. Man merkt es, wenn man Leute wiedertrifft, die man länger nicht gesehen hat: Es ändert sich immer was, aber wenn man sie täglich sieht, merkt man es gar nicht so. Und diese schleichenden Veränderungen haben mich interessiert und interessieren mich auch."
Am Ende scheint der Rhythmus sich dann zu ändern, vielleicht gerät sogar etwas aus dem Takt. Die Tektonik des Romans wird durch eine lange, in Bolivien spielende Episode ein wenig ins Wanken gebracht: Paul verschwindet, er lebt in einem kleinen südamerikanischen Nest. Und obwohl es das andere Ende der Welt ist, erinnert ihn diese Provinz immer wieder an Rosental, an seine Herkunft.
"Woran er dachte, war nichts anderes als sonst. Nur bekamen die Bilder nun eine andere Dimension. Das Jahr über blätterte er in seinen Erinnerungen, die gewissermaßen nur noch Partituren waren. Er konnte sie lesen, aber sie klangen nicht. Jetzt, als hätten sie dieses äußeren Impulses bedurft, griffen die Musiker zu ihren Instrumenten."
Es ist dieser einnehmende Ton, der über 600 Seiten fasziniert, ein Buch trägt, das schließlich doch noch einmal eine ganz andere Wendung nimmt und etwas Versöhnliches zumindest aufblitzen lässt. Ein Ton, der von einer schönen Notwendigkeit zeugt: So natürlich wie Atmen erscheint diese Prosa, so rhythmisch und verlässlich ist sie, als müsste wirklich eins aufs andere folgen, ein Wort aufs nächste, als würde ein Satz den anderen bedingen. Zugleich ist das äußerst kunstvoll, schon die Landschaftszeichnungen in ihrer atmosphärischen Genauigkeit und das dichte Motivgeflecht weisen darauf hin, etwa der titelgebende rote Flieder, der den Figuren Heimat bedeutet.
"Für mich symbolisiert er aber noch viel mehr eine gewisse Abweichung vom Ideal. Sagen wir so. Weil rot ist er ja eigentlich nicht. Er hat vielleicht eine Rotfärbung, aber in der Regel gilt er ja als violett oder lila oder fliederfarben. Für mich war es die Abweichung – so wie Literatur für mich als Ganzes eine Art von Abweichung darstellt. Oder die Abweichung darstellt."
Reinhard Kaiser-Mühlecker hat zum ersten Mal keinen Ich-Erzähler sprechen lassen, sondern eine Vogelperspektive eingenommen: Der Roman wird dadurch epischer, die Wahrnehmung sehr viel umfassender, die einzelnen Figuren in ihren Idiosynkrasien und Verletzungen und ihrem Fühlen greifbarer. Der Blick, so könnte man sagen, erfasst mehrere Dimensionen, verändert sich und kann die Richtung wechseln. Überhaupt ist Literatur für Kaiser-Mühlecker per se die Abweichung von etwas schon Vorgesehenem.
"Ja, von dem normalen Blick weicht es ab, denk ich. Sonst müsste man ja auch unter Umständen die Dinge gar nicht beschreiben. Ich kenne das ja auch als Vorwurf, dass man sagt: "immer diese Beschreiberei, ich weiß doch, wie es ausschaut". Aber so ist es ja auch nicht. Ich denke, wenn man das nachzeichnen würde, was ich da beschreibe, dann würde es ein ganz anderes Bild ergeben, als was man von einem Foto zum Beispiel sieht. Oder ich denke an die Malerei. Wenn Maler Landschaften malen, da kommt ja dann auch bei jedem was anderes heraus. Das ist die Abweichung, die ich meine und die einem ja auch im besten Fall an einem anderen Menschen interessiert: dass er eben nicht so ist. Sonst könnte man ja den ganzen Tag vor dem Spiegel stehen."
Man hat zuweilen in der deutschsprachigen Literatur den Eindruck, dass Autoren den ganzen Tag vor dem Spiegel stehen, um auf Podien und in Fernsehstudios einen blendenden Eindruck zu machen. Was ihren Büchern nicht immer wohl bekommt. Ein beachtlicher, ein bisschen aus der Zeit gefallener, an Adalbert Stifter oder auch Hermann Lenz erinnernder Roman wie "Roter Flieder" kann wohl nur am Rande dieses sogenannten Literaturbetriebs mit all seinen Eitelkeiten und Inszenierungen entstehen.
"Ich werde nicht von einem Podium und dann vom anderen eingeladen. Und ich weiß auch nicht, was ich täte, wenn es so wäre. Aber ich glaube, man zieht die Dinge auch irgendwie an oder man stößt sie irgendwo ab. Ich muss auch gar keine Meinung haben, weil ich sehr wenig damit zu tun habe. Bin heilfroh, dass ich sehr viel Zeit zum Arbeiten habe und ungestört das tun kann und auch unbeeinflusst in einem guten Sinn."
Buchinfos:
Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Roter Flieder", Hoffmann und Campe, Hamburg 2012, 619 Seiten, Preis: 24,99 Euro.
"Die ganze Fahrt über hatte sie lautlos geweint. Hinten in dem Wagen, zwischen scheppernden Töpfen und rumpelnden Möbelstücken sitzend, hatte sie ihre Welt verschwinden sehen; die Hügel samt allem, was sie gekannt hatte, kennengelernt in 21 langen Jahren, verschwanden in der Ferne. Sie fuhren, langsamer als Schritttempo, über ihre verebbenden Reste. Es war diese zähe Langsamkeit, die dem Verschwinden eine Endgültigkeit verlieh. Einzig der Flieder, der eines Morgens plötzlich und um Wochen zu früh aufgeblüht am Wegrand stand und alles in seiner Umgebung lilafarben machte, konnte sie ein wenig trösten."
Man wird mit solchen starken, ein feines Gespür für Bewegungen und Räume, für die Figuren und ihre Innenleben verratenden Szenen sofort in einen imposanten Roman hineingezogen, einen Roman, der behutsam, lautlos und gleichmäßig durch ein halbes Jahrhundert rollt. Reinhard Kaiser-Mühlecker:
"Das Anfangsbild war dieser Wagen, der da daherkommt. Ich wusste noch gar nicht genau, was der eigentlich bringt, warum der da unterwegs ist. Aber dieser langsam sich dahinschleppende Wagen, das war mein Anfangsbild. Und dann muss ich immer so lange warten, bis das ganz intensiv wird. Das heißt gar nicht, dass ich dann mehr wissen musste darüber, aber so beginnt das dann."
Was dann beginnt, ist die leise Tragödie einer Familie, die sich über mehrere Generationen erstreckt, erzählt vom Rand der Geschichte, aus einem Winkel, von dem aus nicht das große Panorama aufgerissen wird, aber doch im Kleinen alle Dramen des menschlichen Seins entfaltet werden. Es ist eine epische Erzählung von Schuld und Sühne, von Aberglaube und Duldsamkeit – und vom Rhythmus der Zeit. Der Auftakt ist das Bild des Wagens, der dem Ungewissen entgegenfährt, auf dem der alte Goldberger und seine Tochter Martha wegziehen oder besser flüchten in eine andere Gegend rund um den schon aus einem früheren Buch von Reinhard Kaiser-Mühlecker bekannten Magdalenaberg. Es ist eine Voralpenlandschaft, agrarisch geprägt, kleinteilig. Diese Umgebung spielt eine Hauptrolle in dem Roman. Immer wieder entwirft Kaiser-Mühlecker weniger Landschaftsbilder als vielmehr Landschaftsstimmungen. Er lässt wie nebenbei die Jahreszeiten zwischen den Absätzen und Kapiteln wechseln, die Natur ihre Farben und die Welt, ohne dass man es zunächst gleich merkt, ihre angestammte Ordnung. Hier in dieser Region kommen seine Figuren an und müssen, vertrieben und ihres Erbes beraubt, neu beginnen.
"Es gibt ja viele Paradiese, von denen man sich verabschieden muss. Ob es vielleicht die Kindheit ist oder ob es Menschen sind oder Bekanntschaften. Das ist wahrscheinlich die Lektion: Dass nix bleibt."
Dass nichts bleibt und doch alles immer weiter geht, lässt sich bei Kaiser-Mühlecker erspüren – in der Art und Weise, wie er erzählt. Wovon er erzählt, ist das langsame Verstummen von Menschen, die sich noch in einem Traditionszusammenhang begreifen als dieser sich schon aufzulösen beginnt. Goldberger hat, wir ahnen es zunächst nur, Schuld auf sich geladen. Er war ein Nazi, aber geredet wird darüber nicht. Als sein Sohn Ferdinand aus dem Krieg zurückkehrt, überschreibt er ihm den neuen Hof – zwischen dem Alten und dem Jungen herrscht gleichsam weiterhin ein Krieg, der still ausgefochten wird, mit Blicken und Gesten, die auf eine schier unüberwindliche Fremdheit verweisen. Es sind große Schweiger und Verschweiger, die Reinhard Kaiser-Mühlecker mit einer atemberaubenden Eindringlichkeit zu Wort kommen lässt. Wir blicken in sie hinein wie in ein offenes Buch. Aber einander bleiben sie verschlossen. Das Ganze spielt in einer dörflichen Welt, die durchaus auch eine feindselige ist: Als Ferdinand Maschinen kauft und die anderen Bauern ihm den Erfolg neiden, wird die Familie erst einmal geschnitten. Man darf nicht anders sein, man darf nichts anders machen. Und man sollte nicht auffallen – das ist das ungeschriebene Gesetz. Diese Heimat muss man sich erobern. Und es braucht Zeit, um in ihr heimisch zu werden. Kaiser-Mühlecker dringt auch in die älteren Zeitschichten, die Nachkriegsjahre, die 60er-Jahre nicht als Historiker, sondern als Empathiker: Er versteht die Zeit aus den Menschen heraus, hat, selbst aufgewachsen und lebend in diesem Landstrich, die Erzählungen und die Stimmen im Ohr. Und er begreift selbst noch ihre Verkümmerung und Sprachlosigkeit als Ausdruck eines tief eingelagerten Glaubens an ein unhinterfragtes Weiter, das als Schicksal begriffen wird. Ferdinand heiratet, eine Tochter und zwei Söhne werden geboren. Und die letzteren beiden sind wie biblische Figuren in eine archaische Konkurrenzsituation versetzt: Der eine, Thomas, soll als Thronfolger den Hof übernehmen; der andere, Paul, wird aufs Internat geschickt – eine Entfremdung und ein Bruch in der Kontinuität, der Folgen haben wird. Reinhard Kaiser-Mühlecker lässt dabei all seinen Figuren, so unnahbar sie sein mögen, die gleiche Sympathie zukommen. Oder besser: Gerechtigkeit.
"Mir sind wirklich alle sehr nahe. Ich habe auch dann weniger das Gefühl, dass ich Figuren erfinde, als dass man da vielmehr aus sich selber die Möglichkeiten des eigenen verworrenen Ichs aufzeichnet in verschiedenen Figuren. Dass der Paul eine sehr zentrale Rolle bekommt und der vielleicht durch seine Biografie manche Zerrissenheit haben muss, die sein Bruder vielleicht genauso hätte, der Thomas, wenn er in der Situation wäre. Oder wenn der in das Gymnasium geschickt worden wäre oder der dann und so weiter - dass der eine zentrale Rolle bekam, ist mir so zugestoßen."
Dabei gibt es ja immer wieder Momente, in denen die Figuren sich bewusst werden, in denen sie sich selber auf die Schliche kommen. Paul ist vielleicht die spannendste, vielschichtigste, auch zwiespältigste Figur, weil er herausgerissen wird und dadurch eine größere Distanz erfährt – auf gewisse Weise auch zum Ausgestoßenen wird, ebenfalls ein Vertriebener. Und von Anfang an ist dieses Thema der Vertreibung und auch der Schuld in diesem Buch präsent, es lenkt das Handeln der Figuren, es lässt sie auf eine sehr verworrene Weise an ein göttliches Gelenktsein glauben, sie ergeben sich ihrem Los, und nur manchmal lehnen sie sich auf. Auch die Liebe, die ihnen zuweilen widerfährt, ist so eine Auflehnung, die doch stets in eine Lethargie überzugehen scheint: Kaiser-Mühleckers Helden werden immer wieder von ihrem Alltag demütig gemacht. Die Geschichte dieser Familie scheint mit Thomas, Paul und Maria jedoch an ihr Ende zu kommen – alle drei bleiben, das glauben sie zumindest lange, kinderlos. Und Kinderlosigkeit wird hier in dieser durchaus nach archaischen Mustern funktionierenden Welt begriffen als Fluch, als Strafe für eine Erbsünde.
"Ferdinand legte das Heft weg und nahm wieder die Bibel in die Hand. Jetzt, auf Zahlen konzentriert, fiel ihm sofort die Zeile ins Auge, in der stand: 'die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.' Ferdinand war, als legte ein anderer für ihn die jetzt steinschwere Bibel ganz sanft zurück auf die Werkbank, als setzte ein anderer für ihn die Beine in Bewegung, als fasste ein anderer für ihn die Heugabel an dem eiskalten Eschenstiel, als machte sich ein anderer für ihn daran, die Tiere zu füttern."
Man merkt bald, dass es solchen Glaubens bedarf, solcher Rituale und Traditionen, um die Mühsal gleichmütig ertragen zu können. Der Rhythmus des Lebens wird dadurch, aber auch durch die Natur und die Jahreszeiten vorgegeben. Kaiser-Mühlecker nimmt diesen Rhythmus in seiner Prosa auf, im Schildern von Alltag und in der Wiederholung von Beziehungsmustern über die verschiedenen Generationen hinweg. Man spürt förmlich das langsame Fließen der Zeit. Bis sich dann wieder etwas beschleunigt. Oder man den Eindruck hat, es würde sich etwas beschleunigen, vielleicht weil jemand stirbt.
"Ja, gerade bei Todesfällen habe ich auch selbst erlebt, dass es dann so einen Ruck in der Zeit macht, der alle Beteiligten oder nicht Beteiligten, sondern Übriggebliebenen, ergreift. Und alle spüren dann, dass sich das Rad jetzt ein Stück weiter gedreht hat und dass sie selber einen Schritt näher sind am Ende ihrer Zeit oder vielleicht die nächsten sind oder die übernächsten, zumindest wenn alles natürlich abgeht. Das Vergehen der Zeit war gerade in diesem Buch wichtig für mich darzustellen. Ich wollte ja von Anfang an einen Roman schreiben, der über mehrere Jahrzehnte und auch Generationen sich erstreckt und in der Zeit, aber genauso, wie man einem Fluss zuschaut, doch den ständigen Wandel miterlebt. Und das ändert sich ja auch. Man merkt es, wenn man Leute wiedertrifft, die man länger nicht gesehen hat: Es ändert sich immer was, aber wenn man sie täglich sieht, merkt man es gar nicht so. Und diese schleichenden Veränderungen haben mich interessiert und interessieren mich auch."
Am Ende scheint der Rhythmus sich dann zu ändern, vielleicht gerät sogar etwas aus dem Takt. Die Tektonik des Romans wird durch eine lange, in Bolivien spielende Episode ein wenig ins Wanken gebracht: Paul verschwindet, er lebt in einem kleinen südamerikanischen Nest. Und obwohl es das andere Ende der Welt ist, erinnert ihn diese Provinz immer wieder an Rosental, an seine Herkunft.
"Woran er dachte, war nichts anderes als sonst. Nur bekamen die Bilder nun eine andere Dimension. Das Jahr über blätterte er in seinen Erinnerungen, die gewissermaßen nur noch Partituren waren. Er konnte sie lesen, aber sie klangen nicht. Jetzt, als hätten sie dieses äußeren Impulses bedurft, griffen die Musiker zu ihren Instrumenten."
Es ist dieser einnehmende Ton, der über 600 Seiten fasziniert, ein Buch trägt, das schließlich doch noch einmal eine ganz andere Wendung nimmt und etwas Versöhnliches zumindest aufblitzen lässt. Ein Ton, der von einer schönen Notwendigkeit zeugt: So natürlich wie Atmen erscheint diese Prosa, so rhythmisch und verlässlich ist sie, als müsste wirklich eins aufs andere folgen, ein Wort aufs nächste, als würde ein Satz den anderen bedingen. Zugleich ist das äußerst kunstvoll, schon die Landschaftszeichnungen in ihrer atmosphärischen Genauigkeit und das dichte Motivgeflecht weisen darauf hin, etwa der titelgebende rote Flieder, der den Figuren Heimat bedeutet.
"Für mich symbolisiert er aber noch viel mehr eine gewisse Abweichung vom Ideal. Sagen wir so. Weil rot ist er ja eigentlich nicht. Er hat vielleicht eine Rotfärbung, aber in der Regel gilt er ja als violett oder lila oder fliederfarben. Für mich war es die Abweichung – so wie Literatur für mich als Ganzes eine Art von Abweichung darstellt. Oder die Abweichung darstellt."
Reinhard Kaiser-Mühlecker hat zum ersten Mal keinen Ich-Erzähler sprechen lassen, sondern eine Vogelperspektive eingenommen: Der Roman wird dadurch epischer, die Wahrnehmung sehr viel umfassender, die einzelnen Figuren in ihren Idiosynkrasien und Verletzungen und ihrem Fühlen greifbarer. Der Blick, so könnte man sagen, erfasst mehrere Dimensionen, verändert sich und kann die Richtung wechseln. Überhaupt ist Literatur für Kaiser-Mühlecker per se die Abweichung von etwas schon Vorgesehenem.
"Ja, von dem normalen Blick weicht es ab, denk ich. Sonst müsste man ja auch unter Umständen die Dinge gar nicht beschreiben. Ich kenne das ja auch als Vorwurf, dass man sagt: "immer diese Beschreiberei, ich weiß doch, wie es ausschaut". Aber so ist es ja auch nicht. Ich denke, wenn man das nachzeichnen würde, was ich da beschreibe, dann würde es ein ganz anderes Bild ergeben, als was man von einem Foto zum Beispiel sieht. Oder ich denke an die Malerei. Wenn Maler Landschaften malen, da kommt ja dann auch bei jedem was anderes heraus. Das ist die Abweichung, die ich meine und die einem ja auch im besten Fall an einem anderen Menschen interessiert: dass er eben nicht so ist. Sonst könnte man ja den ganzen Tag vor dem Spiegel stehen."
Man hat zuweilen in der deutschsprachigen Literatur den Eindruck, dass Autoren den ganzen Tag vor dem Spiegel stehen, um auf Podien und in Fernsehstudios einen blendenden Eindruck zu machen. Was ihren Büchern nicht immer wohl bekommt. Ein beachtlicher, ein bisschen aus der Zeit gefallener, an Adalbert Stifter oder auch Hermann Lenz erinnernder Roman wie "Roter Flieder" kann wohl nur am Rande dieses sogenannten Literaturbetriebs mit all seinen Eitelkeiten und Inszenierungen entstehen.
"Ich werde nicht von einem Podium und dann vom anderen eingeladen. Und ich weiß auch nicht, was ich täte, wenn es so wäre. Aber ich glaube, man zieht die Dinge auch irgendwie an oder man stößt sie irgendwo ab. Ich muss auch gar keine Meinung haben, weil ich sehr wenig damit zu tun habe. Bin heilfroh, dass ich sehr viel Zeit zum Arbeiten habe und ungestört das tun kann und auch unbeeinflusst in einem guten Sinn."
Buchinfos:
Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Roter Flieder", Hoffmann und Campe, Hamburg 2012, 619 Seiten, Preis: 24,99 Euro.