Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass der Diogenes Verlag das 1925 von dem damals bekanntesten Russlandkenner René Fülöp-Miller zusammen gestellte Buch über dieses Geschehen neu herausgegeben hat. Wenn auch leider ohne jede Überarbeitung, mit einer heute so nicht mehr üblichen Umschrift der russischen Namen und ohne genauere Angaben zu den Quellen.
"Tolstois Flucht und Tod" ist ein Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Im Mittelpunkt stehen die dramatischen Ereignisse in der Familie Tolstoi, Endpunkt einer Ehetragödie, die sich schon seit Beginn der 80er Jahre hinzog.
Tolstoi war nach vielen glücklichen gemeinsamen Jahren mit seiner Frau Sophia Andrejewna, die ihm 13 Kinder geboren und seine schriftstellerische Arbeit aktiv unterstützt hatte, in eine tiefe Lebenskrise geraten. Er begann, seine künstlerischen Werke, die ihn weltweit bekannt gemacht hatten, als eitel und nichtig zu betrachten, und entwickelte seine rigorose Lehre einer radikalen Zivilisationskritik, eines kirchenfernen christlichen Anarchismus und des gewaltlosen Widerstands gegen den Staat. Sein utopisches Ziel, das er von nun an in seinen Schriften predigte, war ein Leben der ständigen sittlichen Selbstvervollkommnung in körperlicher Arbeit, uneigennütziger Nächstenliebe, sexueller Enthaltsamkeit, extremer Einfachheit und Bedürfnislosigkeit. Wesentliches Element seines Denkens war der absolute Verzicht auf jedes Privateigentum. Mit dieser Lehre vom anderen, "richtigen" Leben, die sich als Bewegung des "Tolstojanismus" schnell weltweit auszubreiten begann, geriet er immer mehr in Widerspruch zu seinem eigenen privilegierten Dasein im Adelsnest von Jasnaja Poljana, auch wenn er längst den Bauernkittel trug, seine Stiefel selbst schusterte, mit den Landarbeitern auf dem Feld arbeitete und sich asketisch und vegetarisch ernährte. Ein Konflikt mit seiner Frau und seiner großen Familie konnte nicht ausbleiben.
Es beginnt ein jahrelang sich hinziehender Prozess der zunehmenden Entfremdung zwischen Tolstoi und seiner Frau und den erwachsenen Kindern, besonders den Söhnen, die ihre Ausbildung machen und ein normales Leben führen wollten, ein zähes erbittertes Ringen um den Besitz und das Erbe, vor allem aber um die Rechte und Einkünfte aus seinen Werken.
Tolstoi, der zu dieser Zeit auf der Höhe seines Ruhms stand, geriet in einen tiefen, schmerzlichen Zwiespalt zwischen den Ansprüchen Sophia Andrejewnas und der Familie und den Forderungen seines Schülers und Anhängers Wladimir Tschertkoff. Dieser hatte es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Tolstois Lehre in ihrer reinen Form zu verbreiten und wurde deshalb vom zaristischen Staat verfolgt.
Die Auseinandersetzung eskalierte in einem hässlichen, unwürdigen Streit um das Testament, das vor Sophia Andrejewna versteckt, mehrfach verändert und unter konspirativen Bedingungen heimlich im Wald unterzeichnet wird. In Jasnaja Poljana breitet sich eine unerträgliche, vergiftete Atmosphäre von Gereiztheit, Geheimnistuerei und gegenseitigem Argwohn aus.
Vor dem Leser entfaltet sich das Bild eines deprimierenden Ehedramas, in dem beide - nach 48 Ehejahren regelrecht miteinander "verknotet", wie Tolstoi in einem Brief schreibt - gleichermaßen entsetzlich leiden: Tolstoi wird von unerträglicher Schwermut gequält und fühlt sich bitter einsam in seiner Familie, in der nur die jüngste Tochter Alexandra uneingeschränkt gegen die Mutter zu ihm hält. Und die praktische, lebensfrohe Sophia Andrejewna, die jahrzehntelang die große Familie, das Gut, aber auch das Verlegen von Tolstois Werken erfolgreich gemanagt hatte, verwandelt sich in eine verzweifelte, nervenkranke Frau, die nur noch mit hysterischen Anfällen und Selbstmordversuchen reagiert.
Ende Oktober 1910 kommt es dann schließlich zur Flucht Tolstois aus Jasnaja Poljana. Die ihn begleitende Tochter hat sie in ihren Erinnerungen in allen Einzelheiten geschildert: Sein Aufenthalt im nahe gelegenen Kloster Optina Pustyn und Schamardino, der Ausbruch der Lungenentzündung während der Weiterreise mit der Eisenbahn und seine letzten Tage auf der Bahnstation Astapowo. Das Sterben des gefeierten und verehrten Schriftstellers - von einer Masse von schnell angereisten Presse- und Filmleuten begleitet - war eines der ersten großen Medienereignisse, die sich vor der Öffentlichkeit abspielten. Das Buch zeigt z.B. ein Foto, das zutiefst berührt: Die ihrem Mann nachgereiste Sophia Andrejewna schaut von außen durchs Fenster in das kleine Holzhaus der Bahnstation. Man hat sie nicht zu ihrem sterbenden Mann vorgelassen.
All diese Ereignisse werden in dem Buch - nur durch ein paar knappe Kommentare der Herausgeber miteinander verbunden - überzeugend dokumentiert. Durch die geschickte Montage der verschiedensten Quellen - Briefe, Tagebücher, Memoiren und Aufzeichnungen der Beteiligten, insbesondere natürlich der beiden Ehepartner - gewinnt das bewegende Geschehen eine beklemmende Spannung. Durch die unterschiedlichen Stimmen und den Verzicht, sie zu bewerten, entsteht ein objektives Bild dieser tragischen Auseinandersetzung, bei der es wohl keine Lösung und keine Schuldigen gab.
Dazu zeigen die abgedruckten Geheimdokumente der zaristischen Behörden, die revolutionäre Unruhen befürchteten und Spitzel und hohe Polizeibeamte nach Astapowo schickten, wie auch die Korrespondenz der Kirchenoberen, denen es darum ging, den sterbenden Tolstoi in den Schoß der orthodoxen Kirche zurückzuholen, welch unermessliche gesellschaftliche Bedeutung das Geschehen um den großen Schriftsteller zu jener Zeit hatte.
Diese Dokumentensammlung liest sich spannender als jeder Roman.
Tolstois Flucht und Tod. Geschildert von seiner Tochter Alexandra
Mit den Briefen und Tagebüchern von Leo Tolstoi, dessen Gattin, seines Arztes und seiner Freunde, herausgegeben von René Fülöp-Miller und Friedrich Eckstein, Zürich (Diogenes Verlag) 2008, 10,90 Euro.
"Tolstois Flucht und Tod" ist ein Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Im Mittelpunkt stehen die dramatischen Ereignisse in der Familie Tolstoi, Endpunkt einer Ehetragödie, die sich schon seit Beginn der 80er Jahre hinzog.
Tolstoi war nach vielen glücklichen gemeinsamen Jahren mit seiner Frau Sophia Andrejewna, die ihm 13 Kinder geboren und seine schriftstellerische Arbeit aktiv unterstützt hatte, in eine tiefe Lebenskrise geraten. Er begann, seine künstlerischen Werke, die ihn weltweit bekannt gemacht hatten, als eitel und nichtig zu betrachten, und entwickelte seine rigorose Lehre einer radikalen Zivilisationskritik, eines kirchenfernen christlichen Anarchismus und des gewaltlosen Widerstands gegen den Staat. Sein utopisches Ziel, das er von nun an in seinen Schriften predigte, war ein Leben der ständigen sittlichen Selbstvervollkommnung in körperlicher Arbeit, uneigennütziger Nächstenliebe, sexueller Enthaltsamkeit, extremer Einfachheit und Bedürfnislosigkeit. Wesentliches Element seines Denkens war der absolute Verzicht auf jedes Privateigentum. Mit dieser Lehre vom anderen, "richtigen" Leben, die sich als Bewegung des "Tolstojanismus" schnell weltweit auszubreiten begann, geriet er immer mehr in Widerspruch zu seinem eigenen privilegierten Dasein im Adelsnest von Jasnaja Poljana, auch wenn er längst den Bauernkittel trug, seine Stiefel selbst schusterte, mit den Landarbeitern auf dem Feld arbeitete und sich asketisch und vegetarisch ernährte. Ein Konflikt mit seiner Frau und seiner großen Familie konnte nicht ausbleiben.
Es beginnt ein jahrelang sich hinziehender Prozess der zunehmenden Entfremdung zwischen Tolstoi und seiner Frau und den erwachsenen Kindern, besonders den Söhnen, die ihre Ausbildung machen und ein normales Leben führen wollten, ein zähes erbittertes Ringen um den Besitz und das Erbe, vor allem aber um die Rechte und Einkünfte aus seinen Werken.
Tolstoi, der zu dieser Zeit auf der Höhe seines Ruhms stand, geriet in einen tiefen, schmerzlichen Zwiespalt zwischen den Ansprüchen Sophia Andrejewnas und der Familie und den Forderungen seines Schülers und Anhängers Wladimir Tschertkoff. Dieser hatte es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Tolstois Lehre in ihrer reinen Form zu verbreiten und wurde deshalb vom zaristischen Staat verfolgt.
Die Auseinandersetzung eskalierte in einem hässlichen, unwürdigen Streit um das Testament, das vor Sophia Andrejewna versteckt, mehrfach verändert und unter konspirativen Bedingungen heimlich im Wald unterzeichnet wird. In Jasnaja Poljana breitet sich eine unerträgliche, vergiftete Atmosphäre von Gereiztheit, Geheimnistuerei und gegenseitigem Argwohn aus.
Vor dem Leser entfaltet sich das Bild eines deprimierenden Ehedramas, in dem beide - nach 48 Ehejahren regelrecht miteinander "verknotet", wie Tolstoi in einem Brief schreibt - gleichermaßen entsetzlich leiden: Tolstoi wird von unerträglicher Schwermut gequält und fühlt sich bitter einsam in seiner Familie, in der nur die jüngste Tochter Alexandra uneingeschränkt gegen die Mutter zu ihm hält. Und die praktische, lebensfrohe Sophia Andrejewna, die jahrzehntelang die große Familie, das Gut, aber auch das Verlegen von Tolstois Werken erfolgreich gemanagt hatte, verwandelt sich in eine verzweifelte, nervenkranke Frau, die nur noch mit hysterischen Anfällen und Selbstmordversuchen reagiert.
Ende Oktober 1910 kommt es dann schließlich zur Flucht Tolstois aus Jasnaja Poljana. Die ihn begleitende Tochter hat sie in ihren Erinnerungen in allen Einzelheiten geschildert: Sein Aufenthalt im nahe gelegenen Kloster Optina Pustyn und Schamardino, der Ausbruch der Lungenentzündung während der Weiterreise mit der Eisenbahn und seine letzten Tage auf der Bahnstation Astapowo. Das Sterben des gefeierten und verehrten Schriftstellers - von einer Masse von schnell angereisten Presse- und Filmleuten begleitet - war eines der ersten großen Medienereignisse, die sich vor der Öffentlichkeit abspielten. Das Buch zeigt z.B. ein Foto, das zutiefst berührt: Die ihrem Mann nachgereiste Sophia Andrejewna schaut von außen durchs Fenster in das kleine Holzhaus der Bahnstation. Man hat sie nicht zu ihrem sterbenden Mann vorgelassen.
All diese Ereignisse werden in dem Buch - nur durch ein paar knappe Kommentare der Herausgeber miteinander verbunden - überzeugend dokumentiert. Durch die geschickte Montage der verschiedensten Quellen - Briefe, Tagebücher, Memoiren und Aufzeichnungen der Beteiligten, insbesondere natürlich der beiden Ehepartner - gewinnt das bewegende Geschehen eine beklemmende Spannung. Durch die unterschiedlichen Stimmen und den Verzicht, sie zu bewerten, entsteht ein objektives Bild dieser tragischen Auseinandersetzung, bei der es wohl keine Lösung und keine Schuldigen gab.
Dazu zeigen die abgedruckten Geheimdokumente der zaristischen Behörden, die revolutionäre Unruhen befürchteten und Spitzel und hohe Polizeibeamte nach Astapowo schickten, wie auch die Korrespondenz der Kirchenoberen, denen es darum ging, den sterbenden Tolstoi in den Schoß der orthodoxen Kirche zurückzuholen, welch unermessliche gesellschaftliche Bedeutung das Geschehen um den großen Schriftsteller zu jener Zeit hatte.
Diese Dokumentensammlung liest sich spannender als jeder Roman.
Tolstois Flucht und Tod. Geschildert von seiner Tochter Alexandra
Mit den Briefen und Tagebüchern von Leo Tolstoi, dessen Gattin, seines Arztes und seiner Freunde, herausgegeben von René Fülöp-Miller und Friedrich Eckstein, Zürich (Diogenes Verlag) 2008, 10,90 Euro.