" In der Umgebung des KKW Krümmel ist eine ungewöhnliche Häufung von Leukämiefällen bei Kindern aufgefallen, insbesondere bei kleinen Kindern, die sich seit dieser Zeit, eigentlich bis heute, fortgesetzt hat."
Kaatsch:
" Das ist bei dem Krümmelcluster besonders auffallend, daß es nach der ersten Häufung, die es nach dem Anfang der 90er Jahre gibt, zwei, drei Jahre Ruhe gab, dann gab es/ etwa vier Erkrankungsfälle, wieder einige Jahre Ruhe, und jetzt sind zum dritten Mal einige Erkrankungsfälle aufgetreten. "
Wichmann:
" Die Lage dieses Clusters war, naja, wirklich frappierend, nämlich mehr oder weniger direkt gegenüber dem KKW Krümmel, was natürlich sozusagen einiges suggerierte."
Kaatsch:
" Dieses persistierende Auftreten von Krebserkrankungszahlen, das ist sehr eigenartig."
1990/91 erkrankten in unmittelbarer Nähe von Krümmel fünf Kinder an Leukämie - neunmal mehr, als statistisch zu erwarten. Bis heute ist die lebensbedrohliche Erkrankung bei 14 Kindern diagnostiziert worden: Sie alle wohnen im Umkreis von wenigen Kilometern um das Kernkraftwerk Krümmel und das Forschungszentrum GKSS in Geesthacht, das einen eigenen Kernreaktor hat.
" Es war ja auffällig, dass die ersten Leukämiefälle und die meisten direkt im Vorgarten dieser Anlagen aufgetreten sind, und natürlich war es nahe liegend, auf die Ursächlichkeit zu schließen."
Ingrid Schmitz-Feuerhake, emeritierte Physikprofessorin von der Universität Bremen. Beweise gab es nicht. Aber der Verdacht brannte in den Köpfen von Eltern, Anwohnern und Politikern.
" Nachdem die Behörden es zunächst abgestritten haben, musste dann aber doch eine offizielle Untersuchung eingeleitet werden, weil inzwischen die Öffentlichkeit alarmiert war und natürlich die einheimische Bevölkerung."
Vier Expertenkommissionen haben sich mit dem Leukämiecluster, der Häufung von Leukämiefällen, beschäftigt - mit zum Teil identischen Mitgliedern. Niedersachsen, wo die Kinder erkrankten, berief die erste Kommission. Weil das Kernkraftwerk in Schleswig-Holstein liegt, beauftragte Kiel die zweite. Hannover gründete die "Arbeitsgruppe Belastungsindikatoren". Dann zog Schleswig-Holstein noch einmal nach. Bei der Besetzung scheint die persönliche Überzeugung der Forscher eine gewichtige Rolle gespielt zu haben. Eine Entscheidung der Regierungen, die sich rächen sollte.
" Mein Vorwurf geht eigentlich an die Politik: Nämlich nicht am Anfang klar die Kompetenz, die man in einer solchen Kommission braucht, auch dort zusammengebracht zu haben, das Sachverstand überwiegt und nicht Überzeugung überwiegt. Wenn die Politik hier zu feige ist, hier den richtigen Weg am Anfang zu gehen, dann ist der Karren im Dreck."
Erich Wichmann, Leiter des Instituts für Epidemiologie am Münchener Forschungszentrum GSF, Vorsitzender der niedersächsischen und Mitglied der schleswig-holsteinischen Kommission. In den Kommissionen stießen zwei Welten unversöhnlich aufeinander. Was das bedeutet, zeigt eine einfache Frage:
Gibt es anderswo auf der Welt vergleichbare Häufungen von kindlichen Leukämien?
Antwort 1 gibt Erich Wichmann. 14 Fälle in 15 Jahren - das sei dreimal mehr als zu erwarten wäre:
" Das ist also gerade so statistisch signifikant. Wenn man berücksichtigt, wie klein die Zahlen sind, mit denen man hier statistisch arbeitet, dann gibt es eben auch zufällige Häufungen dieser Größenordnung."
Antwort 2 kommt von dem Physiker Sebastian Pflugbeil, Präsident des Vereins "Gesellschaft für Strahlenschutz", Minister in der DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow und "unterstützender Experte" der schleswig-holsteinischen Kommission. Für ihn steht die Ursache fest: eine Strahlenbelastung.
" Unstrittig ist, dass in der Elbmarsch, einen Steinwurf weit von einem großen KKW und einer Kernforschungsanlage, die welthöchste Leukämierate bei Kindern vorliegt. Das bestreitet niemand."
Antwort 3 kommt von neutraler Seite, vom Leiter des Deutschen Kinderkrebsregisters an der Universität Mainz, Peter Kaatsch:
" Ich denke, das kann man gar nicht sagen, was ist weltweit das größte Cluster. Das würde ja voraussetzen, dass man weltweit alle Erkrankungshäufungen bei Kindern registriert. Das ist keineswegs der Fall."
Zwölf Jahre lang tobte in den Kommissionen, die sich mit dem Leukämiecluster von Krümmel beschäftigten, ein erbitterter, oft persönlicher Kampf. Das Ganze gipfelte am 2. November 2004 in einem Eklat, über den der NDR berichtete.
Sechs von neun Mitgliedern der schleswig-holsteinischen Kommission legen die Arbeit aus Protest gegen eine angebliche Verschleierungspolitik der rot-grünen Landesregierung nieder. Die Forscher werfen der Koalition vor, die Arbeit der Kommission zu behindern, weil ihr die Erkenntnisse nicht gefallen. Sie erklären, dass das Kernkraftwerk Krümmel zwar als Mitverursacher der Leukämien in Frage kommt. Leukämierelevante Umgebungskontaminationen sollen jedoch von geheim gehaltenen und illegalen kerntechnischen Experimenten an der nahe gelegenen Forschungseinrichtung GKSS stammen.
Eine rot-grüne Regierung, die ein Komplott der Atomindustrie deckt. Die Gescholtene reagierte heftig: Die Demissionierten "schürten Ängste aufgrund bloßer Spekulation", es ist die Rede von "aggressiver Rechthaberei" und "ausgeprägter Geltungssucht". Es entbehrt nicht der Ironie: Da gehen Kernkraftgegner aufeinander los, streiten unversöhnlich.
Betrachten wir die Vorgeschichte. Die beiden Expertenkommissionen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein vereinbarten Arbeitsteilung. Die niedersächsische verfolgte zahllose Spuren abseits der Strahlung. Im Abschlußbericht dieser Kommission sind sie aufgelistet:
Krebserregende Substanzen im Elbwasser, belastetes Trinkwasser, Altlasten auf Spielplätzen, Wegebaumaterial, Toxine in der Muttermilch oder der Kuhmilch, Elektrosmog durch Hochspannungsleitungen.
Allesamt negativ.
Waren Viren Schuld an der Leukämie? Verseuchungen durch die Rüstungsindustrie des Zweiten Weltkriegs? Lag es an der Innenraumbelastung durch Lösemittel, Insektizide, Radon? Pflanzenschutzmittel? Eine Mäuseplage?
Negativ. Obwohl in der Samtgemeinde Elbmarsch jeder Stein umgedreht wurde, fanden die Experten nichts. Darin sind sich alle einig.
Die schleswig-holsteinische Kommission verfolgte die Idee, dass die Erkrankungen strahlenbedingt sind. Zu Beginn ihrer Arbeit einigten sich die Kommissionsmitglieder auf die Arbeitshypothese, dass ein Kernkraftwerk im Normalbetrieb nicht genügend Radioaktivität zur Verursachung von Leukämien freisetzt.
" Wir haben gesagt, wenn diese Anlagen, oder eine davon, ursächlich ist, von nix kommt nix, dann muss da auch ´ne außergewöhnliche radioaktive Belastung vorgelegen haben. Und deshalb haben wir nach dieser außergewöhnlichen Belastung gesucht."
Inge Schmitz-Feuerhake war Mitglied der Kommission von Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
Die Kommission prüfte die Umgebungsüberwachung des KKW. Röntgenfilme wurden zur Untersuchung von erhöhten Strahlungswerten in Baumscheiben eingesetzt, das Erbgut von Familienangehörigen erkrankter Kinder auf strahlenverursachte Veränderungen überprüft. Ein weiterer Punkt war die Suche nach radioaktivem Fall-out im Staub von Dachböden.
Bei ihren verschiedenen Befunden kamen die sechs kernkraftkritischen Mitglieder der Kommission, zu denen Inge Schmitz-Feuerhake gehört, immer zum Schluss: "Damit haben wir bewiesen, dass die Leukämien strahlungsbedingt sind". Ihre drei Kollegen sahen das nicht so, bezweifelten die Stichhaltigkeit der Ergebnisse.
Krümmel ist ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn Erfahrungen, Glauben und Gefühle zu Triebfedern einer wissenschaftlichen Untersuchung werden. Es ging um ideologische Debatten, um Pro oder Contra Kernenergie, aufgehängt am Schicksal der Kinder. Anstatt ihre Meinung so weit wie möglich außen vor zu lassen und mit anerkannten Methoden die Lösung zu suchen, gab es Vorwürfe, Misstrauen, Streit. Am Ende konnten sich die Forscher nicht einmal mehr auf gemeinsame Fragen verständigen. In den Kommissionen prallten zwei Realitäten aufeinander.
Interviews lassen ahnen, was da abgelaufen sein muss. Ein Beispiel: Wenn die Ursache der kindlichen Leukämien ein Störfall im Kernkraftwerk war, müssten sich in den Überwachungsprotokollen Hinweise darauf finden lassen.
Schmitz-Feuerhake:
" Wir merkten sehr bald, dass es ein offizielles Interesse, die Sachen wirklich aufzuklären, nicht gab. Wir hatten das Problem, dass unser Gesprächspartner die Aufsichtsbehörde selbst war, also die Behörde, die im Zweifel den Unfall übersehen hätte und die sich keinen Fehler nachweisen lassen wollte. Wir merkten bald, dass der größte Vorteil dieser Kommission eigentlich nur darin bestand, dass wir Unterlagen zur Verfügung gestellt bekamen. Inwieweit die Unterlagen allerdings, wir mussten später auch einige Manipulationen feststellen, selektiert waren, das können wir natürlich nicht sagen."
Auf den Sitzungen wurden die Protokolle auseinander genommen: Mit großem Nachdruck, wie sich Erich Wichmann erinnert:
" Das ging zunächst so, dass die Qualität der Umgebungsüberwachung hinterfragt wurde, das ist die vornehme Ausdrucksweise. Die Leute wurden also massiv zur Brust genommen und angegriffen bis hin zur Unterstellung von Unterschlagung von Daten und Datenfälschung. Nach dem Motto: Sie haben uns doch letztens eine Folie gezeigt, da war dieser Peak noch nicht drauf. Haben sie den jetzt wegretuschiert, und so weiter. Also eine sehr unangenehme Situation, wie überhaupt die Stimmung jetzt sehr schlecht wurde, sowohl fachlich als auch menschlich."
Der Druck wurde so groß, dass das Kernkraftwerk das Ökoinstitut Darmstadt als Gutachter zuließ. Das Institut steht nicht in dem Ruf, atomfreundlich zu sein. Konnte aus Krümmel so viel Radioaktivität entweichen, dass Leukämien entstehen? Michael Sailer, Koordinator des Bereichs Nukleartechnik und Anlagensicherheit am Ökoinstitut und Mitglied der Strahlenschutzkommission.
" Vom Arbeitsprinzip haben wir uns zunächst einmal überlegt, wo kann was herauskommen an den vorgesehenen Stellen, und wo kann was herauskommen an den Stellen, wo möglicherweise unbeabsichtigt oder beabsichtigt übliche Messstellen umgangen werden."
Man analysierte die Originalaufzeichnungen aller Messgeräte: Kilometer von Papierschreiberstreifen mit farbigen Kurven der unterschiedlichsten Messstellen wurden abgewickelt, ausgewertet und verglichen. Die mühselige "Handarbeit" war notwendig, weil auf dem Papier Fälschungen auffallen: Jeder Punkt einer jeden Kurve muss mit den anderen stimmig sein - bei den Datenmengen wäre ein Betrug also äußerst schwierig.
Sailer:
" Wir haben das alles ausgewertet, haben gleichzeitig parallel gerechnet, wie viel Radioaktivität hätte rauskommen müssen, damit es für die Leukämie relevant wird. Wir haben dabei die vorsichtigsten Werte genommen, also unterstellt, dass schon sehr wenig Radioaktivität zu Leukämie führt."
In kilometerlangen Messprotokollen gibt es immer ungewöhnliche Stellen. Um die zu prüfen, hätten sie dann die vielen andere Messungen herangezogen, erklärt Michael Sailer. Eine Sisyphusarbeit. Und obwohl sie es selbst nicht geglaubt hätten: Die Experten vom Ökoinstitut sprachen den Siedewasserreaktor Krümmel frei. Christian Küppers:
" Also Störfälle in dem Sinne, dass radioaktive Stoffe gegenüber dem normalen Betrieb deutlich erhöht freigesetzt worden sind, haben wir nicht festgestellt."
" Für Kümmel, für das KKW, haben wir herausbekommen, dass der Nachweis zu führen ist, dass zu keiner Zeit Radioaktivitätsmengen herausgekommen sind oder sein können, die für die Leukämie relevant sind."
Statt dessen werfen die Darmstädter Forscher den Kernkraftkritikern in den Krümmel-Kommissionen selektive Wahrnehmung vor. Küppers:
" Wenn man jetzt davon ausgeht, dass in der Elbmarsch ein Unfall mit einer größerflächigen Niedergang von Radioaktivität stattgefunden hat, dann kann man nicht hingehen und sagen, ich habe da jetzt in diesen vielen Jahren einen Messwert, der mir nicht so ganz erklärlich ist und deshalb ist der ein Indiz dafür, dass da zu diesem Zeitpunkt irgend etwas stattgefunden hat, was die Leukämie erklären soll."
Die Kernkraftkritiker hätten überlegen müssen, wie sich ein Unfall insgesamt in der Umgebung zeige, und sie hätten eine Belegkette dafür finden müssen. Und die gebe es einfach nicht.
Die Forscher des Darmstädter Ökoinstituts finden sich unvermittelt am Pranger wieder. Sie hätten sich hereinlegen lassen, werfen ihnen die Kritiker vor, und jetzt heulten sie mit den Wölfen, um ihr Gesicht zu wahren. Mitstreiter, die sich früher schätzten, sind nun tief voneinander enttäuscht. Auf beiden Seiten. Wird die Ursachensuche so persönlich, weil sie von Anfang an mit übergeordneten Fragestellungen überfrachtet war, wie etwa dem Ausstieg aus der Kernenergie? In der Welt der Atomkritiker in den Kommissionen bilden Behörden, Betreiber und Politiker eine Front, die die Wahrheit verbirgt. Sie führen einen harten Kampf mit diesem Gegner: Denn die Kinder sind krank, weil sie verstrahlt worden sind. Schmitz-Feuerhake:
" Weil wir nicht wussten, wonach wir suchen sollten in dieser Lage, haben wir Chromosomenuntersuchungen an der Bevölkerung gemacht, stichprobenartig, um festzustellen, ob eine Strahlenbelastung vorliegt, und da sind wir fündig geworden. Wir haben 93 gewusst, dass es eine außergewöhnliche Strahlenbelastung passiert ist, durch eben diese Methode."
21 Erwachsene hat das Labor der Physikprofessorin untersucht - und drei- bis zehnmal soviel Chromosomenveränderungen im Blut gefunden wie normal:
" Das hat uns die Sicherheit gegeben, dass wir tatsächlich mit einer Radioaktivität zu rechnen haben."
Aber die Ergebnisse sind umstritten. Wichmann:
" Gut, dann haben wir in der Kommission gesagt: müssen wir überprüfen. Dann haben wir ein Studiendesign gemacht, um hier eine unabhängige Überprüfung dieses Sachverhaltes zu machen."
Kinder reagieren empfindlicher auf Strahlung als Erwachsene - also wurden 30 Kinder aus der Elbmarsch und 30 aus dem gemeinsam festgelegten Kontrollort Plön untersucht. Das genaue Verfahren wurde gemeinsam verabschiedet:
" Dann waren hier Labors der beiden verfeindeten Lager, im Einsatz. Dann musste sichergestellt werden, dass das alles anonymisiert ist, also das wurde dann mit hinterlegten Probandennummern und Zuordnungsadressen beim Notar, mit allem Komfort und zurück wurde das gemacht. Damit da also auch kein Verdacht aufkommen könnte, dass da irgend etwas schief gelaufen war. Dann wurden die Analysen durchgeführt: Es kam erstens heraus, kein Unterschied zwischen Plön und Elbmarsch, zweitens kein Unterschied zwischen Kindern mit und ohne häusliche Ernährung, also aus dem eigenen Garten."
Die Laboratorien der verfeindeten Lager kamen zum gleichen Ergebnis! Bei den Kindern gab es keine auffälligen Chromosomenveränderungen. Im Gegenteil, die Kinder in Plön zeigten mehr Veränderungen als die aus der Elbmarsch. Es folgte eine Fälschungsdebatte. Proben sollten vertauscht worden sein. Die Ärzte wurden angegriffen, die die Blutabnahme gemacht hatten, dann das Labor, das die Proben anonymisiert hatte. Der Streit schlug hohe Wellen: Also klärte ein genetischer Fingerabdruck, was an den Vorwürfen dran ist. Ergebnis: Keine Manipulation.
Der Glaubenskrieg ging weiter. Jahr für Jahr wuchs die Zahl der Studien: Studien der inzwischen zurückgetretenen Kritiker, es gab Studien im Auftrag der Landesregierungen, Studien über die Studien. Aber es findet sich kein gemeinsamer Nenner. Vielmehr werfen sich die Parteien Fehler und falsche Interpretationen vor. Und immer gibt es eine neue Runde. Sind auch Erwachsene betroffen? Weil sie in keinem Krebsregister erfasst werden, ist die Frage schwer zu beantworten. Es kam, wie es kommen musste:
Die erste Studie führte das Bremer Institut für Präventionsforschung unter Leitung von Eberhard Greiser durch: Haben Erwachsene in der Nähe von Krümmel ein höheres Risiko an Leukämien oder Lymphomen zu erkranken als anderswo? Wolfgang Hoffmann, früher Mitarbeiter von Eberhard Greiser und jetzt Leiter der Abteilung Versorgungsepidemiologie an der Universität Greifswald:
" Wir haben die aufgetretenen Fälle zwischen den Jahren 1984 und dem Zeitpunkt, 1993, zusammengestellt und haben dann festgestellt, dass auch bei Erwachsenen in der unmittelbaren Umgebung des KKW eine erhöhte Rate von Leukämien vorhanden war."
Ein Erfolg für die Kritiker. Als die Studie dann bewertet wurde, erklärte die Gegenseite: Manche Ergebnisse sind nicht stimmig, und es ist gibt keinen zweifelsfreien Nachweis über einen Zusammenhang mit der Strahlung. Erich Wichmann:
" Aber es war eben der Verdacht im Raume, es könnte ja vielleicht doch was sein, so dass dann der zweite Vorschlag von Herrn Greiser zum Zuge kam, nämlich eine Fallkontrollstudie zu machen. Das war dann die berühmte Norddeutsche Leukämie- und Lymphomstudie."
Hoffmann:
" Da geht es jetzt ganz gezielt um die Frage, nicht nur, gibt es eine Erhöhung der Häufigkeit, sondern was sind die Risikofaktoren, die zu dieser Erhöhung geführt haben:/ dazu gehören Pestizide, dazu gehört die Strahlung, dazu gehören manche Medikamente, dazu gehören die elektromagnetischen Felder."
Die Studie umfasste 1500 Patienten und 3000 Vergleichspersonen in Norddeutschland. Wichmann:
" Der Vorteil dieser Studie war aber der - und das war aber schon eine kluge Lehre aus dem Ganzen -, dass man gesagt hat, die Studie, die wird nicht vergeben und dann durchgeführt, sondern hier gibt es ein wissenschaftliches Begleitgremium, was jeden Schritt von der Planung über die Durchführung bis zur Auswertung begleitet und auch sicherstellt, dass man die Hypothesen am Anfang so klar formuliert, dass hinterher auch klar ist, dass man diese Hypothesen getestet hat."
Und so wurde es auch gemacht. Die Fragestellung: Bringt das Wohnen in der Nähe von norddeutschen Atomanlagen beim Normalbetrieb ein erhöhtes Krebsrisiko für Erwachsene mit sich? Das Ergebnis überraschte ihre Initiatoren, so Hoffmann:
" Diese Frage kann man verneinen. Das ist nicht der Fall. Wir haben in unserer Studie für den Normalbetrieb aller norddeutscher Atomanlagen kein erhöhtes Risiko, weder für Leukämien bei Erwachsenen, noch für Lymphomen bei Erwachsenen, festgestellt."
Mit den Kinderleukämien habe sich die Studie nicht befasst, erklärt Wolfgang Hoffmann: Ansonsten ergab die Studie, dass Pestizide im Innenraum das größte Leukämierisiko bilden, gefolgt von Wohnen neben Baumschulen - wegen der Pflanzenschutzmittel. Auf Platz 3 liegen abgeschlagen die Hochspannungsleitungen.
Eberhard Greiser, damals Leiter des Bremer Instituts für Präventionsforschung, verkündete das Ergebnis der Norddeutschen Leukämie- und Lymphom-Studie:
Das Kernkraftwerk Krümmel scheidet als Verursacher der Leukämie-Häufung in der Elbmarsch aus!
Dieser weitgehende Schluss machte den Freund zum Feind: Eberhard Greiser, der zuvor von den kernkraftkritischen Kommissionsmitgliedern gelobt worden war, erntete jetzt Schelte. Erst recht, als er im Dezember 2004 gemeinsam mit dem Widersacher der Kritiker, mit Erich Wichmann, den Abschlussbericht der Expertenkommission Niedersachen vorlegte:
Die Ursachen für die Leukämiehäufung in der Elbmarsch sind unbekannt.
Wirklichkeit ist nicht gleich Wirklichkeit. Etwa bei dem Störfall vom 12. September 1986: Damals berichtete die Lokalpresse von Personen in Strahlenschutzanzügen, die auf dem Gelände des Kernkraftwerks gemessen hätten. War damals wirklich nur das natürlich vorkommende Radon von außen ins Kraftwerk eingedrungen und dann von den Sensoren erfasst worden? Das Radon soll sich bei einer Inversionswetterlage angestaut haben und dann vom Wind hochgewirbelt worden sein. Oder ist das ein Lügenmärchen, weil Radon bodennah bleibt, und nicht in die 44 Meter hohe Zuluftversorgung gelangen kann? War der 12. September der Tag X?
Christian Küppers vom Ökoinstitut Darmstadt widerspricht. Radon dringe reichlich aus den Böden der Elbmarsch, und der Wind könne es durchaus aufwirbeln:
" Man hat damals nur die Zuluft nicht überwacht. Heute macht man es, und man sieht dieses Phänomen immer wieder. Man sieht es dann auch in der Zuluft, dass von außen her also schon diese kurzlebigen Aerosole in die Anlage kommen."
Immer sei die Belastung minimal, scheide als Ursache für Leukämie aus. Aber da gibt es ja auch noch die GKSS, eine Großforschungseinrichtung am Elbufer, die früher das nukleargetriebene Handelsschiff Otto-Hahn entwickelt und betrieben hat. Auch die hatte das Öko-Institut Darmstadt unter die Lupe genommen. Zwar war dort die Überwachung nicht so scharf wie bei Krümmel, und es gab durchaus ein paar Stellen, an denen etwas Radioaktivität hätte entweichen können - aber es gibt keinen Beweis, dass etwas passiert ist, so die Ingenieure. Und wenn etwas passiert wäre, dann war das kein großer Störfall, sondern allenfalls ein Problem mit einem einzelnen Abfallgebinde. Der Rest lässt sich ausschließen. Der Ingenieur bilanziert die Bemühungen der Kernkraftgegner, die Leukämiefälle von Krümmel aufzuklären:
" Ich denke, historisch gesehen war es ein Fehler, dass man in den Leukämiekommissionen nicht gesagt hat, wir machen ein Messprogramm, das wir uns genau ausdenken und uns genau überlegen, was wir da mit welchen Methoden messen, und das wird dann nach üblichen wissenschaftlichen Standards durchgeführt, sondern es waren da eher Eigeninitiativen. Da wurde dann mit relativ einfachen Verfahren etwas gemessen, aber dann wurde sich die Frage gestellt, ist das denn ein Verfahren, das für den Messzweck taugt? Da ist doch häufig sehr hemdsärmelig an die Dinge herangegangen worden und man hat dann daraus aber nachher große Schlussfolgerungen gezogen."
Die Darmstädter zucken mit den Achseln und fragen, ob man nicht besser woanders nach den Ursachen sucht als bei der Strahlung. Das sei nun wirklich erschöpfend erforscht und widerlegt worden. Das ist die eine Wirklichkeit. In der anderen, der der Kritiker, fügt sich ein Verdacht zum nächsten. Dann sind da die Mikrokügelchen, die von kerntechnischen Experimenten auf dem Gelände der GKSS erzählen sollen - die Zutaten für einen Thriller. 1986, das Jahr der Tschernobyl-Katastrophe.
Damals - in Bonn regierte Helmut Kohl, in Schleswig Holstein Uwe Barschel - wurde die Idee einer "Atombombe in der Aktentasche" diskutiert: Eine millimetergroße Perle aus Plutonium 239 genügt. Im Brennpunkt [...] einer Eiform aus Keramik angebracht, kann die Perle mittels eines Laserimpulses so hoch verdichtet werden, dass es zu einer Mini-Atombombenexplosion kommt. [....] Solche Experimente, so das Münchner Kommissionsmitglied, der Strahlenmediziner Edmund Lengfelder, sind damals - vermutlich mit Wissen der Amerikaner - in der GKSS gemacht worden.
fabuliert die Süddeutsche Zeitung. Nun ist es an der Zeit, über PAC zu reden. Normalerweise ist das eine Art von Brennstoff für Atomreaktoren: winzige Kügelchen aus Uran- und Thorium-Oxiden. Für die Kritiker sind sie ein Hinweis auf illegale Atomversuche.
Eine Forschergruppe namens Arge PhAM hatte bei Stichproben rund um Krümmel diese PAC im Boden gefunden. In den Mikrokügelchen, erklärt Arge PhAM, fänden sich Radionuklide wie Plutonium, Americium oder Curium, aber auch leichte Elemente wie Lithium oder Bor. Sebastian Pflugbeil, Berater der schleswig-holsteinischen Kommission:
" Das ist kerntechnisches Experimentiermaterial, mit dem man Vorgänge aus dem Bereich der Kernspaltung und Vorgänge aus dem Bereich der Kernfusion sinnvoll miteinander spielen lässt. Man kann damit in Richtung auf neue Energiequellen arbeiten, man kann damit Atomwaffenforschung betreiben. Und das macht die ganze Sache brisant und hat die Diskussion stark behindert."
Arbeitete man in der GKSS an der Mini-Atombombe?
" Das ist ein Verdacht, der im übrigen nicht nur von uns geäußert wurde aufgrund dieses ambivalenten Spielmaterials. Es gab zum Beispiel im Bereich des Ministeriums der Staatssicherheit eine Gruppe, die ein Gutachten geschrieben hat, über die Norddeutsche Kernphysik und die Stasi artikuliert ausdrücklich den Verdacht, dass in Norddeutschland möglicherweise an Atomwaffen gespielt wird."
Im Bericht geht es um "Fusion-Fission-Kügelchen", einer "militärisch nutzbaren Hybridtechnik aus Kernfusion und Kernspaltung zum Einsatz in kleinen Atomwaffen". Diese PAC sollen in Krümmel überall im Boden liegen. Allerdings haben sie eine hervorstechende Eigenschaft: Die eine Seite findet sie in jeder Schaufel. Die andere nie. Sebastian Pflugbeil:
" Stellen Sie sich vor, Sie haben zwei Kinder und schicken die Kinder in den Wald zum Pilze suchen. Und das Mädel kommt mit einem Korb voller Pilze zurück, und der Junge kommt mit einem leeren Korb zurück. Das Mädchen sagt, der Wald ist voller Pilze und der Junge sagt, im Wald sind keine Pilze. Natürlich ist jeder Mutter klar, dass es in dem Wald Pilze gibt, da gibt es gar keine Debatte. Aber bei den Kügelchen debattiert man jahrelang darüber, ob es jetzt Kügelchen gibt oder nicht. "
Die andere Seite hält die PAC für blanken Unsinn. Als der Verdacht erstmals aufgekommen war, hatten die Internationalen Ärzte gegen den Atomkrieg IPPNW Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte die Proben der ARGE PhAM. Die Analysen waren - negativ. Fünf Forschungsinstitute fahndeten nach den strahlenden Kügelchen. Nichts. Beziehungsweise - Kügelchen gibt es reichlich, wie in jedem Boden. Aber keine PAC. Und so lautet der Schluss der Strahlenschutzkommission:
Tatsächlich sind im Boden der Umgebung von GKSS und Kernkraftwerk Krümmel in unterschiedlichen Konzentrationen Kügelchen vorhanden, die zum Teil anthropogenen Ursprungs sind, z.B. Flugasche. Die ... Untersuchungen an Partikeln und Kügelchen ... haben keine Hinweise für eine Bestätigung der These, dass es sich um Kernbrennstoffpartikel handelt, erbracht.
Seit 15 Jahren erkranken in der Elbmarsch immer wieder Kinder an Leukämie. Niemand weiß, warum. So ist das nun einmal bei Leukämiehäufungen, erklärt der Leiter des Deutschen Kinderkrebsregisters Peter Kaatsch, oft wird die Ursache nie gefunden:
" Das ist unbefriedigend für die Bevölkerung dort, aber man hat so viel Zeit und so viel Geld hinein investiert, auch in sehr solide Arbeit, und man hat keine Ursache gefunden, so dass aus meiner Sicht wirklich die Wahrscheinlichkeit deutlich höher ist zu sagen, das scheint Zufall zu sein, oder es sind wirklich Ursachen, an die man weltweit noch gar nicht gedacht hat, weil die Ursachen, die weltweit diskutiert werden, sind dort vor Ort alle untersucht worden."
Vielleicht sollte man die Forschungsmillionen künftig nicht auf Krümmel konzentrieren, sondern lieber generell in die Ursachenforschung für Krebs im Kindesalter, erklärt der Wissenschaftler. Allerdings - im Fall Krümmel wird bereits über neue Studien nachgedacht.