Dirk Müller: Bleiben wir im Nahen Osten. Steht Ägypten vor einem Bürgerkrieg und was kann der Westen tun? Darüber hat mein Kollege Rainer Brandes mit dem Hamburger Islamwissenschaftler Udo Steinbach gesprochen.
Rainer Brandes: Herr Steinbach, angesichts dieser Gewalt, die wir aus Kairo hören und sehen, steht Ägypten vor einem Bürgerkrieg?
Udo Steinbach: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Meine Annahme ist, dass das Militär sich tatsächlich durchsetzen wird. Das heißt, die ganz großen Aufmärsche und Demonstrationen werden unterdrückt werden. Ich vermute dann allerdings, dass es eine diffuse Gewalt gibt, das deutet sich schon an im ganzen Land, dass Einrichtungen der Regierung getroffen werden, Polizisten – das ist ja schon geschehen – umgebracht werden, dass es innerhalb der Gesellschaft zu Konflikten kommt zwischen Extremisten und Kopten. Das ist das Szenario, das ich entwickele. Das ist ein bisschen das Szenario der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als ja auch islamistische Gruppen fast ein ganzes Jahrzehnt versucht haben, die Regierung Mubarak damals aus den Angeln zu heben und zeitweilig so eine Art Kriegszustand bestand zwischen dem Regime und den sogenannten Gamaa islamija.
Brandes: Das heißt, Sie erwarten eine lang anhaltende Phase von immer wiederkehrender Gewalt?
Steinbach: Ja, das erwarte ich in der Tat. Es kommt hinzu, dass es mittlerweile ja so etwas gibt wie Rückzugsräume auf der Sinai-Halbinsel. Wer sich dort alles versammelt, das wissen wir nicht genau, aber dass dort eine stattliche Zahl an Extremisten bereits präsent ist mit ihrer Agenda gegen die ägyptische Regierung, gegen Israel, das ist Tatsache. Und die dürften dann Verstärkung erfahren.
Brandes: Glauben Sie, dass die Muslimbrüder mit ihrer Verweigerungshaltung, die sie im Vorfeld dieser Gewalt jetzt gezeigt haben, bewusst Gewaltausbrüche von den Sicherheitskräften provoziert haben?
Steinbach: Nein, das glaube ich nicht. Die Leute sind einfach fanatisiert. Sie sind maßlos enttäuscht über den Gang der Dinge. Sie hatten natürlich erwartet, dass nach so vielen Jahrzehnten der Unterdrückung sie nun sozusagen Ägypten übernehmen könnten, und ein bisschen in dem Stil hat ja Herr Mursi auch regiert. Das ist ihnen jetzt aus der Hand geschlagen und ich glaube, daraus erklärt sich der Extremismus. Mein Gefühl ist allerdings, dass es auch innerhalb der Muslimbruderschaft in den nächsten Wochen oder Monaten erhebliche Veränderungen geben wird. Denn früher oder später steht natürlich die Muslimbruderschaft vor der Frage, soll sie mitmachen, oder soll sie sich völlig ausgrenzen, soll sie nur auf Gewalt setzen. Und mir scheint, dass es da, ich will nicht sagen, Spaltungen geben wird, aber unterschiedliche Fraktionen. Die einen werden Totalverweigerung machen, die anderen werden doch versuchen, einen Ausweg zu finden und dann doch in das politische Geschehen eintreten, das ja im Grunde für die nächsten Monate vorgezeichnet ist.
Brandes: Und welche Fraktion wird sich durchsetzen?
Steinbach: Es wird sich am Ende die Fraktion durchsetzen, die gemäßigt ist, die den politischen Prozess sucht. Ein Vorspiel dazu sehen wir jetzt in Tunesien. Da hat es ähnliche Verwerfungen gegeben, wenn auch längst nicht so scharf. Aber die Demonstrationen der letzten Wochen gegen die Muslimbruderschaft, nach der Ermordung der säkularen Intellektuellen und Politiker, das scheint in die Richtung zu gehen, dass man nun doch einen gemeinsamen Boden sucht. Auch sitzt man ja dort gemeinsam in der verfassungsgebenden Versammlung. Die ist zwar im Augenblick gesprengt, weil einige Leute sie verlassen haben, aber sie wird weiterarbeiten und sie ist ja dort in Tunesien auch zu bemerkenswerten Kompromissen gekommen.
Brandes: Wir haben jetzt viel über die Muslimbrüder gesprochen. Sprechen wir mal über das Militär. Hat das Militär überhaupt Interesse an einer echten Demokratie, oder nur an eigenem Machterhalt, das es jetzt versucht durchzusetzen?
Steinbach: Woran das Militär wirkliches Interesse hatte, das war die wirtschaftliche Wohlfahrt sozusagen, die soziale Wohlfahrt. Das Militär ist einer der größten ökonomischen Faktoren im Land und man hatte sich ja zurückgezogen, Mursi hatte sie zurückgedrängt durch die Entmachtung von Tantawi, dem damaligen Generalstabschef. Das Militär war also dabei, sich auf die Wirtschaft zu konzentrieren. Nun ist es wieder zurückgekommen in die Politik und mir scheint natürlich, auf der einen Seite wird man weiter im politischen Geschäft bleiben, aber à la longue wird das Militär dann doch sich wieder herausziehen aus der Politik und sich dem sogenannten Kerngeschäft, nämlich dem wirtschaftlichen Wohlergehen, widmen. Also ich gehe nicht davon aus, dass wir es hier mit einer Militärdiktatur zu tun haben werden, die so lange dauert wie die Mubaraksche. Ich gehe auch nicht davon aus, dass der Ausnahmezustand, der verhängt ist, so lange dauern wird, wie der Ausnahmezustand Bestand hatte unter Mubarak.
Brandes: Die westlichen Staaten halten sich ja doch auffallend zurück in der Beurteilung dieses Blutvergießens jetzt. Sie fordern natürlich ein Ende der Gewalt, stellen ihre Botschafter ein, aber zum Beispiel die USA haben nicht das Ende jeglicher Militärhilfe angekündigt. Reicht dieses vorsichtige Vorgehen?
Steinbach: Ich glaube nicht, dass wir auf irgendeine Seite Partei ergreifen sollten. Wir sollten natürlich Partei ergreifen für die Demokratie. Wir sollten dringend anmahnen, vielleicht sogar mit einem gewissen Druck – die Amerikaner sind gerade dabei, das zu tun -, wir sollten dringend anmahnen, dass Ägypten so schnell wie möglich zur Demokratie zurückkehrt. Aber dazu brauchen wir eben alle Kräfte. Wir brauchen das Militär, das nun mal die Macht hat, wir brauchen in gewisser Weise auch die gemäßigten Muslimbruderschaften, wir brauchen die säkulare Opposition. Und insofern verstehe ich es und finde es eigentlich nicht unklug, dass mit Blick auf den Prozess, der jetzt ansteht, den man ja selbst anschieben möchte, dass man sich da doch mit Schuldzuweisungen zurückhält.
Müller: Der Hamburger Islamwissenschaftler Udo Steinbach im Gespräch mit meinem Kollegen Rainer Brandes.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rainer Brandes: Herr Steinbach, angesichts dieser Gewalt, die wir aus Kairo hören und sehen, steht Ägypten vor einem Bürgerkrieg?
Udo Steinbach: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Meine Annahme ist, dass das Militär sich tatsächlich durchsetzen wird. Das heißt, die ganz großen Aufmärsche und Demonstrationen werden unterdrückt werden. Ich vermute dann allerdings, dass es eine diffuse Gewalt gibt, das deutet sich schon an im ganzen Land, dass Einrichtungen der Regierung getroffen werden, Polizisten – das ist ja schon geschehen – umgebracht werden, dass es innerhalb der Gesellschaft zu Konflikten kommt zwischen Extremisten und Kopten. Das ist das Szenario, das ich entwickele. Das ist ein bisschen das Szenario der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts, als ja auch islamistische Gruppen fast ein ganzes Jahrzehnt versucht haben, die Regierung Mubarak damals aus den Angeln zu heben und zeitweilig so eine Art Kriegszustand bestand zwischen dem Regime und den sogenannten Gamaa islamija.
Brandes: Das heißt, Sie erwarten eine lang anhaltende Phase von immer wiederkehrender Gewalt?
Steinbach: Ja, das erwarte ich in der Tat. Es kommt hinzu, dass es mittlerweile ja so etwas gibt wie Rückzugsräume auf der Sinai-Halbinsel. Wer sich dort alles versammelt, das wissen wir nicht genau, aber dass dort eine stattliche Zahl an Extremisten bereits präsent ist mit ihrer Agenda gegen die ägyptische Regierung, gegen Israel, das ist Tatsache. Und die dürften dann Verstärkung erfahren.
Brandes: Glauben Sie, dass die Muslimbrüder mit ihrer Verweigerungshaltung, die sie im Vorfeld dieser Gewalt jetzt gezeigt haben, bewusst Gewaltausbrüche von den Sicherheitskräften provoziert haben?
Steinbach: Nein, das glaube ich nicht. Die Leute sind einfach fanatisiert. Sie sind maßlos enttäuscht über den Gang der Dinge. Sie hatten natürlich erwartet, dass nach so vielen Jahrzehnten der Unterdrückung sie nun sozusagen Ägypten übernehmen könnten, und ein bisschen in dem Stil hat ja Herr Mursi auch regiert. Das ist ihnen jetzt aus der Hand geschlagen und ich glaube, daraus erklärt sich der Extremismus. Mein Gefühl ist allerdings, dass es auch innerhalb der Muslimbruderschaft in den nächsten Wochen oder Monaten erhebliche Veränderungen geben wird. Denn früher oder später steht natürlich die Muslimbruderschaft vor der Frage, soll sie mitmachen, oder soll sie sich völlig ausgrenzen, soll sie nur auf Gewalt setzen. Und mir scheint, dass es da, ich will nicht sagen, Spaltungen geben wird, aber unterschiedliche Fraktionen. Die einen werden Totalverweigerung machen, die anderen werden doch versuchen, einen Ausweg zu finden und dann doch in das politische Geschehen eintreten, das ja im Grunde für die nächsten Monate vorgezeichnet ist.
Brandes: Und welche Fraktion wird sich durchsetzen?
Steinbach: Es wird sich am Ende die Fraktion durchsetzen, die gemäßigt ist, die den politischen Prozess sucht. Ein Vorspiel dazu sehen wir jetzt in Tunesien. Da hat es ähnliche Verwerfungen gegeben, wenn auch längst nicht so scharf. Aber die Demonstrationen der letzten Wochen gegen die Muslimbruderschaft, nach der Ermordung der säkularen Intellektuellen und Politiker, das scheint in die Richtung zu gehen, dass man nun doch einen gemeinsamen Boden sucht. Auch sitzt man ja dort gemeinsam in der verfassungsgebenden Versammlung. Die ist zwar im Augenblick gesprengt, weil einige Leute sie verlassen haben, aber sie wird weiterarbeiten und sie ist ja dort in Tunesien auch zu bemerkenswerten Kompromissen gekommen.
Brandes: Wir haben jetzt viel über die Muslimbrüder gesprochen. Sprechen wir mal über das Militär. Hat das Militär überhaupt Interesse an einer echten Demokratie, oder nur an eigenem Machterhalt, das es jetzt versucht durchzusetzen?
Steinbach: Woran das Militär wirkliches Interesse hatte, das war die wirtschaftliche Wohlfahrt sozusagen, die soziale Wohlfahrt. Das Militär ist einer der größten ökonomischen Faktoren im Land und man hatte sich ja zurückgezogen, Mursi hatte sie zurückgedrängt durch die Entmachtung von Tantawi, dem damaligen Generalstabschef. Das Militär war also dabei, sich auf die Wirtschaft zu konzentrieren. Nun ist es wieder zurückgekommen in die Politik und mir scheint natürlich, auf der einen Seite wird man weiter im politischen Geschäft bleiben, aber à la longue wird das Militär dann doch sich wieder herausziehen aus der Politik und sich dem sogenannten Kerngeschäft, nämlich dem wirtschaftlichen Wohlergehen, widmen. Also ich gehe nicht davon aus, dass wir es hier mit einer Militärdiktatur zu tun haben werden, die so lange dauert wie die Mubaraksche. Ich gehe auch nicht davon aus, dass der Ausnahmezustand, der verhängt ist, so lange dauern wird, wie der Ausnahmezustand Bestand hatte unter Mubarak.
Brandes: Die westlichen Staaten halten sich ja doch auffallend zurück in der Beurteilung dieses Blutvergießens jetzt. Sie fordern natürlich ein Ende der Gewalt, stellen ihre Botschafter ein, aber zum Beispiel die USA haben nicht das Ende jeglicher Militärhilfe angekündigt. Reicht dieses vorsichtige Vorgehen?
Steinbach: Ich glaube nicht, dass wir auf irgendeine Seite Partei ergreifen sollten. Wir sollten natürlich Partei ergreifen für die Demokratie. Wir sollten dringend anmahnen, vielleicht sogar mit einem gewissen Druck – die Amerikaner sind gerade dabei, das zu tun -, wir sollten dringend anmahnen, dass Ägypten so schnell wie möglich zur Demokratie zurückkehrt. Aber dazu brauchen wir eben alle Kräfte. Wir brauchen das Militär, das nun mal die Macht hat, wir brauchen in gewisser Weise auch die gemäßigten Muslimbruderschaften, wir brauchen die säkulare Opposition. Und insofern verstehe ich es und finde es eigentlich nicht unklug, dass mit Blick auf den Prozess, der jetzt ansteht, den man ja selbst anschieben möchte, dass man sich da doch mit Schuldzuweisungen zurückhält.
Müller: Der Hamburger Islamwissenschaftler Udo Steinbach im Gespräch mit meinem Kollegen Rainer Brandes.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.