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Die Liebe der Alten

Fast alle verstehen Andreas Dresens "Wolke9" als Film über Sex im Alter und reden von mutigem Tabubruch. "Wolke9" als Aufklärungsfilm darüber, dass mit dem Blitzschlag von Liebe und Begierde auch noch in gerontologischen Lebensphasen zu rechnen ist. Und das zeigt Dresen ja auch ausführlich mit seinen nahen Kamerablicken auf die faltigen und ineinander verschlungenen Leiber von Inge und Karl.

Von Christoph Schmitz |
    Inge und Karl haben ihren Spaß, vor allem ihre Lust nicht verloren, obwohl Inge nicht damit gerechnet hätte, dass ihr das noch mal passieren würde. Lebte sie doch bisher mit dem Reichsbahn-Rentner Werner zusammen, friedlich, gemütlich, eintönig im Osten Berlins und nähte nebenbei für ein paar Euro Hosen um, wodurch sie ihren neuen Karl kennenlernte. Aber dennoch will Andreas Dresen alles andere als ein Oswald Kolle fürs Altersheim sein. Und auch um das Alter geht es ihm nur vordergründig. Ursula Werner und Horst Westphal spielen fast dokumentarisch echt und bis zur Selbstentblößung. Inge und Karl entdecken aneinander in den tiefen Furchen ihrer Haut und in den verschwitzten klebenden Haaren eine stille Schönheit, die sie fasziniert. Doch schön werden sie nur füreinander, nicht für den Betrachter. Für ihn bleiben diese Körper, was sie sind: alt, ausgeleiert, verbraucht. Mit ihrem Schalk, ihrer wiedererwachten Neugier, ihren vor Glück funkelnden Augen, ihrer Energie, mit der sie sich aus dem eingefahrenen Lebenstrott befreien, saugen die Protagonisten die Sympathie des Zuschauers förmlich auf.

    Aber auch dieses Schmetterlings-Glück des Alters ist Dresens Thema nicht. Sondern es ist die Trostlosigkeit, in der das kurze Glück hinein bricht. Trostlosigkeit nicht hinsichtlich der kleinbürgerlich beengten Verhältnisse, die also solche in jedem Detail zwar groß gezeigt werden, wie die flusige Strickjacke, die alte Motivtapete, der muffige Wohnzimmersessel, die röchelnde Kaffeemaschine, das Schweigen und Besteckklappern beim Frühstück in der Miniküche. Das alles ist so minutiös geordnet, so spannungsfrei, sorgenfrei und gesichert, als sei die Geschichte der Klassenkämpfe wirklich zu einem Ende gekommen und habe in der kleinen aber sicheren Arbeiterrente ihr Ziel, ihr schrecklich-beschauliches Paradies gefunden inklusive metaphysische Ödnis. Eine Bahnfahrt am Sonntag und die Lokomotivgeräusche von der Schallplatte sind das einzige Fest. Das radikal Diesseitige, das wunschlos mediokre Glück ist der eigentliche Horror, den der Film birgt. Der in der DDR aufgewachsene Dresen, weiß wovon er spricht. Und da muss schon die verrückte große Liebe wie vom Himmel ins Jammertal hineinblitzen, damit sich das Leben noch einmal rührt. Oder der Tod muss einschlagen. Aber der kommt in "Wolke9" erst am Ende. Was er bewirkt, kann Dresen nicht mehr erzählen. Das ist er uns noch schuldig.