Frau: "Ich hab mal ne Frage, das Buch haben sie nicht zufällig mit, was sie da geschrieben haben?" - Wagenknecht: "Tut mir leid, nee." - Frau: "Ach, das ist so schade."
Der Unesco-Platz in Weimar Ende August. Während ihr Ehemann Oskar Lafontaine eine seiner seltenen Wahlkampfreden hält, gibt Sahra Wagenknecht neben der Bühne Autogramme. Der Platz ist voll, vor allem ältere Menschen sind gekommen. Sie nehmen die Rhetorik der beiden mit zustimmendem Nicken und Applaus auf.
Lafontaine sagt: "Ich bin ein Schüler des Nobelpreisträgers Willy Brandt, und für mich gilt seine Maxime: Von deutschem Boden soll niemals wieder Krieg ausgehen."
Wagenknecht erklärt: "Ich fand das Wahlprogramm der CDU, das ist im Grunde eine Verdummung der Wähler. Also beziehungsweise: Sie halten uns für dumm. Ich finde schon deswegen sollte man solche Parteien nicht wählen, also bei mir ist da eine gewisse Aversion, wenn mich einer für blöd hält."
Wagenknecht spaltet
Der Auftritt der beiden wird auch in der Partei aufmerksam verfolgt, denn Wagenknecht und Lafontaine werben in Weimar für die neue Co-Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow, die hier für ein Direktmandat antritt. "Ja, so ungewöhnlich ist das ja nicht, es gibt ja zur neuen Parteiführung ein anderes Verhältnis als zur vorangegangenen, worüber ich sehr froh bin", sagt Wagenkecht. "Und deswegen haben wir das gerne zugesagt."
Sahra Wagenknecht ist Linken-Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen. Für nicht wenige in der Partei ist sie allerdings ein Feindbild, unter anderem wegen ihrer Konflikte und Auseinandersetzungen mit der früheren Parteiführung. Auch in ihrem kürzlich erschienenen Bestseller "Die Selbstgerechten" kritisiert Wagenknecht Teile der Linken hart. Die ehemalige Fraktionsvorsitzende wettert darin gegen Lifestyle-Linke aus dem urbanen Milieu, die die einfachen Menschen ihrer Ansicht nach vergessen haben.
Den ehemaligen Co-Parteichef Bernd Riexinger bezeichnet sie im Buch als den "damaligen Vorsitzenden einer linken Partei, dessen Name heute zurecht vergessen ist." Der 77-jährige Lafontaine wiederum hatte sich im Saarland mit dem dortigen Spitzenkandidaten überworfen und deshalb davon abgeraten, die Linke dort überhaupt zu wählen.
Burgfrieden vor der Bundestagswahl
"Das, was Sahra Wagenknecht wirklich macht, auch mit ihrem Buch, ist die Ängste der Leute zu erkennen und zu beschreiben. Das ist nichts, was wir in irgendeiner Form abgestritten hätten", sagt am Morgen nach dem Wahlkampf-Auftritt die Vorsitzende Hennig-Wellsow, die erst seit wenigen Monaten die Geschicke der Partei lenkt, gemeinsam mit der Hessin Janine Wissler. "Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir als Partei mit unserem Wahlprogramm, mit unseren demokratischen Entscheidungen auch für solche Ängste und die Ängste die sie beschreibt, gute Antworten gefunden haben."
Der Burgfrieden zwischen der Partei und ihren einstigen Führungsfigur ist auch ein Versuch, bis zur Bundestagswahl am 26. September aus dem derzeitigen Umfragetief herauszukommen. 2017 holte die Linke bei der Wahl noch 9,2 Prozent. Jetzt aber liegt sie in Umfragen zwischen 6 und 8 Prozent – also teilweise näher an der Fünf-Prozent-Marke als am anvisierten zweistelligen Ergebnis. Das dürfte auch mit der zu Ende gehenden Legislaturperiode zusammenhängen. Denn in den vergangenen vier Jahren fiel die Partei weniger durch politische Projekte und Initiativen auf als durch interne Streitigkeiten.
Der Historiker Thorsten Holzhauser, der den Weg von der PDS zur Linkspartei nachgezeichnet hat, zieht ein ernüchterndes Fazit: "Die innerparteilichen Auseinandersetzung zwischen den Flügeln der Vergangenheit, die konnten in diesen vier Jahren nicht befriedet werden. Gerade der Streit über Sahra Wagenknecht ist zeitweise derart eskaliert, dass man hier eine Spaltung kommen sah. Im Grunde also würde ich sagen, die letzten vier Jahre waren für die Partei verlorene vier Jahre."
Der österreichische Publizist Robert Misik, ein Kenner linker Parteien in ganz Europa, zweifelt sogar an der Glaubwürdigkeit des Markenkerns. "Es ist ja das eine zu sagen: Wir sind diejenige Partei, die auf Seite derer steht, die nicht auf die Sonnenseite des Lebens gefallen sind, oder die es schwer haben, oder die sich gar nicht mehr repräsentiert fühlen im politischen Prozess - weil man sich für sie überhaupt nicht mehr interessiert. Die zweite Frage ist: Sehen die das auch so, dass das ihre Vertretung ist?"
Und Horst Kahrs, der für die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung Wahlen analysiert, diagnostiziert ein Schmelzen der Stammwählerschaft. Denn die konnte sich zuletzt vorstellen, auch andere Parteien zu wählen. "Das war nach allen Erfahrungen im Westen vor allen Dingen die Partei der Grünen und im Osten eher die Sozialdemokratische Partei. Aber wir haben auch festgestellt, dass es bei den Wahlen in Brandenburg, in Sachsen oder auch in Sachsen-Anhalt nicht wenige linke Wähler gegeben hat, die die Partei des jeweiligen Ministerpräsidenten gewählt haben, weil sie verhindern wollten, dass die AfD zur stärksten Partei im Land wird."
Bundestagswahlkampf mit sozialen Themen
Die Linke befindet sich in einem zähen Umbruch. Neue Galionsfiguren vom Format Wagenknecht oder Gregor Gysi sind bislang nicht in Sicht. Im Osten der Bundesrepublik erinnert nur noch wenig an den einstigen Status einer Quasi-Volkspartei. Außerhalb von Thüringen, wo die Linke mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellt, kämpft die Partei mit altersbedingtem Mitgliederschwund, sinkender Präsenz vor Ort und deutlichen Stimmverlusten.
Auf der anderen Seite wird die Partei auch jünger, städtischer - und westlicher. In die Landtage schafft sie es im Westen aber selten. Und während junge Links-Aktivisten moderne Schwerpunkte einfordern, kommt das Gros der Linkenwähler aus dem älteren Teil der Bevölkerung, wie auch Parteichefin Hennig-Wellsow einräumt.
"Wir wissen natürlich, dass wir als Linke zuvorderst von den Generationen 50, 60+ gewählt werden. Wir werden natürlich das Rententhema stark machen, als eine der sozialen Fragen, und das ist auch eine Frage, die bundesweit eine Rolle spielt und nicht nur in den ostdeutschen Bundesländern oder in Norddeutschland, sondern auch eine bundesweite soziale Frage, die uns da sehr unter den Nägeln brennt."
Höhere Rentenbezüge, Rückkehr zur Rente mit 65: Auch sonst plakatiert die Linke im Bundestagswahlkampf fast ausschließlich Sozialthemen und Forderungen nach Umverteilung. Ein Mindestlohn von 13 Euro, mehr Geld für die Pflege, niedrigere Steuern für kleine und mittlere Einkommen, dazu eine Mindestsicherung von 1200 Euro. Mittelfristig hält die Partei auch eine reguläre Wochenarbeitszeit von 30 Stunden und 36 Urlaubstage für angemessen.
Im Gegenzug will die Linke die Schuldenbremse abschaffen und Wohlhabende belasten: Unternehmen und höhere Einkommen sollen stärker besteuert werden. Millionäre sollen sowohl mit einer Vermögenssteuer als auch mit einer einmaligen Corona-Abgabe zur Kasse gebeten werden. Oder, wie Co-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch es in seinen Reden formuliert: "Wir akzeptieren nicht, dass Familie Quandt-Klatten in der Krise 20 Milliarden Vermögenszuwachs hat. Wir stellen die Verteilungsfrage, und zwar sehr grundsätzlich."
Klima- und Sozialpolitik zusammendenken
Eher selten wirbt die Linke offen für ihre Haltung zur Flüchtlingsfrage oder mit Ideen für den Klimaschutz. Das sind die genau die Themen, die nicht der Wagenknecht-Agenda entsprechen – aber für den jungen Teil der Linken-Basis längst zum Markenkern gehören. So fordert die Partei zum Beispiel, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen. Wenn es nach den Linken geht, sollen dann auch keine neuen Autos mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen oder exportiert werden. Abfedern soll das alles der Staat, der den Klima-Umbau gezielt mit Transformationsprogrammen lenkt oder die Infrastruktur wie Strom- und Wärmenetze gleich ganz übernimmt.
Klima- und Sozialpolitik: In den vergangenen Jahren hat die Linke viele Debatten geführt, ob und wie das zusammenzubringen ist. Nicht wenige in der Partei fürchteten dabei auch, zu nah an die Grünen zu rücken. Die ehemalige Parteichefin Katja Kipping beschreibt den Diskussionsprozess so:
"Ich hab immer versucht deutlich zu machen, dass so manche Kontroverse, die wir als Linke geführt haben, dass das auch eine Debatte ist, die wir stellvertretend für die gesamte Gesellschaft führen. Und dass das nicht Ausdruck von irgendeiner besonderen Streitlust bei den Linken ist, sondern eher Ausdruck von Klärungsprozesssen, die vor der ganzen Gesellschaft stehen. Also jetzt nehmen wir mal die Frage Energiewende, Kohleausstieg: Da ist natürlich die Perspektive von Fridays for Future, die zurecht sagen, wir haben maximal noch ein paar Jahre um den Kipppunkt zu vermeiden, total richtig. Und zugleich muss man die Perspektive des Kohlekumpels mit einbeziehen und muss da eine gemeinsame Lösung finden. Zum Beispiel heißt das, es muss dann eben Beschäftigungsgarantien oder Einkommensgarantien für die Beschäftigten geben, um das zusammenzubringen."
Für den Historiker Thorsten Holzhauser versucht die Linke im ganzen Wahlprogramm, speziell aber in der Klimafrage, die Balance zwischen traditionellen und neuen Wählergruppen zu finden. "Linke Klimapolitik zeichnet sich dadurch aus, im neuen Wahlprogramm zumindest, dass sie möglichst wenige Zumutungen für die einzelnen Bürgerinnen vorsieht. Also, im Gegenteil soll es einige Erleichterungen geben, zum Beispiel umfangreiche Preissenkungen im Bus- und Bahnverkehr. Und damit versucht die Linke sehr stark die Klimafrage als soziale Frage zu adressieren und beide Themen sehr eng miteinander zu verzahnen."
Bewegungslinke versus Wagenknecht-Flügel
"Hallo, Mizgin Ciftci ist mein Name. Ich kandidiere für die Linke für den Bundestag und wollte mich gerne vorstellen und sie auch fragen, wo bei ihnen persönlich der Schuh drückt, was sie sich wünschen." - "Nee, ich mach wieder zu okay? Die Linke, das ist nicht mein Ding, okay?" - "Wenn man linke Politik macht, braucht man ein dickes Fell. Wobei ich weiß nicht, wie es Leuten geht, wenn sie hier für die CDU klingeln."
Ein Samstagnachmittag im August. Mizgin Ciftci arbeitet sich beim Haustürwahlkampf durch die Treppenhäuser der Hildesheimer Nordstadt, die als sozialer Brennpunkt gilt. Weißes Hemd, Sakko, gestylte dunkle Haare, ein fein getrimmter Bart. Der 29-Jährige ist auf der Suche nach Problemen - und möglichen linken Wählern.
"Wir haben Glück, wir wohnen schon lang genug hier im Haus. Mittlerweile unbezahlbar. Also umziehen nicht möglich." - "Ja, das ist aber traurig, wenn man sich vielleicht vergrößern möchte irgendwie als Familie." - "Wir wollen aus der Nordstadt raus, das ist unmöglich, kannste nicht bezahlen." - "Da fordern wir auch einen Mietendeckel, damit Mieten nicht weiter explodieren und Familien genug Wohnraum für sich und ihre Kinder finden."
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Ciftci ist Sohn kurdischer Eltern, seine Familie gehört zur Religionsgemeinschaft der Jesiden. Er ist ausgebildeter Gesamtschullehrer und derzeit Gewerkschaftssekretär. Auf Platz 4 der Niedersächsischen Landesliste hat er gute Aussichten auf ein Bundestagsmandat. Er wäre der erste Jeside im deutschen Parlament.
Parteiintern gehört Ciftci der Bewegungslinken an. Das Netzwerk wurde 2018 als Reaktion auf die Wagenknecht-Bewegung namens "Aufstehen" gegründet. Die Bewegungslinke verfolgt einen aktivistischen Ansatz: Sie sucht die Nähe zu neuen sozialen Bewegungen, vor allem aus den Bereichen Antirassismus und Klimaschutz. Ciftci holte den Listenplatz in einer Kampfkandidatur gegen den einflussreichen Strippenzieher und Wagenknecht-Freund Dieter Dehm.
Mehr Bewegungslinke, weniger Wagenknecht-Flügel: Ein Trend, der auch im Parteivorstand sichtbar ist, wo die Strömung neben dem ostdeutschen Reformerlager am stärksten vertreten ist. Symbolisiert Ciftci also neue Realitäten in Gesellschaft und Linken?
"Ich würde sagen, ich symbolisier keine Veränderung der Gesellschaft und keine Veränderung der Linken. Weil diese Gesellschaft immer bunt und vielfältig gewesen ist und es immer Arbeiterkinder in dieser Gesellschaft gab, die ihren Beitrag geleistet haben. Die Linke hatte immer den Anspruch, diese Menschen zu vertreten. Aber ich bin eine Veränderung in der Politik, weil Menschen wie ich bisher völlig unterrepräsentiert waren in der Politik."
Die Linke in Landesparlamenten unterrepräsentiert
Unterrepräsentiert, das ist die Linke trotz guter Mitgliederentwicklung auch in Niedersachsen, wo sie seit 2013 nicht mehr im Landtag vertreten ist. Außerhalb der Stadtstaaten schafft es die Partei nur im Saarland und in Hessen regelmäßig in westdeutsche Landesparlamente. Das rächt sich: Nach der jüngsten Hochwasser-Katastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen etwa war die Linke mangels Landtagsfraktion kaum sichtbar. Horst Kahrs von der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung sieht in dieser fehlenden landespolitischen Verankerung eine zentrale Schwäche - gerade wenn es um Rot-Rot-Grün im Bund geht.
"Weil es doch sehr ambitioniert ist, dass im Bund eine Partei regiert, die nicht mal in den bevölkerungsstärksten Landesparlamenten vertreten ist. Also sprich nicht in Nordrhein-Westfalen, nicht in Baden-Württemberg, nicht in Bayern. Das ist kein stabilisierender Faktor für eine Bundesregierung, wenn daran eine Partei beteiligt ist, die es nicht in diese Landesparlamente schafft."
Ob ein Bündnis von SPD, Grünen und Linken zustande kommt, das wäre auch bei einer rechnerischen Mehrheit fraglich. Die Außen- und Sicherheitspolitik gilt nach wie vor als Bruchlinie. Die Abstimmung zum Bundeswehrmandat für die Evakuierungsmission in Afghanistan vergangene Woche hat diese Bruchlinie noch einmal vertieft.
"Die Entscheidung der Partei die Linke, nicht dem schwierigen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan die notwendige Unterstützung zu geben, hat mich echt sehr betrübt", so Olaf Scholz vergangenen Sonntag beim Fernsehtriell der Kanzlerkandidaten. Auch Annalena Baerbock von den Grünen warnte bei dieser Gelegenheit, die Linke schließe sich mit so einer Haltung von Regierungsverantwortung aus.
Dass sich die Linksfraktion mehrheitlich enthielt und nur sieben Abgeordnete gegen das Mandat stimmten, deuten manche in der Partei als leichten Wandel in der außenpolitischen Haltung. So zum Beispiel die Linken-Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow. "Was uns aber gelungen ist, ja auch als Parteivorstand, das gab’s auch seit längerer Zeit zum ersten Mal, ist, der Fraktion eine Empfehlung zu geben, die auf Enthaltung plädiert hat. Eben weil wir so unterschiedliche Positionen haben. Und es immerhin erreicht haben, dass 48 unserer Abgeordneten eben nicht gegen diesen Einsatz gestimmt haben. Ich weiß, das mag jetzt kleinteilig wirken, aber für uns ist das schon ein Fortschritt."
Die meisten in der Partei sehen die Linke mit ihrer 20-jährigen Ablehnung des Afghanistan-Einsatzes auf der richtigen Seite der Geschichte. Zumal man die Rettung der Ortskräfte und einen Abschiebestopp nach Afghanistan bereits seit Monaten gefordert hatte. Und so beklagen Linken-Politiker, dass SPD und Grüne die ungeliebte Linksoption nun unter einem Vorwand beerdigten. "Wenn man etwas will, dann sucht man nach Wegen. Wenn man etwas nicht will, dann findet man Gründe", so die Co-Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin Janine Wissler dieser Tage im ZDF. "Und deshalb finde ich sollte man darüber reden, was denn zu dritt möglich wäre, bei der Frage von Umverteilung, Klimaschutz, bezahlbare Mieten, darüber sollte man als erstes mal reden."
Die intern hart erkämpfte Regierungsbereitschaft der Linken droht also folgenlos zu bleiben. Manche würde das durchaus erleichtern, weil es der zerbrechlichen Partei harte Kompromissdebatten ersparen würde, zum Beispiel in der Haltung zur NATO. Andere dagegen blicken sehnsuchtsvoll dorthin, wo die Linke keine Angst vor dem Regieren hat. Der Publizist Robert Misik analysiert: "Dort wo die Linke noch erfolgreich ist, wie in Thüringen, dass das einerseits über ein quasi-Kopieren des traditionellen sozialdemokratischen Modells funktioniert. Aber wir sehen auch, wie zum Beispiel in Berlin, wo eine moderne, also radikalreformerische und auch freiheitsemanzipatorische Linkspartei durchaus ihren Platz behaupten kann."
Berlin spielt auch auf Bundesebene für die Linke eine große Rolle. Genauer gesagt der Berliner Osten. 1994 scheiterte die damalige PDS an der Fünf-Prozent-Hürde. Dank vierer Direktmandate im Ostteil Berlins zog die Partei dennoch in den Bundestag ein. 2002 lief es anders. "Meine Kollegin Gesine Lötzsch und mich eint eine einzigartige Erfahrung. Nämlich im Jahre 2002 haben wir unsere Wahlkreise gewonnen, aber die Partei hat keine fünf Prozent auf sich vereinigen können. Daraus folgte, dass wir nur zu zweit im deutschen Bundestag vertreten waren", erzählt Petra Pau an einem Sommertag in Marzahn-Hellersdorf, ihrem Berliner Wahlkreis.
"Es gibt eine Regelung im bundesdeutschen Wahlsystem, dass eine Partei, der es gelingt drei Direktwahlkreise zu gewinnen, in voller Stärke nach dem Zweitstimmenergebnis in den Bundestag als Gruppe einzieht. Insofern gehöre ich mit zur parlamentarischen Lebensversicherung der Partei Die Linke."
Wichtige Klärungsprozesse stehen bevor
Pau besucht an diesem Nachmittag die Tafel in Hellersdorf. Mit dabei sind auch die Linke Bezirksbürgermeisterin und der linke Kultursenator Klaus Lederer, der Regierender Bürgermeister werden will. Beim Kaffee erzählt eine Tafel-Helferin von den Veränderungen durch die Corona-Pandemie.
"Es sind viele ältere Leute weggegangen, die jetzt gesagt haben: Ich schaffe es nicht mehr herzukommen. Dann das Draußenstehen haben sie nicht mehr geschafft, weil sie nicht mehr runterkommen konnten und sich vorher hier ins Café setzen."
Pau gilt als Abgeordnete, die im Wahlkreis oft präsent ist und sich kümmert. Trotz wachsender Konkurrenz werden ihr gute Chancen nachgesagt, das Direktmandat zu verteidigen - genau wie Gregor Gysi im Nachbarbezirk. Zwei weitere Berliner Direktmandate wackeln dagegen, das Fünfte in Leipzig gilt als schwer zu verteidigen. Dass es auf die "Lebensversicherung" der Direktmandate ankommt, die Linke also unter fünf Prozent fällt, ist nicht völlig ausgeschlossen.
Zwischen drohender Fünf-Prozent-Hürde und möglichen Sondierungsgesprächen wartet nach der Bundestagswahl viel Arbeit auf die neue Parteiführung. Zum Beispiel bei der Verankerung vor Ort. Es gebe zu viele weiße Flecken auf der linken Deutschlandkarte, sagt Parteichefin Wissler. "Weil am Ende denke ich, dass daran auch die Wahlergebnisse hängen. Dass die Linke eben nicht nur im Fernsehen mal irgendwie durch nen guten Talkshow-Auftritt zu sehen ist oder durch eine gute Bundestagsrede. Sondern dass es eben diese Menschen vor Ort gibt, wo Leute sagen: ‚Ja, die oder den, die kenn‘ ich. Immer wenn ich ein Problem hab und mich an den wende, dann unterstützt der mich. Das ist der, der im Mieterbündnis mitarbeitet oder beim Sozialverband aktiv ist, also diese Gesichter vor Ort, das ist das, was die Partei ausmacht.
Linken-Kenner wie Kahrs, Holzhauser und Misik dagegen sehen die Partei vor schmerzhaften Richtungsentscheidungen. Thorsten Holzhauser: "Entweder, indem man sich auf Themen konzentriert, die die Partei zusammenhalten, statt auf Spaltungsthemen - also gerade Fragen der sozialen Sicherheit beispielsweise. Oder aber auch, das ist die zweite Option, indem die Spaltung endlich durchgesetzt wird, die sich seit langem anbahnt. Beides sind sehr unangenehme Optionen aus Parteisicht."
Und Robert Misik betont, dass es bei der Linken immer auch auf das "Wie" der Richtungsentscheidungen ankommt. "Einerseits ist die Linke zu heterogen, als dass sie noch irgendwie klar verständlich machen kann, wofür sie steht. Das heißt, sie bräuchte eigentlich Klärungsprozesse. Aber diese Klärungsprozesse müssen auch in einem Geist der Integration geführt werden."
Ob dies in der Linken gelingen kann: Ausgang offen.