Archiv


Die Lügnerin

Als Kind wollte Linn Ullmann immer Marlon Brando in der Rolle des Don Corleone sein. Dahinter verbirgt sich bis heute ihre Sehnsucht nach einer großen Familie. So wie die, in der sie aufwuchs. Fast notwendigerweise ist also der erste Roman von Linn Ullmann, "Die Lügnerin", ein Familienroman. Eigentlich sollte es gar keiner werden, sagt sie, aber das Thema "Familie" scheine auf sie eine "perverse Faszination" auszuüben. Doch natürlich gibt es auch eine literarische Motivation. Linn Ullmann:

Dina Netz |
    "Zu den interessantesten Dinge beim Schreiben über das Thema "Familie" zählt, daß viele Schriftsteller zu allen Zeiten über "Familie" geschrieben haben, von Sophokles bis heute. Denn nirgendwo anders findet man soviel Subtext. Wenn ein Familienmitglied mit einem anderen Familienmitglied spricht, hört man ihn etwas ganz Normales sagen. Aber in Wirklichkeit sagt er etwas ganz Schreckliches. Es gibt da immer so viele Schichten von Subtexten, und das ist großartig für einen Schriftsteller."

    In "Die Lügnerin" wandert der Großvater der Familie Blom Anfang der 30er Jahre nach New York aus. Nach seinem Tod kehrt seine Frau mit den beiden Töchtern nach Oslo zurück. Eine dieser Töchter wird wiederum zweifache Mutter von Julie und Karin, der Ich-Erzählerin des Romans. Der Vater verläßt die Familie, Julie heiratet, bekommt den Sohn Sander. Soweit die ganz gewöhnliche Figurenkonstellation. Und auch das ist nicht ungewöhnlich: Alle sind auf ihre Weise unglücklich, vor allem wenn sie miteinander umgehen müssen. Zitat:

    "Ich sehe bleiche Gesichter, eins nach dem anderen nach dem anderen nach dem anderen um den weißgedeckten Tisch, geschlossene Augen. Ich sehe Abscheu, soviel Abscheu um einen Eßtisch gibt es nicht einmal in der unglücklichsten Familie, und wir waren nicht einmal eine besonders unglückliche Familie, aber wir waren viele. Unglücklich oder nicht, wer kann das schon sagen? Wir waren ein wenig dies und ein wenig das. Aber ich kann auf jeden Fall sagen, daß wir viele waren."

    "Die Lügnerin" erzählt vom erlittenen und selbst geschaffenen Unglück der Familienmitglieder. Bei der Lektüre ist nur zu erahnen, warum sich diese Menschen in so unwahrscheinlich wahrhaftigem Maße selbst im Wege stehen:. Ullmann:

    "Sie haben sehr, sehr hohe Erwartungen an ihr Leben, an die Dinge, von denen sie träumen, an die Idee, daß sie wirklich etwas ganz Besonderes aus ihrem Leben machen werden. Diese Idee des Wartens im Buch - eine Menge Leute warten die ganze Zeit, warten darauf, daß etwas ganz Großes passiert. Sie wissen nicht ganz genau, wann das passieren wird. Es könnte eine Liebe sein, es könnte ein toller Traum sein, der wahr wird, oder es könnte der Aufbruch in ein neues Land sein. Eines Tages jedenfalls -fast ist es wie der Amerikanische Traum - hier spielt mein amerikanischer Hintergrund mit hinein - wird es passieren. Es geht also um hohe Erwartungen in Verbindung mit der Traurigkeit, die immer mit hohen Erwartungen einhergeht."

    Linn Ullmann, 1966 geboren, ist die Tochter der Schauspielerin Liv Ullmann und des Regisseurs Ingmar Bergman. Ihr amerikanischer Hintergrund, das bezieht sich darauf, daß Linn Ullmann in New York Literatur studiert hat und danach, vor etwa 10 Jahren, nach Oslo zurückkehrte. Sie ist in Norwegen eine angesehene Literaturkritikerin mit eigener Kolumne in der größten Zeitung "Dagbladet". Und wie sie befürchtet hat, stürzen sich die Boulevardjournalisten wie Geier auf ihr Buch und versuchen, ihm autobiographische Informationsfetzen über die Familien Bergman/Ullmann zu entreißen. Fehlanzeige, Linn Ullmann hat - ganz klar - aus ihren Erfahrungen geschöpft, aber ihre Familie Blom ist einzig und allein die Familie Blom. Diese besteht natürlicherweise aus Männern und Frauen. Nur bleiben die Männer ziemlich schemenhaft. Diese Beobachtung verwundert Linn Ullmann:

    "Wenn man eine Frau ist, heißt es: "Sie haben also ein Frauen-Buch geschrieben?" Aber niemand fragt Tom Wolfe: "Haben Sie ein männliches, ein typisch männliches Buch geschrieben?"

    Außerdem gibt es zumindest eine sehr akzentuierte männliche Figur in "Die Lügnerin". Es ist die Erzählerin Karin Blom, ein androgynes Mannweib mit einem ungeheuren Männerhunger. Sie treibt das Spiel der Lügen und verschwiegenen Wahrheiten in der Familie Blom zum Exzeß. Nur zwei Figuren in Ullmanns Buch zeigen ein einziges Gesicht. Die eine ist die abstoßendste, Tante Selma, die "zornigste alte Dame der Welt". Sie beschimpft und beleidigt ihre Familie, aber das meint sie zumindest ehrlich. Und der zweite ist der kleine Junge, Sander, dessen Geschichte den Roman einrahmt und der als einziger keine menschlichen Fehlfunktionen aufweist. Linn Ullmann legt ihrer Familie Blom für ihre offenen und verdeckten Konflikte knappe, unpathetische Sätze in den Mund.:

    "Åse sagt, ist das nicht ein wunderschöner Tag für eine Hochzeit - und da müssen ihr alle zustimmen. Ja, es ist wirklich wunderschöner Tag, sagt Anni und schaut zur Sonne hoch. Alle anderen schauen auch zur Sonne hoch. Sicher, sagt Åge nachdenklich, auch heute scheint die Sonne. Ja, sagt Anni. Alle sehen Anni an. Ich finde, es ist ein wunderschöner Tag für eine Hochzeit, sagt Åse noch einmal. Aber sicher, es ist ein wunderbarer Tag für eine Hochzeit, ruft Aleksanders Bruder Torvid."

    Und so weiter, und so fort. Natürlich ist das kein brillant gewandter Stil, keine expressionistische Metaphorik. Aber man ist versucht, auszurufen: Genau so ist es! Familienfeste, die Akkumulation von Menschen mit diametral entgegengesetzten Lebensentwürfen nach dem Zufallsprinzip - diese herrlich dürren Worte beschreiben höchst treffend die ganze Sprachlosigkeit einer solchen Kommunikation.

    Nur manchmal, da gehen Karins Phantasie und Sprache faßt wie in einem Bewußtseinsstrom mit ihr durch. Dann mutiert zum Beispiel ihr cowboybestiefelter Liebhaber munter zum Goldfisch. Etwa wie in Ingo Schulzes "33 Augenblicke des Glücks" gleiten die Geschichten plötzlich vom Alltäglichen ins Surreale ab. Zitat: "Carl war aufgewacht. Carl war nicht mehr Carl. Carl war eine Makrele. Carl war ein kleiner grüner und blauer Fisch, der verzweifelt auf der Bettdecke zappelte und rief: "Was hast Du mit mir gemacht was hast du mit mir gemacht?" Ich sah ihn an. Ich schlug die Hand vor den Mund. Er hatte hellblaue Glubschaugen und zwei große und sieben kleine Flossen. [Carl keuchte: Ich brauche Wasser, sonst muß ich sterben. Ich hob die Hand und legte sie auf meinen Mund. Ich setzte mich auf die Bettkante. Carl, sagte ich... es tut mir so schrecklich leid... Du mußt dich beeilen, schrie er, ich brauche Wasser. Seine Stimme klang genau wie sonst: ein wenig zu hell und zu näselnd für einen Mann."

    Das Buch oszilliert ein bißchen zwischen Satire und Psychogruseln. Die erste Hälfte ist komisch, die Bloms in ihrer Hilflosigkeit mit- und gegeneinander bösartig humorvoll karikiert. Linn Ullmanns Buch wird nicht ohne Grund oft mit Woody Allen-Filmen verglichen. Aber dann wird die Depression zu groß, der Roman wird beklemmend, düster. Um am Schluß etwas brüsk in eine rührende Szene zwischen der Ich-Erzählerin und dem kleinen Jungen umzuschlagen, die in scharfem Kontrast zum sonst stakkatohaften Rhythmus steht und den Lesefluß stocken läßt. Dazu Ullmann:

    "Dieser Kontrast war mir sehr wichtig. Fast als hätte ich die Absicht gehabt, daß das Buch eine Art Striptease vollzieht. Ich wollte mit einer großen Maskerade starten und dann langsam all die Gesichter und die Geschichten und das Lustigmachen und die Verführung und all der Wahnsinn, der in dem Buch vorkommt, wegnehmen, ein Kleidungsstück nach dem anderen ausziehen, mein eigenes Buch, mein eigenes Projekt auseinandernehmen. Und es zu etwas komplett anderem machen. Deshalb ist das Buch genau das Gegenteil des deutschen Titels, es ist nicht "die Lügnerin". Denn es ist wirklich ein Versuch, zu etwas Aufrichtigem zu gelangen."

    Mit dem deutschen Titel "Die Lügnerin" ist Linn Ullmann gar nicht zufrieden. Im Original hat ein Rilkegedicht für den Titel Pate gestanden: Zum Einschlafen zu sagen. Treffend, denn der Zustand zwischen Wachen und Schlafen bestimmt nicht nur Inhalt, sondern auch Form des Romans. Er hat etwas von einem Memory-Spiel: Einzelne Passagen, Sätze kehren immer wieder, werden anders kombiniert, fügen sich zu einem Mosaik zusammen. Und diese assoziative Methode korrespondiert mit dem Geisteszustand der Romanfiguren, halb wach, halb schlafend. Ullmann:

    "Die Struktur, die Form des Buches, das Licht in dem Buch sollen dem Zustand der Schlaflosigkeit ähneln. Wenn man hellwach und extrem müde ist, wenn man mitten in der Nacht wach liegt und alle Türen auffliegen, die in unterschiedlichste Wirklichkeiten führen. Und man hat Träume auf der einen Seite und Angst auf der anderen und man hat alltägliche normale Probleme auf jener Seite. Alles ist merkwürdig kombiniert. Man hat nicht diese strengen Trennlinie zwischen Phantasie und Realität, wie man sie tagsüber hat, wenn der Verstand besser in der Lage ist, Dinge zu trennen. Und dieser Zustand ohne Trennlinie, ohne Grenzen ist sehr aufregend, manchmal sehr beängstigend."

    Ein bißchen befremdet in "Die Lügnerin" das sporadische und willkürliche Apostrophieren eines imaginären Lesers. Das Buch braucht diese Instanz nicht. Eigentlich braucht es nicht einmal einen Erzähler. Es lebt fast ausschließlich von dialogischen Elementen. Die Kapitel sind abgeschlossen und visuell wie Filmszenen. Und da muß man nun doch auf die Biographie Linn Ullmanns referieren: Mit 2 nahm ihr Vater sie zum ersten Mal mit ins Kino. Und die bewegten Bilder haben Linn Ullmanns Schreiben beeinflußt:

    "Film gehört zu meinem Leben. Ich sehe Filme, seit ich zwei war. Den "Paten" habe ich gesehen, als ich zehn oder zwölf war. Ich sah ihn, und Wow! Marlon Brando! Der Pate! Das ist großartig! Das Kino ist der einzige Ort, wo man hineingeht, und es ist dunkel, und man bekommt vielleicht was Süßes. Und es wird so fantastisch sein. Ich glaube, das Leben vor den Filmen muß schrecklich gewesen sein. Es ist ein guter Ort, im Kino zu sein - in der Dunkelheit."