Die »lyrix«-Gewinner im Februar 2016

Im Februar haben wir das "Tor in deiner Sprache" gesucht – und manchmal auch gefunden. Ihr habt gezeigt, wie Sprache verbindet, aber auch wie sie diese Verbindungen zerstören kann. Inspiration fandet ihr in Orsolya Kalász‘ Gedicht "Die Sprache gibt den Löffel ab" sowie in der Bronzegestalt "Hyazinth", die im Museum Bad Arolsen ausgestellt ist.

    Die richtigen Worte zu finden ist sehr kompliziert und manchmal ist es gar nicht unsere Schuld, wenn unser Gegenüber sie dann doch missversteht. Wir setzen Worte ein, um in Kontakt zu treten und um unseren Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu verleihen. Worte sind mächtig, sie können trösten, ein Lächeln hervorrufen, zum Nachdenken anregen und ein "Brückenschlag" sein. Genauso können sie aber auch verletzen, zerstören und demütigen. Worte können brutaler als körperliche Gewalt sein. Schon ein einziges Wort kann alles zerstören, was viele andere mühsam aufgebaut haben.
    Dabei ist das gar nicht immer beabsichtigt, sondern bloß Folge eines Missverständnisses, weil man "aneinander vorbeiredet", "nicht dieselbe Sprache spricht" und sich im Endeffekt nur noch "um Kopf und Kragen redet". Manchmal ist es besser zu schweigen. Es gibt Situationen, in denen es gar keiner Worte bedarf, in denen die Stille aussagekräftig genug ist, weil "stillleben […] ihre eigene sprache [haben]".
    Sprache kann – ob ausgesprochen oder stumm – ein Schatz und ein Geschenk sein. Worte zu sammeln, zu bewahren, ihre Bedeutung und Kraft nicht abzunutzen, sondern alle "leisen und vergessenen worte […] ins kleine album [zu legen]" und "den schatz der sätze […] vor der hektik gut" zu verstecken, ist sehr kostbar.
    Mit Worten einen Zugang zu finden kommt uns oft anstrengend und mühsam vor, weil wir krampfhaft nach einem "Entschlüsselungsschlüssel" suchen, obwohl "unsere tore [längst offen] stehen". Man muss nur aufmerksam und "mutig genug [sein] hindurchzuschreiben".
    Wir gratulieren den Gewinnern im Februar und danken euch allen für eure Einsendungen!
    Die Monatsgewinner im Februar 2016:
    mit und ohne worte
    sprich mit mir
    wütend zerrt der wind
    an klapprigen fensterläden
    und undichten fenstern
    antworte mir
    zischend fauchend löscht
    er tropfende kerzen
    in der ferne
    donnern wellen
    gischtig an den strand
    bedrohlich werfen wir uns
    worte an den kopf
    augen sprühen hass
    augen flehen
    sprache ohne worte
    anheimelnde ruhe
    knisternder kamin
    auf dem tisch
    früchtechaos
    zerknülltes papier
    stillleben
    stillleben haben
    ihre eigene sprache
    welche worte
    willst du hören
    willst du lesen
    silbern glänzt wasser
    in glutheißer sonne
    silberhell perlen worte
    aus kussroten mündern
    gedanken wollen neu gedacht
    und worte neu erfunden werden
    ich schreie stumm
    laut in die stille
    lippen formen gedanken
    flüstern worte
    papier hält worte fest
    papier kann zeiten überdauern
    papier gibt zwischen
    gesagten
    ungesagten
    worten raum
    … hält still gedanken fest
    manche bücher
    müssten
    leicht sein … glücklich
    frei wie bunte vögel
    andere
    tonnenschwer wie blei
    … müssten meere weinen
    oder
    glühn vor wilder leidenschaft
    viele
    sprechen die gleiche sprache
    ohne
    einander zu verstehen
    ich hasse dich
    ich liebe dich
    sprache zerstört
    sprache verbindet
    Lara-Sophie Cronhardt-Lück-Giessen, Jahrgang 2000
    Brückenschlag
    Torweg, stelzend im Wasser
    den Horizont abgelaufene Stunden:
    Verlängert die Brücke
    in jede Richtung des Worts
    geradeheraus sollt ihr
    die Enden der Sprache einreißen
    kostbar ist jeder Balken
    wertig soll er auch sein -
    die Brücke wird halten
    schon mit zwei Stützen allein
    René Kartes, Jahrgang 1996
    Physik
    ich werde dir beweisen
    es zumindest versuchen
    dass dieses Gerüst bald einstürzt
    das Fundament ist unstabil
    unordentlich gelegte krumme Steine
    selbst die Wände haben Risse
    es wird einstürzen
    aber du wirst mir nicht glauben
    ich versuche dir klarzumachen
    dass das keine Interaktion ist
    fundamentale Wechselwirkung
    zwei Körper wirken auf einander ein
    mit der gleichen Kraft
    und erhalten die gleiche Kraft auch zurück
    das kann man nicht allein
    aber du wirst mal wieder nur widersprechen
    ich habe versucht dir zu erklären
    dass ich bald platzen werde
    der Druck stieg in mir
    brauchte einen Ausweg
    fand keinen
    bis er mich in Fetzen zerriss
    nur dass du es nie verstanden hast
    wie denn auch, hast ja nie Physik gelernt.
    Yuliana Mosheeva, Jahrgang 1997
    ring- und zeigefinger auf die handfläche gepresst, die anderen finger weit ausgestreckt
    "ausdruck von gedanken in worten"
    es ergrimmt mich was die großen märchenerzähler einst niederschrieben.
    müssen es worte sein? buchstaben? silben? zeichen?
    hand zur faust, zeigefinger entlang der unteren fingerglieder ausgestreckt, daumen mittig über dem zeigefinger aufgerichtet.
    wer definiert, was ein wort ist?
    _ . _
    wer die Tore finden will, muss nicht nur die ohren, sondern auch die augen öffnen. darf keinen seiner sinne vernachlässigen.
    finger gekrümmt und durch den daumen zu einem kreis geschlossen.
    kann sprache nur den geist enthüllen,
    ist unser herz mit stummheit geschlagen?
    doch definitionen sehen in unserem herz auch nur den lebenserhaltenden muskel, der blut durch unseren körper schickt.
    .
    lebenserhaltend ja. doch so wie der begriff "herz" für uns so viel mehr bedeutet, lässt sich auch wort ausweiten.
    hand zur faust, nur zeige- und mittelfinger ausgestreckt und gekreuzt.
    einander verstehen, einander entschlüsseln.
    _ . _ _
    glaub mir, es gibt gar keinen schlüssel.
    ring- und zeigefinger auf die handfläche gepresst, die anderen finger weit ausgestreckt.
    ist es nicht das, was wir immer und immer wieder sagen wollen?
    mit all unseren worten, taten, gesten, blicken, gebärden, lauten, geräuschen.
    es ist gar nicht der schlüssel, den wir finden müssen. unsere Tore stehen offen.
    wären wir nur mutig genug, hindurchzuschreiben.
    Karen Schmitt, Jahrgang 1996
    Ohne Worte.
    in schwarzen nächten leuchtet schnee
    noch unschuldig und ohne spur
    wird die dunkelheit geweckt
    von einem kind das bei sich nur
    ein kleines album trägt in dem
    sorgsam jene worte wohnen
    die vor der hektik gut versteckt
    auf weichen sanften seiten thronen
    wenn der mond am himmel leuchtet
    wenn hund und katz schon träume träumen
    geht das kind den berg hinauf
    blickt über dörfer und den bäumen
    in solchen nächten findet es
    die leisen und vergessenen worte
    die der nachtwind aufwärts trägt
    zum hohen berg an jenem orte
    sinkt eins allein zu boden nieder
    und das kind hebt es dann auf
    legt das wort ins kleine album
    blickt zum sternenhimmel auf
    wenn worte wider wände hallen
    trotz der macht des widerstands
    wenn winde lettern westwärts tragen
    ins nirgendwo ins nimmerland
    dann gibt das kind - die sammlerin der
    worte diesen ein neues heim
    es weiß durch den schatz der sätze
    ist es nie wirklich allein
    irgendwann und irgendwo
    wird das kind die liebe finden
    und ihr dann all die worte geben
    um sie damit an sich zu binden
    nach jahr und tag trifft es auf sie
    am straßenrand mit tiefem blick
    das kind das öffnet seinen mund
    um zu sprechen doch spricht es nicht
    stattdessen sehen sie sich nur an
    musik schwillt langsam an zum forte
    wenn zwei dieselbe sprache sprechen
    verstehen sie sich auch ohne worte.
    Jing Wu, Jahrgang 1995