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Die Macht der Taliban

In Pakistan ist der Islam zwar Staatsreligion, nach der Verfassung darf aber jeder Bürger seine eigene Religion ausüben. Nun klagen Hindus, Sikhs, Christen und sogar die islamischen Schiiten über zunehmende Anfeindungen im mehrheitlich sunnitischen Pakistan.

Von Michael Briefs |
    Der Journalist und Autor Ahmed Rashid analysiert seit über dreißig Jahren das Problem des wachsenden religiösen Extremismus in Pakistan.

    "Als ich geboren wurde, lebten in Pakistan 23 Prozent Nicht-Muslime. Heute sind es nur noch drei Prozent. So viele haben das Land verlassen und das ist das Tragische. Die Talibanisierung der pakistanischen Gesellschaft findet weiterhin tagtäglich statt. Mit Todesdrohungen, Kidnappings und Morden."

    Das betrifft vor allem Journalisten, die in Pakistan über religiösen Extremismus berichten.

    "Die Bedingungen, unter denen ich schreibe und lebe, sind sehr schwierig. Zu meinem Schutz und zu dem meiner Familie sind eine ganze Reihe Sicherheitsleute im Einsatz. Ich kann mich nur sehr eingeschränkt im Land bewegen. Das ist sehr schwer für mich und meine Familie."

    Es ist ein dramatisches Bild, das Ahmed Rashid in seinem letztjährigen Buch "Am Abgrund – Pakistan und Afghanistan und der Westen" zeichnet. Wenn sich die Konflikte zwischen den Religionen und islamischen Gruppen untereinander weiter verschärfen, könnte Pakistan in Chaos und Anarchie versinken.

    "Die Extremisten wollen einen rein sunnitischen oder wahhabitischen Staat, aber den hat es vorher nie gegeben. Der Prophet Mohammad lebte in einer Gesellschaft mit Juden und Christen, anderen religiösen Gruppen und Animisten zusammen. Damals herrschte religiöse Toleranz. Wie können sich heute islamische Fundamentalisten auf diese Zeit beziehen und gleichzeitig eine islamische Einheitsgesellschaft fordern."

    Seine Bücher versteht Ahmed Rashid als eine Warnung an die jüngere Generation gebildeter Pakistaner, sich politisch zu engagieren und gegen den Extremismus zu wehren. Seit Beginn der Islamisierungspolitik in den 1980er Jahren unter Militärchef Zia ul-Haqq wurde besonders radikalen islamischen Gruppen öffentliche Agitationsspielräume gegeben. Nichtmuslimen wurde es dadurch immer schwerer, dem Druck von Straße und Regierung entgegenzutreten und einen multireligiösen Dialog zu führen. Ahmed Rashid:

    "Die Gründe für die Misere liegen primär darin, dass der pakistanische Staat, allen voran das Militär und die Geheimdienste, die Extremisten und islamistischen Kämpfer mit aufgebaut hat, um in Kaschmir gegen Indien oder in Afghanistan zu kämpfen. Wenn sich ein Staat einmal dazu hinreißen lässt, kann er nicht einfach umkehren und vor den Gefahren des Extremismus warnen. Der Punkt ist, dass in der pakistanischen Armee, unter den Offizieren, selbst Extremisten sind, die mit radikalen Islamisten zusammenarbeiten."

    Während langer Phasen der pakistanischen Militärdiktatur waren Hunderte von Religionsschulen in den Unruheprovinzen nahe der afghanischen Grenze der letzte Ort freier politischer Artikulation.

    "Das von den Briten übernommene Schulsystem ist kollabiert und wurde durch Religionsschulen ersetzt, die den internationalen Dschihadismus und einen militanten globalen Islam predigen. Sie genügen internationalen wissenschaftlichen Ansprüchen genauso wenig wie die noch übrigen staatlichen Schulen, die es nicht mehr schaffen, die ursprünglichen Werte der Pakistanischen Nation zu vermitteln."

    Die Vorsteher der Religionsschulen organisierten den Widerstand gegen die Militärdiktatur, gleichzeitig fungierten sie als Moralwächter der städtischen Gesellschaft. Für die konservativen Maulanas ist die zunehmende Islamisierung des Militärs der größte Erfolg. Ihr Einfluss hat in den vergangenen Jahren ständig zugenommen, auch dank der Unterstützung durch die afghanischen Taliban. Bislang sind Verhandlungsversuche der frisch gewählten Regierung unter Nawaz Sharif erfolglos geblieben. Die Taliban setzen ihre Gewalttaten unbeirrt fort.

    "Die Führungsgarde der Taliban besteht zu einem Teil noch aus Kämpfern, mit denen ich in den 1990er Jahren gesprochen habe, als ich mein erstes Buch über die Taliban schrieb. Heute liegt die Macht in Händen von jüngeren, viel radikaleren Kommandeuren. Sie torpedieren den Friedenprozess. Beide gehören der einen Bewegung an, aber es gibt einen Machtkampf zwischen Hardlinern und eher moderaten Kräften."

    Die pakistanische Regierung kämpft gleich gegen mehrere Aufstände, nicht wie in Afghanistan, wo es allein um den Machtkampf Regierung gegen Taliban geht. Im Nordwesten Pakistans versuchen pakistanische Taliban, die Scharia einzuführen und den Staat zu stürzen. Pakistankenner sprechen heute von einem "failed state".

    "Der pakistanische Staat ist noch nicht völlig gescheitert. Noch existiert eine sehr starke politische Lobby, dank lebhafter Medien und zivilgesellschaftlicher Gruppen und dem Widerstand von Frauenorganisationen. Sollte die Regierung jedoch den Sektenradikalismus der letzten 25 Jahre nicht in den Griff kriegen, weil ihr eine Vision für ein anderes Pakistan fehlt, dann werden wir als Staat scheitern."