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Die Märtyrerverehrung in Arabien

Die Leibniz-Preisträgerin Friederike Pannewick analysiert arabische Literatur. Ihr Fokus ist die politische Dimension der Texte. Märtyrer sind dort nicht mehr nur religiöse, sondern vor allem politische Helden.

Von Matthias Hennies |
    Friederike Pannewick erforscht die arabische Literatur - und findet darin nicht nur eine große, hierzulande kaum bekannte ästhetische Kunstfertigkeit, sondern auch gesellschaftliche Einstellungen von aktueller politischer Brisanz. Etwa in diesem Gedicht:

    Ein Körper liegt da, hingeworfen zwischen Bergpfaden,
    Raubtiere streiten sich um ihn.
    Blut überzieht die Erde mit Purpur und macht den Ostwind
    Schwer vom Duft des Moschus.
    Ein Lächeln umspielt seine Lippen, voll Spott
    Über dieses niedere Dasein.


    Der palästinensische Dichter Abd ar-Rahim Mahmud verherrlichte den Tod eines Märtyrers 1937, im Kampf gegen jüdische Einwanderer, die in Palästina ihren eigenen Staat gründen wollten. Damals entwickelte sich in der arabischen Welt eine intensive Verehrung für Männer, die für eine gerechte, aber aussichtslose Sache ihr Leben opfern. Der Märtyrer-Kult hält bis heute an, ob in Afghanistan oder Tunesien. Die Wurzeln dafür hat Pannewick, Professorin an der Universität Marburg, im 7. Jahrhundert gefunden. Damals erhob Hussein, der Enkel des Propheten, Anspruch auf Mohammeds Nachfolge und wurde von einer Übermacht seiner Gegner getötet.

    "Diese Situation passte wunderbar, strukturell gesehen, für eine Situation wie die der Palästinenser Anfang des 20. Jahrhunderts, als die zionistische Siedlungsbewegung stark wurde und auch gegen das britische Mandat ein fast aussichtsloser Kampf geführt wurde. Also der Märtyrer als eine Figur, die einer sehr stark in die Enge getriebenen Gruppe die Hoffnung gibt, in irgendeiner Form, und sei es transzendental, zu einem Sieg zu kommen, obwohl die politische Situation nahezu aussichtslos ist."

    Auf den Märtyrer Hussein berufen sich die Schiiten, die kleinere der beiden islamischen Haupt-Glaubensrichtungen. Aber die Figur dient auch der sunnitischen Mehrheit seit Jahrhunderten zur Sinnstiftung, denn der Märtyrer kehrt eine physische Niederlage auf höherer, religiöser Ebene in einen Sieg um. Und die traumatische Erfahrung der Niederlage hat das kollektive Bewusstsein arabischer Völker seit Jahrhunderten geprägt.

    Einen tiefen, bis heute diskutierten Einschnitt in die Blüte der arabischen Kultur bildeten die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099 und mehr noch der Fall Bagdads, der prunkvollen Hauptstadt der sieggewohnten Kalifen, 1258 im Ansturm der Mongolen. In der Neuzeit folgten weitere Katastrophen, die sich in die Erinnerung eingegraben haben:

    "1798, die Expedition d'Egypte von Napoleon Bonaparte, das war für Ägypten, bis dahin eine große Kulturnation, das erste Mal das traumatische Erlebnis, dass da einfach eine Armee einmarschieren kann und dass man selber als Nation machtlos ist."

    Neue Hoffnung keimte erst nach dem Ende der Kolonialzeit im 20. Jahrhundert auf. Nationalistisch gefärbte Varianten des Sozialismus wie der ägyptische "Nasserismus" sorgten für Aufbruchstimmung – doch nach der bitteren Niederlage 1967 im Sechstagekrieg gegen Israel legte sich erneut das lähmende Klima des Selbstzweifels und der Resignation über große Teile der arabischen Welt.
    "Das hielt an bis zum Ausbruch des so genannten arabischen Frühlings. Ich denke, da haben wir einen Paradigmenwechsel, positivere Töne und die Entdeckung des Selbst, der eigenen Menschenwürde, ich bin ein Bürger und kein Untertan, ich habe Rechte und ich kann diese Rechte einfordern, das ist, glaube ich, etwas Neues in der arabischen Welt, dass Menschen zum ersten Mal gesagt haben, ich kann das einfordern, ich bin wer, ich darf das."

    Wieder spielte ein Märtyrer eine wichtige Rolle: Der Tunesier Mohammed Bouazizi, der sich selbst anzündete, weil er die Perspektivlosigkeit seines Lebens und die menschenverachtende Politik der Regierung nicht mehr ertrug. Doch Bouazizi sprach nur für sich selbst, als einfacher Mann wie Du und ich.

    "Genau deswegen wurde Bouazizi der absolute Nationalheld und Märtyrer und Vorbild einer ganzen Generation, weil er eben nicht das Sprachrohr einer massenideologischen Partei oder einer islamistischen Gruppierung war."

    Ob die Verehrung von Märtyrern oder die Forderungen der jungen Generation: In der arabischen Welt schlagen sich politische Themen intensiv in der Literatur nieder. Theaterstücke, Gedichte, Romane haben im alltäglichen Leben einen viel höheren Stellenwert als im Westen: Während Fernseh-Deutschland Popsänger zum Superstar kürt, zeigt das arabische TV eine Serie, die man "Arabien sucht den Super-Autor" nennen könnte. Daher erkannte Friederike Pannewick bei Theatermachern, Schriftstellern und Performancekünstlern frühzeitig den geistigen Wandel, der dem "arabischen Erwachen", wie sie es gern nennt, vorausging. Mit ihren weitsichtigen Analysen verhalf sie ihrer Forschungsdisziplin zu einem neuen Image: Die Arabistik galt lange als weltfernes Orchideenfach. Doch nun wurde die Marburger Professorin als erste Arabistin mit dem Leibnizpreis ausgezeichnet, dem angesehensten Forschungspreis Deutschlands – auch weil sie Aktualität und politisches Potenzial des Fachs demonstrierte.

    Zurzeit beurteilt sie die Entwicklung in den arabischen Ländern skeptisch - insbesondere in Ägypten, wo sich eine bedrohliche Allianz des Militärs, das die Macht nicht abgeben will, mit islamischen Parteien gebildet hat.

    "Es sind seit Mubaraks Sturz bis heute mehr Leute vor Militärgerichte gestellt und verurteilt worden als in der gesamten Amtszeit Mubaraks. Und es sind sehr viele Jugendliche, sehr viele Blogger, die sich während der Revolutionszeit gegen das Militär geäußert haben, die im Gefängnis sitzen. Und es wurde viel gefoltert und es wurde viel gemordet, die Situation ist problematisch und ich bin nicht wahnsinnig optimistisch."

    Langfristig jedoch sei der Wandel nicht mehr rückgängig zu machen. Die Wissenschaftlerin betont: Die Erfahrung der Rebellen, die sich ihrer Rechte bewusst wurden, habe die arabische Kultur endlich von ihrem jahrhundertealten Ohmachtstrauma erlöst.