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Die magische Realistin der brasilianischen Kinderliteratur

Lygia Bojunga ist in Deutschland längst vergessen worden, ihre Bücher sind im Handel nicht mehr erhältlich, obwohl sie als erste Lateinamerikanerin den bis vor kurzem weltweit wichtigsten Literaturpreis für Kinderbücher erhalten hatte, den Hans-Christian-Andersen-Preis für ein Gesamtwerk, das war allerdings schon 1982. Einige Titel von Lygia Bojunga waren in den 80er und 90er Jahren auch in guten deutschen Übersetzungen von Karin von Schweder-Schreiner erschienen, wie "Das Haus der Tante", "Maria auf dem Seil" oder "Die gelbe Tasche", aber viel genützt hat es nicht. So muss jetzt der gerade zwei Jahre alte neue große und hoch dotierte Kinderbuchpreis, der Astrid Lindgren Preis, wieder einmal an die Brasilianerin aus Rio de Janeiro erinnern.

Von Christoph Schmitz |
    Und er erinnert zu Recht: Denn die heute 71jährige Lygia Bojunga Nunes hat eine Literatur geschaffen, die alle großen Strömungen der lateinamerikanischen Literatur in sich vereint, ein ästhetisch ambitioniertes Werk, das sich dem kindlichen Verständnis öffnet und sich zugleich den Sorgen und Verletzungen der Kinder zuwendet. Als Schauspielerin eines Kindertheaters in den 60er Jahren, mit dem sie durch Brasilien getingelt war, als Gründerin und Leiterin einer Schule für Favela-Kinder hatte sie sich mit der Lebenssituation brasilianischer Kinder direkt konfrontiert, um dann ab den frühen 70er Jahren für Kinder zu schreiben. Keinen Schrecken, keine Angst hat sie in ihren Texten ausgelassen: den Tod der Eltern nicht, das Elend in den Favelas, die Verlorenheit der Straßenkinder, die Gewalt in der brasilianischen Militärdiktatur. Lygia Bojungas Texte ersparen mit ihrem sozialkritischen Ton jungen Lesern die Wirklichkeit nicht, aber sie überfordern sie damit auch nicht, und das bewirkt der poetische Gehalt ihrer Bücher. Hier steht die Autorin in bester Tradition des magischen Realismus, nicht in der weichgespülten Version einer Isabel Allende, sondern in der expressiven, wilden, ja anarchischen eines Agosto Roa Bastos.

    So begibt sich der Junge Alexander in "Das Haus der Tante" von seinem Elendsquartier auf die Suche nach einem imaginären Ort des Glücklichseins, von dem ihm sein Bruder, um den Hunger zu vertreiben, vorphantasiert hatte. Mit dem gelben Schlüssel in der gelben Blume an der Haustür der Patentante, so der Bruder, könne die Angst überwunden werden. Lygia Bojungas Figuren reisen mühelos zwischen den wirklichen und phantastischen Welten hin und her, Tiere reden ebenso wie Sicherheitsnadeln, Taschen werden vor lauter Wünschen so schwer, dass sie nicht mehr getragen werden können, die Gehirne von Kampfhähnen sind mit Zwirn zusammengenäht, Pfaue leiden unter Gedankenfiltern.

    Bei aller vielschichtiger Erzählweise wahren Bojungas Geschichten zugleich immer die Leichtigkeit des mündlichen und szenischen Erzählens. Das unterschwellige soziale und demokratische Engagement kippt nie in eine belehrende Attitüde um, und trotz manch magischer Verrücktheit bleibt ein psychologischer Scharfblick erhalten, der sich auf die kindliche Seele bestens versteht. Ihre Verrücktheiten hat Lygia Bojunga übrigens bei einem Klassiker der brasilianischen Kinderliteratur gelernt, bei Jose Bento Monteiro Lobato. Mit der Zuerkennung des Astrid Lindgren Preises an die Erzählerin ist zu hoffen, dass ihre Bücher in Deutschland wieder neu aufgelegt werden und die brasilianische Kinderliteratur wieder mehr Aufmerksamkeit erfährt.