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Die Marquise von Santo Domingo

Im Schlaf unbemerkt von einem Offizier geschwängert zu werden und den Verursacher durch öffentliche Anhörung suchen zu müssen – das ist das Schicksal der "Marquise von O". Heinrich von Kleists Novelle fragt nach Spuren und Gewalt. Frank Castorf antwortet mit viel Gestaltungswillen.

Von Michael Laages |
    Zumindest EIN anderer Kleist-Text hat den Regisseur Frank Castorf noch ein wenig mehr interessiert als ausgerechnet die Novelle um die "Marquise von O." – die drei Jahre nach der ‚Marquise’ erschienene um "Die Verlobung von Santo Domingo". Und weil das so ist, bricht die Inszenierung bald nach der Pause auch auf nach Haiti, wo Castorf die fatalen Verstrickungen in der Liebe ungleicher Partner in Leben und Sterben angereichert findet um die Dimension des mörderischen Kampfes zwischen den Rassen, zwischen Schwarz und Weiß.

    Natürlich ist da Heiner Müller und ist "Der Auftrag" nicht weit, diese "Erinnerung an eine Revolution", die ebenfalls im Befreiungskampf auf Haiti spielt, das in jener Zeit bald nach der Französischen Revolution noch Santo Domingo hieß. Spürbar, aber eigentlich eher dezent und maßvoll intensiv beschwört Castorf also nach der Pause Bilder und Stimmungen spiritistischer Seancen von Voodoo und Santeria, und plötzlich scheint ein ganz anderer Theaterabend möglich als der, den das Publikum in der Volksbühne gerade zu sehen be-kommt – Müller meets Kleist, "Der Auftrag" des Nachgeborenen vermischt mit der archaischen Schwarz-Weiß-Fabel des deutschen Klassikers.

    Plötzlich beginnt die Marquise selber sogar ein wenig zu stören - die Legende also um die Witwe und Mutter aus bestem Hause. Je deutlicher allerdings der Themenwechsel zu spüren ist (und je massiver sich vermutlich im Verlauf der Proben Arbeit und Interesse des Regisseurs auf ‚Santo Domingo’ zu und weg von der Marquise entwickelt haben mag), desto forcierter entwickelte sich Ironie im Umgang mit dem eigentlichen Stoff. Und nun spielt das Ensemble zwar einigermaßen detailgetreu die Fabel von der ahnungslos Schwangeren durch, inklusive Arzt- und Hebammen-Besuch, als das Gefühl der Schwangerschaft unabweisbar wird, aber eben immer distanzierter.

    Dabei hilft beträchtlich Bert Neumanns künstlerisch behauptungsstarke Bühne, vermischt mit den historischen ziemlich akkurat der Kleist-Zeit entlehnten Kostümen. Papa ist da, Mama ist da, es gibt einen viel zu massig geratenen Bruder sowie einen Diener, alle im Habitus von anno dazumal; die Mitglieder dieser heiligen Familie erzählen einander einige von Kleists Legenden, die kurz sind wie Zeitungsmeldungen (die sie ja häufig auch waren), gelegentlich kommen Militärs in napoleonischer Uniform vorbei (und zwar beritten, auf einem echten Pferd!), die die verwitwete Marquise verehren und begehren. In dieser ulkigen Idylle stören eigentlich nur die Möbel - quietschgelb sind sie und sehr von heute. Aber etwa genau so viel Distanz besteht halt zwischen dem Text und dem Spiel im Ensemble.

    Der gestrenge Herr Papa, von Sylvester Groth mit einer Menge sehr volksbühnentypischer Haltungen ausgestattet, lebt eigentlich inzestuös mit der Tochter, und wenn sie mit der Geschichte der bewusstlosen Schwangerschaft heraus kommt, beschwert er sich zunächst, dass dieses Kind nicht von ihm sein wird, die Mutter säuselt und mäkelt einigermaßen ahnungslos nebenher und drumherum, und Ilse Ritter, eine von Peter Zadeks früheren Heldinnen, bringt damit zwar viel Affektiertheit ins Spiel, passt also durchaus zu Castorf, bleibt er trotzdem irgendwie fremd im Hause.

    Kathrin Angerer ist wie gewohnt der niedlich gefallene Engel, dem das Ganze eigentlich immer viel zu viel zu sein scheint; und Marc Hosemann markiert als Franzose zu Beginn und reumütiger Russe zum Schluss den unbeholfenen Kraftprotz. Der Abend gerät mit diesem Personal ziemlich stimmig im bewährten, mittlerweile 20 Jahre an der Volksbühne gereiften Castorf-Ton; er würde allerdings, wie es im Voodoo des zweiten Teiles offenbar wird, gern noch ein wenig über sich hinaus wachsen. Das bleibt halbherzig, denn dafür müsste vermut-lich für eine Weile der intellektuelle Überbau ausgeschaltet werden.

    Der aber ist immer in Betrieb – denn obwohl vieles wie improvisiert wirkt, so ist doch nichts dem Zufall überlassen; selbst die Applausordnung ist mitinszeniert, und Groth als Papa schlüpft in die Rolle des Regisseurs. Auch ein paar Momente vorher gibt es schon, die derart selbstbezüglich wirken und ein bisschen eitel über Gebühr – aber nur so ist Castorf halt zu haben. An stärkeren Abenden ist der Wille dieses Regisseurs zur Gestaltung jenseits aller Routine immer noch und immer wieder beträchtlich – "Die Marquise von O." gehört dazu.