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"Die Massentierhaltung bei uns ist ein riesengroßes Problem"

Um Futter für unsere heimische Massentierhaltung herzustellen, würden ganze Regenwaldregionen abgeholzt, kritisiert die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, anlässlich des Welternährungstages. Auch in Deutschland führe die Agroindustrie zu einem Sterben der bäuerlichen, ökologischen Landwirtschaft.

Das Gespräch führte Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Der 12-jährige Josephat auf einer Mülldeponie in Nairobi, Flugzeug-Essen von Nairobis Müllhalde (MP3-Audio) eine Reportage von Antje Diekhans. 870 Millionen Menschen hungern weltweit, sagt die UNO, aber ihre Schicksale prallen eigentlich, wenn wir ehrlich sind, an uns ab, weil wir gleichgültig geworden sind, das Elend nicht nachempfinden können wegen der Flut der Bilder und Informationen. Heute ist Welternährungstag der Vereinten Nationen, und am Telefon ist Claudia Roth, die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen, Frau Roth!

    Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Herr Meurer!

    Meurer: Sie erinnern sich bestimmt auch: Die Fotos und Bilder vor vielen Jahren aus Biafra in Nigeria, das hat damals die Deutschen erschüttert. Warum rüttelt uns heute so etwas Ähnliches nicht mehr auf?

    Roth: Ja, Sie haben recht, es ist eine schreckliche Realität, dass diese Krise – wenn fast eine Milliarde Menschen chronisch an Hunger leiden, ist das eine Krise, die uns etwas angeht, weil wir in der einen Welt leben –, dass diese Krise die große vergessene Krise ist. Ich glaube, dass wesentlich zu diesem Vergessen beiträgt die Konzentration auf die Finanzmärkte. Wir reden eigentlich nur noch über die Finanzmarktkrise, und dahinter wird vergessen der Klimawandel, die Klimakrise und in der Konsequenz eben auch die Hungerkrise. Es sind die Entwicklungsorganisationen, es sind die Kirchen, die darauf hinweisen, es ist gestern der Bundespräsident gewesen, aber es darf eben nicht nur einmal Welternährungstag sein, weil jeden Tag die Menschen an Hunger leiden, und auch durch Verhalten, durch eine falsche Politik, durch unsere Lebensstile, die wir in den reicheren Ländern haben.

    Meurer: Bevor wir darüber reden, was Sie für falsch halten: Sind wir zu satt geworden?

    Roth: Ich glaube, dass die Finanzkrise so überdimensional groß daherkommt, dass man nur noch an sich selber denkt oder dass man sagt, man kann eh nichts mehr tun in dieser krisenhaften Welt, und tatsächlich, es gibt ganze Kontinente, die abgehängt sind. Es gibt keine wirkliche Berichterstattung über das, was in Afrika passiert, es gibt keine wirkliche Berichterstattung, was in Lateinamerika passiert, wo Regenwälder abgeholzt werden, damit dort Futtermittel für unsere Massentierhaltung angebaut wird. Es gibt keine wirkliche Konzentration auf die dramatischen Folgen, die wir ja jetzt erleben, durch ein verändertes Klima, durch eine kaputtgehende Biodiversität, durch Böden, die kaputtgehen, durch Wasser, das kaputtgeht, als würden wir auf einem ganz anderen Planeten leben. Und nicht zuletzt die Finanzmarktkrise hat ja auch dazu geführt, dass – und die Konzentration darauf – dass das Spendenverhalten sich deutlich verändert hat. Ja, wir sind kälter geworden, wir halten es von uns weg, und es bleiben eigentlich auch in den Medien immer nur noch kleine Berichte – kleine Berichte, aber es ist nicht mehr unser Anliegen und unsere Verantwortung, und das ist eine schlimme Entwicklung.

    Meurer: Im Prinzip haben Sie es schon gesagt, Frau Roth, was wir falsch machen. Was sollen wir besser machen?

    Roth: Na ja, ich glaube, erstens muss es darum gehen, dass mehr Essen auf die Teller kommt und weniger in die Tröge, in den Tank und in die Tonne. Das heißt, so zu tun, als hätten wir damit nichts zu tun, ist falsch, denn nicht zuletzt unsere Massentierhaltung, die Massentierhaltung bei uns ist ein riesengroßes Problem.

    Meurer: Warum?

    Roth: Es braucht Futtermittel. Wo kommen diese Futtermittel her? Mehr und mehr werden die Futtermittel in Lateinamerika zum Beispiel hergestellt, ich habe es schon gesagt. Oder mit dieser Massentierproduktion gibt es eine Überproduktion, und es werden gerade überschüssige Lebensmittel wie Hühnchen, die man bei uns nicht mehr essen will, Hühnchenteile, die werden dann hoch subventioniert von einer EU-Agrarpolitik – und mit Verlaub, da ist Deutschland mit verantwortlich, dass es aussieht –, die werden dann auf die regionalen Märkte geliefert, und damit werden die Kleinbauern dort in ihrer eigenständigen Entwicklung kaputtgemacht. Das ist ...

    Meurer: Das heißt, wir müssten eigentlich, da der Fleischkonsum so eine wichtige Rolle spielt, Frau Roth, alle Vegetarier werden?

    Roth: Nein, wir müssen nicht alle Vegetarier werden – gar nicht. Aber wir sollten uns überlegen, was dieses Überkonsumieren an Fleisch nicht nur für uns selber und die Gesundheit bei uns bedeutet, sondern was sie eben auch für den Rest der Welt bedeutet. Kleine Bauern, kleine Fischer werden kaputtgemacht. Eigentlich ist die EU-Landwirtschaftspolitik, die agrarindustrielle Logik, eine Art von Neokolonialismus, anstatt dass eine verantwortliche Politik sagt, es werden die Kleinbauern unterstützt, die kleinen Fischer unterstützt, damit so etwas wie regionale Märkte überhaupt entstehen können in den armen Ländern. Und es kann ja auch nicht sein, es gibt so ein Wort, das heißt Land-Grabbing. Was heißt das? Es werden immer mehr Länder sozusagen aufgekauft, um dort Futtermittel anzubauen oder um dort Pflanzen anzubauen, die dann bei uns zum Biosprit gemacht werden.

    Meurer: Wenn Sie sagen, die EU-Politik muss sich ändern, würde das in der Konsequenz, wenn die Subventionen wegfallen, nicht dazu führen, dass viele Bauern bei uns arbeitslos werden? Man kann sagen, nicht so schlimm, wie wenn die Menschen in Afrika hungern, aber wäre das nicht die Folge?

    Roth: Ja, Moment, die Massentierhaltung oder die Agrarindustrie auch bei uns, die fördert ja nicht die bäuerliche Landwirtschaft bei uns. Wir haben doch auch ein Sterben an bäuerlicher, an ökologischer Landwirtschaft. Massentierhaltung, wo Zehntausende von Tieren sind oder Hühnerschlachtanstalten in Niedersachsen, wo an einem Tag 220.000, 230.000 Hühner geschlachtet werden, das ist ja nicht eine Unterstützung für bäuerliche Landwirtschaft, das macht ja auch bei uns ganze Regionen kaputt, oder der exzessive Anbau von Mais, um ihn umzuwandeln in Biosprit, macht ja die Landwirtschaft faktisch auch bei uns kaputt. Also wir sind tatsächlich in einer riesengroßen Krise, wir müssen weg von der Agroindustrie, und da ist unsere Landwirtschaftsministerin eben auch mitverantwortlich. Es ist wohlfeil, wenn sie heute am Tag große Erklärungen abgibt für die Unterstützung der Bauern in der Dritten Welt oder den Entwicklungsländern, wenn sie gleichzeitig eine ist, die die Agroindustrie bei uns total unterstützt. Die Agroindustrie ist keine Lösung, sondern das Problem.

    Meurer: Ilse Aigner wird sagen, ich muss eben an beide denken. Und wenn man sich überlegt, die Großbetriebe in Ostdeutschland sind produktiver als die Kleinbauern in Bayern – liegt die Lösung wirklich da, dann in Afrika auf die Kleinbauern zu setzen?

    Roth: In Afrika, auf jeden Fall, muss man die kleinen Bauern unterstützen. Noch mal, es kann nicht sein, dass Überproduktion aus Europa die dortigen regionalen Märkte überschwemmt, sie total kaputtmacht und damit natürlich weiter zur Armut führt, und die Menschen können sich dann nicht mal diese Überproduktion leisten. Und bei uns, sage ich, gehört ja auch eine bäuerliche, eine ökologische Landwirtschaft dazu, zu verhindern, dass immer mehr Menschen bei uns krank werden. Wir haben eine brutale Antibiotikaresistenz in der Zwischenzeit – ja, warum? Weil diese Massentierhaltung, damit die Tiere überhaupt noch tendenziell eine kurze Zeit überleben können, unglaublich viel an Antibiotikaeinsatz bedeutet. Und in der Konsequenz hilft es weder den kleineren Bauern bei uns noch hilft es den Verbrauchern, weil es uns selber krankmacht.

    Meurer: Heute ist Welternährungstag, und die Grünenvorsitzende Claudia Roth sagt, unsere Massentierhaltung sei auch schuld am Hunger in Afrika und der Dritten Welt. Frau Roth, danke und auf Wiederhören!

    Roth: Ich danke Ihnen sehr, Herr Meurer, auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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