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Die Mauer des Schweigens bröckelt

Zwischen 1973 und 1985 wurden in Uruguay viele Menschen verschleppt, gefoltert und ermordet. Mehr als 20 Jahre lang wurde die dunkle Zeit der Militärdiktatur totgeschwiegen, die demokratische Regierung setzte sogar eine Amnestie für die Verbrecher durch. Jetzt sind aber zum ersten Mal hochrangige Militärs und Polizisten wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt.

Von Peter B. Schumann |
    Eine Kreuzung ganz in der Nähe des uruguayischen Parlaments. In der Nebenstraße ein unscheinbares Hochhaus. Beim Pförtner dröhnt der Fernseher. Er weist freundlich den Weg: Ein Fremder kann nur zum Büro der "Famidesa" wollen, der Organisation von "Familienangehörigen der Verhafteten und Verschwundenen". Während der Diktatur und noch lange danach, saßen hier unten Polizeispitzel, die genau festhielten, wer die "madres" aufsuchte, die Mütter und Ehefrauen, deren Kinder und Männer verschleppt worden waren.

    An diesem Nachmittag treffen sich einige der "madres" hier - wie vor 30 Jahren, als sie sich zum ersten Mal zusammenfanden, um sich gegenseitig zu helfen und das Schicksal ihrer Angehörigen aufzuklären. Längst werden sie von Nachbarn und Kollegen unterstützt, die wie sie die Untätigkeit der Zivilregierungen in den mehr als zwei Jahrzehnten der Demokratie nicht akzeptieren wollen. "Schluß mit der Straflosigkeit!" und "Gerechtigkeit für die Opfer des Staatsterrors" heißen ihre Forderungen auf den Plakaten an der Wand.

    "Ich heiße Mara Martínez"

    sagt eine Frau Anfang 50.

    "Mein Ehemann wurde 1976 in Argentinien verschleppt, wo sie auch mich zunächst gefangen hielten. Mich ließen sie frei, aber er blieb bis heute verschwunden. Wir sind 1973 vor dem Staatsstreich der Militärs in Uruguay nach Argentinien geflohen, weil dort gerade Demokratie herrschte und wir glaubten, dass wir von da aus besser gegen die Diktatur Widerstand leisten konnten. Aber dann schlugen auch dort die paramilitärischen Kommandos der Triple A zu."

    "Ich bin Luz Ibarburu"

    erklärt die Frau Anfang 80 auf der anderen Seite des Tisches.

    "Ich bin die Mutter eines ebenfalls in Argentinien Verschwundenen. Die meisten Uruguayer sind im Nachbarland verschleppt worden. Mein Sohn ist nach Buenos Aires gegangen, weil er sich hier nicht mehr sicher fühlte."

    "Ich heiße Luisa Cuesta"

    erzählt die dritte Frau Mitte 80 am Tisch.

    "Auch mein Sohn ist in Argentinien verschwunden. Das geschah im Zuge des "Plan Condor", die Militärs der einzelnen Länder hier im Süden hatten ihre Aktionen koordiniert."

    Drei Schicksale von insgesamt 187, die in jahrelangen Nachforschungen von der "Famidesa" zusammengetragen und in einem umfangreichen Band sorgfältig dokumentiert wurden. Die Zahl der verschwundenen Uruguayer mag angesichts von mehr als 3.000 ermordeten Chilenen und wahrscheinlich 30.000 umgebrachten Argentiniern relativ gering erscheinen. Und dennoch hat die Herrschaft der Militärs in diesem kleinen Land genauso tiefe Spuren hinterlassen. 1985 traten sie ab, sorgten jedoch durch ein Schlusspunkt-Gesetz dafür, dass keiner der Folterer und Mörder in ihren Reihe bis heute bestraft werden kann.

    "Das war ein großer Schock für uns"

    so Mara Martínez.

    "Der damalige Präsident Sanguinetti forderte uns auf zu vergessen. Das Gesetz sei nötig, um die Demokratie zu konsolidieren. Drei Jahre später sollte das Volk in einem Plebiszit darüber abstimmen. Wir waren uns sicher, dadurch das Gesetz zu verhindern."

    "Aber da startete die Regierung eine wahre Angstkampagne"

    so Luisa Cuesta.

    "Sie behaupteten: Wenn ihr nicht dafür stimmt, dann kommen entweder die Tupamaros oder die Militärs zurück. Und in diesem Land hatte wir alle die Nase voll von den einen wie von den anderen."

    Dieses von der Bevölkerung 1989 mehrheitlich bestätigte Schlusspunkt-Gesetz verhindert bis heute eine gründliche juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur, die in den Nachbarländern Argentinien und Chile längst stattfindet und gerade in den letzten Jahren weit voran geschritten ist. In Uruguay dagegen wird noch immer um den richtigen Weg gerungen. Mara Martínez:

    "Wir haben uns danach vorgenommen, in einem Buch die Identität der betroffenen Militärs aufzudecken. Nicht um sie anzuklagen, sondern um darauf hinzuweisen, dass die rund 90 Personen, die wir dokumentieren konnten, sich an Orten befunden haben, wo Menschen verschwunden sind. Daraufhin hätte Richter Untersuchungen einleiten können, um die Wahrheit herauszufinden. Denn das Gesetz verhindert nur die Verurteilung, nicht aber das Verhör von Militärs."

    Erst die Mitte-Links-Regierung von Tabaré Vázquez, seit Frühjahr 2005 im Amt, hat auf dieser Basis eine ganze Reihe von Untersuchungen angestrengt. Sie will jedoch einen Bruch mit den Streitkräften vermeiden, denn anders als die argentinischen Waffenbrüder haben die Militärs auf dieser Seite des Rio de la Plata keine Niederlage erlitten.

    Sie sind nach wie vor Teil des Staatsapparats, wenn auch ihr Ansehen in der Gesellschaft inzwischen so weit gesunken ist, dass sie sich nur noch selten in Uniformen auf die Straße wagen. Das Oberkommando zeigt immerhin eine gewisse Bereitschaft zur Kooperation, hat Folterungen und Morde eingestanden, allerdings als "Exzesse von untergeordneten Rängen", die sich ihrer Verantwortung entzogen hätten. Und es hat sogar die Suche nach Toten auf Militärgebiet zugelassen. Luz Ibarbura:

    "Doch keinerlei Überreste wurden bisher gefunden, obwohl der Oberkommandierende selbst die Untersuchung leitete. Anscheinend lügen sie wieder einmal, wenn sie angeblich nichts finden."

    Die Justiz hat begonnen, die Möglichkeiten des Schlusspunkt-Gesetzes auszuschöpfen. Sie bestellte zahlreiche Militärs und Polizisten zu Verhören ein. Sechs von ihnen, die sich bereits im Ruhestand befanden, wurden vorläufig festgenommen, bis der Oberste Gerichtshof über ein Auslieferungsersuchen der argentinischen Regierung entschieden hat. Und drei weitere Armeeangehörige wurden bereits Chile überantwortet.

    Die Familienangehörigen hoffen deshalb, dass bald auch die Archive von Militär, Polizei und Regierung geöffnet werden, damit endlich Klarheit über das Schicksal der Verschwundenen hergestellt werden kann und die Wahrheit ans Licht kommt, ohne die Versöhnung unmöglich ist.
    Doch Gerechtigkeit ist nicht zu erwarten. Das glaubt auch Azucena Berrutti nicht, die neue Verteidigungsministerin. Die 76 Jahre alte Dame ist eine Provokation für die Militärs, denn sie hat sich während der Diktatur als Rechtsanwältin für viele politische Häftlinge engagiert.

    "Wenn man unter Gerechtigkeit die Verurteilung der Schuldigen versteht, dann werden wir diese wahrscheinlich nie erreichen. Es ist auch viel wichtiger, für eine allgemeine Verurteilung zu sorgen, damit das Volk diese Taten ein für allemal ächtet. Aber daran zweifle ich nicht, denn unsere Gesellschaft hat große Fortschritte gemacht und versteht diese Probleme heute besser denn je."