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Die Medikamente, der Arzt und das Warten

In einer Erzählung wage er von vorneherein alles, bekennt Alois Hotschnig. In dem gerade erschienenen Erzählband des österreichischen Schriftstellers widmet er sich mit dieser Maxime dem letzten Lebensabschnitt des Menschen.

Von Michaela Schmitz |
    Irgendwann ist er da; der Zeitpunkt, ab dem alles weniger wird von Tag zu Tag: das Umfeld, in dem man sich bewegt, das Essen, das man beißen kann und die Dinge, über die man redet, die auch. "Etwas verändert sich", heißt eine von Alois Hotschnigs neuen Geschichten über den letzten Lebensabschnitt. Und: "Anziehen, ja ausziehen auch", "Die großen Mahlzeiten, "Besorgungen für den Tag" und "Die kleineren Reisen". Aufstehen, essen und einkaufen sind jetzt die rettenden Wegmarken im täglichen Einerlei. Dazwischen: die Medikamente, der Arzt und das Warten.

    Aber es hätte doch sein können. Dass Sie der Nächste gewesen wären, meine ich. Oder ich. Lange genug warten wir ja schon. Viele Jahre könnte ich hier schon der Nächste sein. Aber aufgerufen werde ich doch nicht. Immer sieht es danach aus, dass man der Nächste sein könnte, und dann besteht die Welt doch nur aus Warten.
    Es geht um nichts, es geht ums Ganze in diesen Sprechstücken. Es geht um das Ende und darum, was danach kommt. Die Gespräche haben keinen konkreten Ort, noch eine bestimmte Zeit, die Personen kein Gesicht. Wie beim absurden Theater kippen realitätsnahe Unterhaltungen in existenzielle Diskurse und umgekehrt. Das Sprechen wird zum universellen Dialog und die Figuren zu Sinnbildern menschlicher Existenz – auf einer abstrakten Bühne, in einer Leere, in der die Sätze ohne Echo bleiben. Ihr Resonanzboden ist das Nichts.

    Dass sie gestorben ist, hast du gesagt. Und wer wohl der Nächste sein wird, hast du gefragt.
    Das fragst doch nur du. Was wird sein, fragst du. Gar nichts wird. Nichts.

    Zwischen "Es war einmal" und "Was wird?" schrumpft die Gegenwart auf einen hauchdünnen Zeitfaden, fortgesponnen in endlosen Wiederholungen. Reden heißt Überleben. Das Leben ist ein Sprachspiel, das nicht enden will: ein "Endspiel", vielleicht schon von Anfang an. "Es ist ein Spiel, nichts weniger", hören wir Samuel Becketts Echo aus seinen Stücken.

    Je mehr das Reden um sich selber kreist, desto stärker entfaltet die Sprache ihre Eigendynamik. Wie in einem "Teilchenbeschleuniger" verwandeln sich die Tonlagen, verschieben sich Bedeutungen, springen die Unterhaltungen hin und her. Wiederholung, Transformation, Permutation – feinste Verschiebungen im Sprachcode, und das Chaos der Wirklichkeit dringt in den Text; minimale Vertauschungen von Begriffen, und es geht um die Existenz. Leichte Irritationen bei der Bestimmung der Uhrzeit zur Medikamenteneinnahme oder bei der Anzahl von Etagen im Wohnheim genügen, und alles steht zur Disposition.
    Ich gehe aus dem Zimmer und sehe von draußen in das Zimmer hinein. Und ich sehe, in meinem Bett liegt ein Neuer. Als hätte es mich hier nie gegeben. Danach sieht es doch aus.
    Herr Orter, einen Stock höher diesmal.

    Herr Orters Verwirrung steht für mehr als für klassische Altersdemenz. Sie spiegelt die existenzielle Verwirrtheit des Menschen in einer von Gott verlassenen Welt, die Orientierungslosigkeit des modernen Individuums in einem spirituell entleerten Raum.

    Das gilt für alle Erzählungen in Hotschnigs Prosaband; nur nicht für die erste, auffallend konventionell erzählte Geschichte mit dem schlichten Titel "Karl". Karl ist ein Hund; aber ein ganz besonderer Hund. Er beißt zu, leckt die Wunden seiner Opfer und wird dafür geliebt.

    Er schnappte zu und half bei der Versorgung der Wunden. Er küsste und leckte und biss. Gerade die durch ihn zu Schaden Gekommenen versuchten, Karl zu begegnen und nahe zu sein.
    Und dass, schon bevor das Gerücht über die heilsamen Kräfte seiner Bisse zur Gewissheit wird. Ein Biss von Karl, und Kranke erfahren Linderung, Leidende werden von ihren Schmerzen befreit. Eines Tages gräbt Karl ein Loch und bleibt fortan verschwunden. Die Geschichte klingt absurd. Und ist doch nicht absurder als das christliche Heilsversprechen, wo alles Leiden im Diesseits auf die kommende Erlösung im Himmelreich verweist.

    Zeichnet Hotschnig in "Karl" das Zerrbild der christlichen Heilslehre, vor dessen Hintergrund die folgenden Sprechstücke ins Leere fallen?
    Vielleicht. Sicher jedoch stimmt die absurde Geschichte auf die Doppelbödigkeit der folgenden Erzählungen ein – auf die abgründigen, erschreckenden, rührenden und zum Heulen komischen Dialoge im Angesicht des Todes. Sprechstücke, in denen viele Fragen gestellt, aber keine Antworten gegeben werden. Hier fordert der Autor die Eigenaktivität des Lesers; die Geschichten setzen auf die kreative Lesefähigkeit der Rezipienten. Hotschnig geht es um ein "Verfahren, den Leser mit einzubeziehen und die Möglichkeit des Lesers und also eines jeden von uns, Stellung zu beziehen", so der Autor in seiner Rede zur Verleihung des Erich-Fried-Preises 2008.

    "Im Sitzen läuft es sich besser davon" ist eine Schule des kritischen Lesens und Nach-Denkens. Nicht alle Geschichten können diesen hohen Anspruch über den gesamten Text hinweg einlösen. Entscheidend ist aber der immer wieder neu gesetzte Impuls zum aktiven Lesen und Weiterdenken. Hotschnigs Geschichten sind eine überzeugende Aufforderung zum kreativen Umgang mit Sprache und Denken und eine gelungene Anleitung zum mündigen Lesen.

    Alois Hotschnig: "Im Sitzen läuft es sich besser davon"
    Kiepenheuer & Witsch 2009. 128 Seiten, 16,95 EUR.